NICHOLAS SHAKESPEARE
Bruce Chatwin. Eine Biographie.
SUSANNAH CLAPP
Mit Chatwin. Portrait eines Schriftstellers.
BRUCE CHATWIN, Photograph.
Verschlungene Pfade.
Chatwin ist wieder da. Er hat gefehlt auf den Tischen, es ist keine Frage. Ich sage auch gleich, warum das kein dummer Spruch ist: selten zuvor hat ein Schriftsteller der Neuzeit die Verbindung von dokumentierender ästhetischer Wahrnehmung – er war ein Mensch des Auges mit einem nahezu legendärem Blick – mit schriftstellerischer Eleganz, Präzision, Schärfe des Stils und intensiver Beschreibung so überzeugend verbunden wie er. Sonnenuntergänge waren bei ihm ziegelrot und spiegelten sich in jadegrünen Flüssen – er beherrschte die Palette, die er sich als Mitarbeiter beim Auktionshaus Sotheby’s beigebracht hatte, perfekt, setzte sie aber niemals im prätentiösen, pittoresken oder überladenem Sinne ein. Sein Stil oszilliert brilliant zwischen journalistischer Beschreibung und poetischer Ausschmückung und ist dabei intelligent, klar, frisch und voller Vitalität – und das ist ziemlich viel gutes, was sich allgemein zum zwischen zwei Buchdeckel gepresstem Leben sagen kann.
Chatwin lässt sich grob als ein moderner Archetyp eines romantischen und dabei extrem weltverbundenen Reiseschriftstellers beschreiben – einem „der
letzten seiner Art“, denn die Leerstelle, die er hinterliess, ist bislang nicht besetzt worden. Mittlerweile hat zudem bei ihm eine Lesart eingesetzt, die es erlaubt, die Begriffe Phänomen, Performanz und – tatsächlich – Pop in die Rezeptionsgeschichte einzuschreiben. Das Bild des ewig heimatlosen und umherschweifendem Nomaden haftet ihm genauso an wie das Image des Kunstkenners und „spartanischen Dandys“, der sich nach seinen literarischen Erfolgen in High Society-Kreisen grosser Beliebtheit erfreuen konnte. Zwei frisch erschienene Biographien machen eine intensive Wiederbegegnung mit ihm unumgänglich, zudem sich darunter auch die sog. „definitive“ Biographie befindet. Nicholas Shakespeare hat aus seiner Spurensuche ein biographisches Opus Magnum angefertigt, und es ist gewaltig. Selten wurde der biographische Weg eines Schriftstellers der letzten Zeit derart exakt, detailliert und zudem mit kongenialem Verständnis für seine Intentionen, Beweggründe und Schreibweisen angefertigt. Shakespeare betreibt jedoch nicht sinnlosen Perfektionismus in der Faktenansammlung oder berauscht sich etwa wahnhaft an den unzähligen Selbst- und Fremdzeugnissen, die er zusammengetragen hat, sondern bringt vielmehr die Fakten in einen klaren Fluss, in den auf logisch-natürliche Weise viele weitere fliessen, die an der Erzählung dieses unsteten Lebens bisweilen teilnehmen lassen wie an einer der vielen Reisen, die Chatwin selbst unternahm. Chatwin emanzipierte sich bald sowohl von den Vorgaben, dem ihn seine soziale und familiäre Herkunft mitgab, wie auch von seiner Rolle als Mann. Seine die Umwelt einnehmende physische Präsenz, sein gutes Aussehen und seine ausserordentliche intuitiv-analytischen Kenntnisse von Kunst und Kulturgeschichte gaben dem Homosexuellen Chatwin eine merkwürdigen Kontrapunkt zu der blassen Hermetik der auf steife spätbürgerliche Rituale spezialisierten intellektuellen Männerwelt des Nachkriegsenglands. Und war er nicht auch „das männliche Gegenstück zu jenen romantischen Europäerinnen des 19. Jahrhunderts, die in den Orient reisten, um Aquarelle zu malen, aber von Scheichen gefangen genommen und 1001 Nächte in einem Harem festgehalten wurden. Ist diese Möglichkeit ein Teil von Chatwins Image und Legende?“ (Brief von James Ivory an Nicholas Shakespeare). Kurz vor seinem Aidstod 1989 in Nizza notierte er: „…der verweiblichte Mann, Heiler, Songmaster etc., der in jedem Stamm als Aussenseiter lebt…Beschwichtigt. Geehrt. Bedeutend. Der überlegene Mann.“ Dies waren fast die letzten Worte, die er schrieb. Chatwin war ein Generalist, der getrennte Wissensgebiete zusammendenken konnte. Shakespeares Biographie beginnt mit der Entdeckung der ersten Feuerstelle der Menschheit, an der Chatwin, als ob es kein Zufall wäre, teilnehmen konnte. Für ihn war diese Entdeckung Bestätigung seines auf Fakten begründeten Optimismus bezüglich der menschlichen Evolution: „Wenn sich die Quellen der Aggression nicht gegen andere Menschen, sondern gegen die wilde Bestie etc. richten, dann ist unser Zustand in Ordnung“, sagte er dazu. Der menschliche Körper, der ihm für einen Tagesmarsch geschaffen zu sein schien, war ihm zudem Beweis für die Überwindung intellektueller Vorurteile: „Wer sich über die Unmenschlichkeit des Menschen auslässt, zeigt nur, dass er noch nicht weit genug gewandert ist“, bekundete er 1979 im Book-Programme der BBC, neben den ich ergänzend den schönen Satz „To get rid of your preconstructions you should travel“ von Marlene Dietrich stellen möchte. Neben den unzähligen Weggefährten und Ortswechseln rückt in Shakespeares Biographie vor allem die Arbeit Chatwins in den Mittelpunkt. Er umkreist Stil und Interessen seiner Schrift und seines Lebens derart genau und lebendig, das nahezu exakte neue Kenntnisse über den Schriftsteller und Journalisten Chatwin gewonnen werden können. Sein Stil war reduzierend und direkt, dabei jedoch in grösster Wüste voller Blüte. Nahm man dann die Wüste weg, blieb die Essenz, auf die es ihm ankam. Morton Feldmans Ausspruch, dass es im 20. Jahrhundert keinen Hintergrund mehr gebe – ALLES müsse Vordergrund sein – hörte und verstand Chatwin sehr gut: der Autor solle nicht im Weg stehen. Seine Beschreibung hatte völlig direkt zu sein. Zwischen ihm und dem Gegenstand durfte es kein Sekundärmaterial geben. Chatwins Disziplin brachte ihn dazu, die von seinen Reisen mitgebrachten vollgeschriebenen Notizbücher verständlich und fruchtbar für die Aussenwelt zu machen. Dabei stand ihm keine künstlerische Eitelkeit im Weg: „Habe vier schlechte Seiten geschrieben und werde sie auf eine einzige Zeile verkürzen. So ist das eben“, schreibt er 1977 in einem Brief. Er war der Überzeugung, dass, von den Werken Tolstois abgesehen, man die sog. „grossen“ Bücher der Welt auf die Hälfte zusammenstreichen hätte müssen. Eine andere Sache war der legendäre Geschichtenerzähler Chatwin, der oft und gerne redete. Der Wahrheitsgehalt der Geschichten war dabei nicht immer wasserdicht, ihn interessierte nur, ob sie gut waren. In der Teestube von Sotheby’s benutzte man gerne die Redewendung „einen Bruce machen“ – es bedeutete, dass ein Gegenstand mit einem Mythos und einer Geschichte versehen wurde. Dazu kam Chatwins ständige Oszillation zwischen Dandytum und Spartanismus, die sich in komplett gegensätzlichen Wesenszügen manifestierte, die ein Bekannter so beschreibt: „Die eine Hälfte von Bruce hasste es, europäisch zu sein, und sehnte sich nach einer Existenz als mauretanischer Nomade; die andere Hälfte war ein materialistischer, habsüchtiger Sammler mit einem Adlerauge für das Ungewöhnliche, der sich danach sehnte, mit Jackie Onassis auszureiten. Es war ein ständiger Wertekonflikt.“ Die entschiedene Unlogik, die Chatwins Prosa kennzeichnet, galt ebenso für seinen Charakter. Solche Facetten fängt Shakesspeare aus dem Detailwust der Aussagen und Erlebnisse konzentriert ein und macht sie erfahrbar und konkret durchdenkbar. Nach dem Erfolg von „In Patagonien“ geriet Chatwin, der charming cutie und Plauderer, in die New Yorker Gesellschafts- und Intellektuellenkreise, viel später, in seinen letzten Jahren, begab er sich auf eine tief geerdete mystische Suche in den griechischen orthodoxen Glauben.
Chatwins ehemalige Lektorin Susannah Clapp fängt völlig anders an als Shakespeare, der von Birmingham bis Griechenland eng und auch tatsächlich auf Chatwins Spuren wandelte. Sie beginnt tatsächlich mit einer Charakterisierung, die einer Pop-Ikone nahekommt, beschreibt sein Aussehen, seine Wirkung, seine Wohnung und erstellt eine Typologie seiner Kleidung. Wir steigen sofort ein in die Person Chatwin: nicht chronologisch, detailliert und behäbig, sondern typisierend, mitreissend und vital. Clapp bringt Charakter und Auftreten von Chatwin mehr auf den Punkt, beschreibt ihn viel direkter als der unglaublich akribisch, aber meisterhaft agierende Puppenspieler Shakespeare. Mit Bereichen wie „Kindheit und Jugend“ jedoch hält sich Clapp gar nicht gross auf, sondern beschreibt dies, wenn, dann höchstens bezogen auf das Buchmaterial. Diese biographischen Verbindungen bringt sie lebhaft und direkt auf den Punkt, verzettelt sich aber in einer weitschweifigen Beschreibung ihrer eigenen Lektoratsarbeit. Sein wichtiger Arbeitgeber Sotheby’s wird bei ihr zu einer kleinen „factory“, einem Treibhaus mit Orchideencharakter, geleitet von Katholiken und Schwulen. Chatwin, der in seiner Collegezeit weniger den Rock’n Roll seiner Altersgenossen hörte als vielmehr die Lieder, mit denen seine Mutter aufgewachsen war – Fats Waller, Jack Buchanan und Noel Coward – , gerät in dieser biographischen Diktion immer mehr in aussergewöhnliche frühe Popmythen mit Glamappeal, so wenn er zb. mit seiner Pythonschlange in Paris tanzen gegangen sein soll. Zwischen abweisender Extrovertiertheit und intuitivem Verständnis für Menschen und Dinge zeichnet sich so das Bild eines Autors, der reist, um nirgendwo anzukommen und der schreibt, um sich zu verstecken. „Er war von einer paradoxen Rätselhaftigkeit, die sehr entschiedenen Menschen eigen ist: man warf ihm vor, ausweichend, also trotz seiner physischen Anwesenheit nicht <wirklich vorhanden>, und ebenso zu präsent, <zu nahe> zu sein. Doch seine visuellen Neigungen waren immer zu erkennen.“ Seine Fixiertheit auf Materialitäten in der Kunst relativiert sich durch die Tatsache, dass er einen ständigen Kampf ums Sammeln, Aufheben und wieder Loslassen führte. Er wisse alles über die Kommerzialisierung von Kunst, sagte er, als eine Lektorin zögerte, ihren „ästhetischen“ Autor dem Tumult seiner eigenen Vermarktung auszusetzen. „Bruce hatte nichts dagegen, seinen Enthusiasmus zu vermarkten“, schreibt Clapp lapidar. Weitere Facetten zeigen sich: Chatwins Gefallen an Anomalien und Extremen, seine Genussfähigkeit, die bezeichnenderweise sowohl für Fülle als auch für Kargheit empfänglich war, und eine unausgesprochene Hermaphrodie. Weniger maskuliner Draufgänger als ein charmanter Plauderer, der, so Clapp, beteuerte, nicht zu wissen, was Feminismus ist, sich aber oft genauso verhielt, als wüsste er es. Lesend wird man Teilhaber an seinen kleinen Tyranneien und weniger sympathischen Wesenszügen, dies jedoch stets in einem aufklärerischen und nicht spekulativen Sinne. Chatwin selbst stand auf der Seite der Romantiker und wirkte – nicht zuletzt durch sein lebhaftes Interesse an Menschen und durch seine nonexploitative Kommunikation – letztlich jedoch aufklärender als manch bekennende Aufklärer seiner Zeit.
Ein bislang eher unterbelichtet gebliebenes Kapitel dann öffnet sich in „Verschlungene Pfade“, einer Sammlung von Chatwins eigenen Reisephotographien, die ihn auch auf diesem Terrain als brilliantes „Auge“ ausweisen. Dabei kam es ihm auf die Kunstfertigkeit dieser Bilder gar nicht mal an, er schoss die Bilder im wahrsten Sinne „im Vorbeigehen“. Zu sehen sind Photos von ergreifender Schönheit, farbenprächtige Meditationen und monochrome Oberflächenspiegelungen, still, heftig, heiss und kalt – die ganze Palette einer Intensität der augenscheinlichen Erfahrung eines Unterwegsseins, dessen Bewegung nur im Tod zu einem Stillstand und damit zu einem Ende kommen kann.
(Nicholas Shakespeare. Bruce Chatwin. Eine Biographie. 827 Seiten. Kindler. Reinbek 2000. 78,- DM. ISBN 3-463-40389-7 / Susannah Clapp. Mit Chatwin. Portrait eines Schriftstellers. 254 Seiten. Fischer TB. Frankfurt / Main 2000. 19,80 DM. ISBN 3-596-14562-7 / Bruce Chatwin, Photograph. Verschlungene Pfade. Ausgewählt von Roberto Calasso. 192 Seiten. Fischer TB. Frankfurt / Main 2000. 34,- DM. ISBN 3-596-14706-9)
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