FMP. Im Rückblick

FMP.

IM RÜCKBLICK – IN RETROSPECT. 1969 – 2010.

Von Marcus Maida

Ein guter Abgang ziert die Übung, so Friedrich Schiller. Und warum auch nicht, wenn die Zeit endlich passt. Nach 41 Jahren legt FMP, das neben Intakt aktuell immer noch bedeutendste europäische Label für freien und neuen Jazz’n Improv, die Abschiedsedition vor. Free Music Production, 1969 in Berlin gegründet, ist größtmögliche Aura bei größtmöglicher Auravermeidung. Dieser Widerspruch muss nach wie vor kreativ und hellwach bearbeitet werden. Wenn FMP, das stets mehr war als ein Label, nun eine finale Werkschau mit allen labelbezeichnenden Teilen, vom großen 1×1 der Kollektivimprovisation über vitalsten Kammerimprov bis zu stupenden Solo- und Duoaufnahmen, editiert, sollte man bitte nicht ‚Die Bibel des Free Jazz’ oder ähnlichen Unsinn sagen. Wenn schon Metaphern, dann lässt sich diese Rückschau, die gleichsam ein Statement ist, in Form einer 12 CD-Box (sechs Alben bislang unveröffentlicht, alle Teile auch einzeln erhältlich) nebst jeweils neuen Linernotes und 218-seitigem Buch im LP-Format vielmehr als ein in nüchternem Packpapierdesign herübergereichter Abschieds-Ziegel- bzw. markanter Grundstein für neue Fundamente bezeichnen. Man kann diesen Brocken auch einen Granitmarker für weitere Wege nennen, über die es in die Jazz-Zukunft geht. Derartige Elementarvergleiche sind angemessen, sollten aber bitteschön keine Mythen nähren, die sich allzuschnell um Realität und Fakten der freien Jazzgeschichte, die gespickt von Fälschungen und Missverständnissen ist, ranken. Denn wie war das doch gleich noch mal mit dem Free Jazz?

Ja, Free Jazz! Free Jazz ist ganz einfach. Da kommt es ja nur darauf an, ob es gut aussieht. Albert Mangelsdorff hat gesagt: Da kann niemand sagen, ob etwas gut oder schlecht, falsch oder richtig gespielt ist. Wer hört sich denn Free Jazz zu Hause an? Nicht einmal die Free-Jazz-Musiker! Die hören lieber Hard Rock.“

So Wolfgang Dauner in Jazzthetik Januar/Februar 2011. Dreist! Und wissen Sie was? Gar nicht mal so falsch, bedeutende ProtagonistInnen der Improv-Szene bestätigen das. Free Jazz heute, so ein launiger Sager, ist toll, aber halt wie Fußball – das spielt man selber, aber sieht es sich nicht zuhause an. Und auf der Bühne? Diverse selbstvergessene Retro-Improv-Etüden zum Ermüden und formidable Formspielereien ohne Seele und Inspiration haben das Genre und seine Transformationen in der Jetztzeit etwas rufgeschädigt. Einst musste sich der Jazz vor dem Free Jazz verteidigen, heute scheint dies mitunter umgekehrt zu sein. Und was gibt es heute auch noch zu befreien in einem Jazz, der oft durch virtuose Belang- und eloquente Ideenlosigkeit via Hi-Class-Brand von sich Reden macht und ein völlig anderes Genre zur improvisierten Musik zu sein scheint? Wenn indes frei improvisierende Live-Musik den Kern zwischen Geschichte und Zukunft im Hier und Jetzt dialektisch spalten kann, kann dies nach wie vor eine absolute musikalische Sternstunde sein, wenn allerdings der Formalismus der Formsprengerei seelenlos, normiert und geradezu redundant reproduziert wird, nach wie vor eine konkrete Folter. Das ist die Situation, auf die dieses unfassbar hochqualitative gehaltvoll-geballte Paket Free-Jazz-Geschichte trifft. Wozu diese satte Konservierung in Archivstärke? Für musikwissenschaftliche Analysen? Geschenkt, geht klar – aber ist wohl nicht die Hauptsache. Zur Neu-Heranführung ans musikalische Material für den Nachwuchs, den es doch angeblich so selten im reinen Improv-Genre gibt? Schon heißer. Denn natürlich gibt es Nachwüchse im freien und improvisierenden Jazz – und wie! Und die spielen genau DAS – aber komplett anders und transformiert. Oder letztlich für das Verständnis und das Wissen um die Geschichte des Prinzips Freiheit, und den Versuch einer veritablen und repräsentativen Abbildung einer der eigenwilligsten, energiegeladensten, stärksten und reichhaltigsten Musiken des ausgehenden letzten Jahrhunderts, die weit in die Gegenwart hineinreicht? Es ist genau das. Aber was ist denn DAS? Was können freigeistige Jazz-Youngster hier lernen? Zum Beispiel:

Selbstermächtigung. Haltung. Statt Karriere. Die dann natürlich (vielleicht gerade deswegen) doch eine Art Karriere wird. Kontinuität. Halsstarrigkeit. Idealismus. Individualismus im Kollektiv. Trotz. Unsicherheiten aushalten können. Hochpotenzierte Risiken ästhetischer und personeller Art. Verabschiedungen ohne Reue. Neudefinitionen. Wissen. Nicht ewig versuchen, sondern im Hier und Jetzt finden. Energielevel. Der Rausch von unbewusster Freiheit und bewusster Traditionssprengung. Unpathos. Die Nüchternheit des Designs. Euphorischen Pragmatismus. Die Lakonik der Produktion und des Abschieds: und tschüss. Klar, deutlich, unsentimental. Trotzdem, natürlich: Herzlichkeit. Verbindlichkeit. Handschlagqualitäten. Verzweiflung. Sturheit. Beharrlichkeit. Musiker ohne jede Aura. Alltags-Legenden. Die Gründergeneration: bärtige Typen, umgeben von Rauch, Büchern und Wein, die sich und ihre Instrumente in desolate Mittelklassewagen quetschten und bei Minusgraden durch Europa tourten. Gibt es so heute nicht mehr, wissen wir. Außer bei denen selbst (Schlippenbach & Co touren z.B. immer noch so).

Zu FMP ist schon (fast) alles gesagt worden, alle Reviews und Nachrufe zu Lebzeiten sind schon erschienen, alle Geschichten sind erzählt. Wer sie noch nicht kennt, kann sie nun in dieser Abschlussedition in bester Manier nachlesen. Sagenhafte Artikel, fein fundiert, gelehrt und detailliert, die der Labelhistorie in ihren verschiedensten Phasen und Verbindungen nachspüren und dabei der Mythenmähne beharrlich die Läuse auskämmen. Zum Beispiel: dass FMP ein Musikerlabel war. Ja und nein. Denn natürlich war Brötzmann wesentlicher Impulsgeber und Musiker das Anschubkollektiv, aber FMP war gleichsam von Anfang bis Ende: Jost Gebers. Es braucht in allen Kollektivprozessen einfach diesen klaren Vermittler-Kopf mit dem Überverständnis für alle Szene-Prozesse sowie dem editorischen Instinkt, der besser kein Musiker, aber maximal (autodidaktischer) Techniker und Produzent ist. Bodenständig normalvisionär, mitunter knietief im Dispo watend, mit unbestechlichem Panoramablick auch mal Freundschaftsalben ablehnend, keine Angst vor falschen Entscheidungen, geistesgegenwärtig-genialisch mit der Dialektik von Gelassenheit und Grantlertum jonglierend. Und doch, klar: FMP war keine Soloshow, sondern ein kollektiver Prozess, der oft genug durch und für die MusikerInnen, die stetig Empfehlungen, Querverweise und Referenzen einbrachten, erst so richtig auflebte, abhob und neue Fährten legte. Noch ein Mythos: die wahnsinnig wichtigen FMP-Alben. Natürlich zeigen diese nicht zuletzt die Eigenständigkeiten der jeweiligen MusikerInnen in nuce. Und vor allem durch die gewiefte Edition, dass sie nämlich eben keine platten 1:1-Dokus waren und sind, sondern in strenger Auswahl und Re-Kombination des Materials den Fokus und Nukleus auf die wesentlichen Bewegungen und Variationen im Free Jazz ermöglichten, wirken sie so kompakt und dicht. Aber sie machten eben nicht das aus, was FMP letztlich wirklich war: ein Netzwerk zwischen Aktion und Vermittlung, dessen Alben nur mehr Boten- und Lockstoffe waren.

Streng genommen sind die (Anti-)Festivals und Konzertreihen der FMP wichtiger gewesen als die LP-Produktionen“, so Felix Klopothek sehr richtig in seinem Artikel. Noch ein Mythos gefällig? Beharrlichkeit? Aber sicher! Doch wie oft stand das Label finanziell kurz vor dem Aus, und Gebers hätte – ohne massive Interventionen Brötzmanns – hingeschmissen. Doch Standhaftigkeit schafft nun mal Mythos. Hier gleich noch einer: Strategielabel FMP. Das Label hatte trotz diverser editorialer Strukturspielchen und Seitenstränge niemals einen Masterplan, dafür aber stets waches Bewusstsein und Chuzpe für den nächsten Schritt. Mit der notwendigen Konsequenz erscheint natürlich retrospektiv das meiste, wenn nicht gar alles, logisch vorhergeplant, wo vor allem sture Beharrlichkeit und eine umfassende biographische Sondierung für den Weitergang des Labels verantwortlich waren. So war FMP nie auf Verkäufe angewiesen: Gebers und seine damalige Frau Dagmar haben nie vom Label gelebt, sondern stetig zugeschossen und ihre Privatzeit komplett eingebracht. Die besser verkaufenden Scheiben querfinanzierten, wie überall, aber hier noch extensiver als sonst, die Ladenhüter. Für das Total Music Meeting schließlich, 1968 als Gegenveranstaltung zu den Berliner Jazztagen initiiert und stets klassisch als kollektiver process-in-progress und nicht als Names-&-Hype-Festival verstanden, konnte Senatsförderung erwartet werden, bis private Zuwendungen den Fortgang ermöglichten. Bedeutend auch die Internationalisierung: Irène Schweizer kam früh aus der Enge der Schweiz, setzte sich bei den Freigeist-Machos der Gründergeneration durch und wurde zum weiblichen Improv-Role-Model, Derek Bailey war häufiger Gast, Steve Lacy klinkte sich ein, und schließlich wurde um Cecil Taylors Berlin-Stipendium 1988 eine ganze Edition gewoben – um nur einige Beispiele zu nennen. Dann der vorläufige Schluss, der Zwist: die verlorenen Jahre um die Auseinandersetzung mit Helma Schleif ab 1999/2000, Rufschädigung, Wirrwarr – all das kann aber muss man nicht wissen, sollte man aber zumindest dann kennen, wenn einen der aktuelle Zustand der Produktion und Distribution von improvisierter Musik interessiert.

Wenn man aufhören sollte, wenn es am schönsten ist, hätte FMP schon längst schlußmachen können oder gar sollen, wie manche meinen. Aber grandiose jüngere Exkursionen (z.B. Olaf Rupp’s Whiteout) zeigten dann doch, wie viel Saft immer noch in dieser Zitrone steckte. Nach diversen mehr oder minder misslungenen Ausstiegsversuchen kann Gebers nun endlich 2010 entspannt gehen und einen persönlichen Schlussstrich ziehen, und wir sollten tatsächlich dankbar sein, dass FMP mit einem derart substanziellen Paket Abschied nehmen und nachhaltig wirken kann.

Was lässt sich für die Jüngeren aus und von dem ästhetisch-sozialen Gesamtkunstwerk FMP lernen? Vielleicht außer der oben genannten Eigenschafts-Liste als Wichtigstes dieses: wie sich über vier Jahrzehnte ein Leben für und in der Musik überleben lässt. Wer macht denn so etwas noch heute? Typen, die ganz ruhig und stur und doch bewegt bis zum Umfallen für die Musik arbeiten, die sie als die beste aller möglichen erkannt haben? Und woraus besteht Free Jazz’n Improv in der Haltung heute? Die Borderline zu Neuer und Komponierter Musik ist schon lange überschritten wie auch klar markiert. Aber wo ist die Kreuzung und Rückbesinnung zu einer Musik der Revolte? Free Jazz war auch der Punk des Jazz, so ein früherer Konsens. Auch heute gibt es wieder (zu) gut ausgebildete Strukturyoungster mit Instrumentenfetisch, die um die Subventionstöpfe schleichen und jede Menge faden Auftragsjazz produzieren – aber wo bleibt das Aufbegehren, die Revolte, der Widerstand, und auch: die Eigenwilligkeit – und der Humor? Wie erneuert und rejuviniert sich die freie Musik? Die Tugenden, Abgründe und Höhenflüge des freien Jazzspiels lassen sich auch heute nicht pauschal lehren und lernen, aber dieser schwerst beeindruckende Ziegelstein-Granitmarker-Brocken ersetzt letztlich so manche Jazzschule. Wort.

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CD 1: Globe Unity Orchestra & Guests: Baden-Baden ‚75 (1975)

Enrico Rava (tp) / Manfred Schoof (tp) / Kenny Wheeler (tp) / Anthony Braxton (as) / Peter Brötzmann (sax, cl) / Rüdiger Carl (as, ts) / Gerd Dudek (ss, fl) / Evan Parker (ss, ts) / Michel Pilz (bcl) / Günter Christmann (tb) / Albert Mangelsdorff (tb) / Paul Rutherford (tb) / Alexander von Schlippenbach (p) / Peter Kowald (b, tuba) / Buschi Niebergall (b) / Paul Lovens (dr)

Spieldauer: 77:41 / Liner Notes: G. Fritze Margull, Alexander von Schlippenbach / Rüdiger Carl, Martin Speicher / Unveröffentlicht

CD 2: Steve Lacy: In Berlin. Solo & Quintett (1975/77)

Steve Lacy (ss) / Steve Potts (as) / Irène Aebi (c) / Kent Carter (b) / Oliver Johnson (dr) / Spieldauer 70:37/ Linernotes: Bill Shoemaker

CD 3: Schweizer / Carl / Moholo: Messer und … (1975/77)

Rüdiger Carl (as, ts, cl, fl) / Irène Schweizer (p) / Louis Moholo (dr) / Spieldauer: 57:03 / Linernotes: Ulrich Kurth

CD 4: Schlippenbach Quartet: At Quartier Latin (1975/77)

Evan Parker (ss, ts) / Alexander von Schlippenbach (p) / Peter Kowald (b) / Paul Lovens (dr) / Spieldauer: 56:54 / Linernotes: Klaus Kürvers

CD 5: Peter Brötzmann solo: Wolke in Hosen (1976)

Peter Brötzmann (cl, sax) / Spieldauer: 49:22 / Linernotes: Thomas Millroth

CD 6: Malfatti / Wittwer: Und? … Plus (1977)

Radu Malfatti (tb) / Stephan Wittwer (g) / Spieldauer: 54:48 / Liner Notes: Felix Klopothek

CD 7: Fred van Hove: Piano solo (1981/86)

Fred van Hove (p) / Spieldauer: 75:36 / Liner Notes: Rob Leurentop

CD 8: Peter Brötzmann Die Like A Dog: Close Up (1994)

Peter Brötzmann (sax, tarogato, cl) / Toshinori Kondo (tp, e) / William Parker (b) / Hamid Drake (dr, perc) / Spieldauer: 58:06 / Liner Notes: David Keenan / Unveröffentlicht

CD 9: Manfred Schulze Bläser Quintett: Choral Konzert (1998)

Paul Schwingenschlögl (tp) / Manfred Hering (as) / Heiner Reinhardt (ts) / Gert Anklam (bs) / Johannes Bauer (tb) / Spieldauer: 62:48 / Liner Notes: Bert Noglik / Unveröffentlicht

CD 10: Manuela + Carl / Reichel / Zingaro + Jin Hi Kim (1999)

Rüdiger Carl (cl, akk, claviola) / Jin Hi Kim (komungo) / Hans Reichel (g, dax) / Carlos Zingaro (v) / Spieldauer: 65:33 / Liner Notes: Felix Klopothek / Unveröffentlicht

CD 11: Peter Kowald solo: Was da ist (live) (2000)

Peter Kowald (b, voc) / Spieldauer: 49:24 / Liner Notes: Ulrich Kurth / Unveröffentlicht

CD 12: Tristan Honsinger + Olaf Rupp: Stretto (2010)

Tristan Honsinger /c) / Olaf Rupp (g) / Spieldauer: 59:48 / Liner Notes: Clifford Allen / Unveröffentlicht

Buch: FMP – Im Rückblick – In Retrospect, 1969 – 2010, Mit Beiträgen von: Peter Brötzmann, Wolfram Knauer, Ken Vandermark, Bert Noglik, Bill Shoemaker, Felix Klopothek, Wolf Kampmann, Bernd Mehlitz, Jost Gebers. Deutsch und Englisch. Fotografien von Dagmar Gebers. Projekt- und Musikerauflistung seit 1968, Diskographie aller LPs, Singles und CDs inkl. Coverabbildungen, 218 S.

FMP

(Jazzthetik)

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