Zürich. Das 10. unerhört!-Festival / 21. bis 27.11 2011
Von Marcus Maida
Was für eine großartige Geste! Ein freier Solo-Radikaler eröffnete das 10. unerhört!-Festival mit einer Hommage und Exploration improvisierter Klangauslotung. Christian Wohlfahrt kniete sich allein unter Becken gewohnt ernsthaft, konzentriert und beseelt tief in dieses spröde und scheinbar undankbare Soloinstrument, um faszinierendst Nuancen und Strukturen herauszuarbeiten. Manche Drone-Alben mögen komplexer sein, hier zählten die Minimierung des Materials und die daraus resultierende Erweiterung. In die Vollen danach mit Les Diabolique: impulsiv-lässiger und verspielt freier Improv-Barjazz bar jeder Vernunft. Maggie Nicols mal kosmisch-leicht verhuscht bis derb und bissig, Schweizer und Léandre als kongeniale ‚loose women on the brink standing strong’. Zwischen cozmic-freeform und Falsett-Improv-Shanties ging einiges, aber auch die häufigen eher leisen, mantra-artigen Passagen überzeugten das ausverkaufte Theater am Neumarkt.
Im Museum Rietberg entfesselten Biondini-Godard-Niggli tags darauf ein grandioses folkloristisches Freispiel zwischen Coltrane, Bach und mediterranem Folk: mal derbe hart und impulsiv, dann wieder sehr klangpoetisch und fragil gab man sich bei allen strukturalen und atmosphärisch-virtuosen Höhenflügen letztlich extrem akzentuiert und exakt. Im Mehrspur-Club der ZHDK indes stiftete Oliver Lake die Youngster zu dem bislang besten unerhört!-Workshop-Konzert an: wahnwitzig frei, aber stets inspiriert, strukturiert und bar jeder Klischees geriet man in richtig coole und gute Grooves, die durch eine übergute Spoken-Word-Performance Lakes die Krone bekamen.
In der Roten Fabrik präsentierte sich Nik Bärtsch mit Ronin und der Bigband der MHS Luzern zum mittlerweile dritten Mal beim unerhört!. Das Konzert war einfach nur grandios und magisch. Das Kollektiv wie ein Mensch, darin alle Facetten und individuellen Bewegungen für den Progress des Ganzen spürbar. Kein dudeln, daddeln oder tröpfeln, sondern sehr punktgenaue, scharfe und massive Akzente. Die aurale Cinematografie glitt immer wieder ins Weiche, Sphärische, ja Schwerelos-Magische, verlor jedoch durch die komplexen, vollen und dichten Repetitions-Grooves nie die Bodenhaftung. Unglaublicher tonaler Effekt der Kollektivstruktur: die Stücke weiteten sich enorm und wurden selbst in der größten Horizontalen niemals fad und ebenmäßig. Christoph Grabs Dreier Raw Vision bekam durch ‚Hyperactive Kid’ Ronny Graupe besten Ersatz für den erkrankten Frank Möbus. Das Konzert machte einen schönen und erstaunlichen Progress durch: erschien die Vision des Saxofonisten zunächst weniger roh als eher traditionell, ausladend und verschnörkelt zu sein – charmant und versiert, doch teilweise wie Klassik-Jazz auf Helium –, öffneten sich nach dem Stück Reality Scan auf einmal diverse Türen, alles kam rein und es kippte ins Saugute. Graupes Gitarre sehr fein idiosynkratisch, und der Gig wurde richtig bissig, schräg und losgelassen. Du denkst, Grabs Schritte sind noch nicht so groß, aber er ist doch schon drin. Auge drauf! Das Eric Dolphy Project von Co Streiff, Russ Johnson und Gerry Hemingway war gut, aber schwierig. Alle drei sind Cracks, die sich je schon früh mit Dolphy beschäftigt hatten, aber ihrer gemeinsamen Re-Interpretation fehlte bei allen Offenbarungen mitunter die rhythmische Klammer, die es oft gebraucht hätte. Spitzenleistung, wirkte aber etwas zerfasert und untight, der Bass fehlte als Scharnier, die Vibes als Nägel. Es wurde geschaufelt und gegraben, war Baustelle, Labor und Zirkus in einem, aber irgendwie körperlos: zu viele Knochen, zu wenig Fleisch. Der Kopf freute sich, der Bauch wanderte. Danach waren nicht wenige Plätze leer. Das war schade, denn das Trio Lake-Weber-Ulrich feat. Nils Wogram brachte die Bühne zum Brennen. Dieter Ulrich spielt wirklich ein fantastisches kontemporäres Jazzschlagzeug, Christian Weber gab fixe, satte und begeisternde Bassgrooves, Lake war wild, aber zielgerichtet und voller Gentleman-Contenance, und Wogram mit seiner so ureigenen Stimme Sahnehaube und oft Macher und Impulsgeber. Grosses Konzert.
Omri Ziegeles Where’s Africa Band überraschte durch eine völlige Verjüngung und Umbesetzung. Tolles Piano von Yves Theiler, beste drums von Julian Sartorius, aber der Knaller war die Südafrikanerin Siya Makuzeni an Posaune und Vocals. Ziegeles sehr weise Entscheidung, die Vocals abgegeben zu haben, bescherte dem Publikum mitreißenden atmosphärisch stimmigen Soul-Jazz mit Groove und Freiheit. Sogar wenn die Stücke ekstatisch wurden, verloren sie nie ihren Faden – sehr schönes und lohnenswertes Projekt. Das Piano-Drum-Duo Kappeler-Zumthor begann getragen und dunkel, hatte etwas verspieltes, aber auch bedrohliches. Wie eine leicht verstörte Spieluhr, die sich selbstständig macht, wurde es zunehmend ungestümer, letztlich entfesselt, abgehackt und perkussiv, mit dem Gestus zwischen Goth-Loop-Folk und Improv-Kunstlied. Faszinierendes, zwiespältiges Konzert, bisweilen zäh und unentschlossen. Höhepunkt des Abends dann ganz klar der supersympathische Pierre Favre and the Drummers: der Fokus lag eben nicht auf Schlagzeugpoesie, sondern auf Rhythmik. Unter extrem transparentem Klang kamen die vier Schlagwerker talking-drum-mässig zusammen, vertauschten desöfteren Snare und Djembe und praktizierten die Präzision der Synchronisierung mit doch so viel Seele und Temperament.
Im rappelvollen Altenheim Pfrundhaus dann das kongenial aufspielende Duo Gumpert-Wickihalder: Sehr tief und ungemein gefühlvoll interpretierte Pianostücke wechselten mit ausgelassenen Fröhlichkeiten. Wickihalders vitale Lacy-Reminiszenzen und Geräuschhaftigkeiten kontrastierten mit Gumperts herrlichen slow-mood-Stücken: die historische Verlorenheit und Entfremdung von Preußische Elegie oder die määndernde Epik von Iphigenie spannten den Bogen von Freeform und Ballade bis zur schwelgerischen Zusammenführung in einem intensiven lyrischen Finale. Im Moods überzeugte The Immervolle Säle um das Kunstoriginal Ruedi Häusermann: komische Käuze mit ebensolchen Instrumenten: Stahltonnen, Klobürsten, Trommeln auf der Empore, die per Draht angeschossen wurden, zerknisternde Pet-Flaschen, dazu FuzzBass, Klarinette, Cello, DJ und Laptop. Die Echtzeitperformance überzeugte voll, der Bühnenrand wurde per Kamera-Dreirad gefilmt und zur Kunststrecke – weiter so, dann gebt Ihr Euerem Namen recht. Beim Duo Friedli-Oswald dann eine konzentrierte Exegese tonaler Abstraktion. Die erfahrene Pianistin mit Gespür und Konsequenz für wirklich tonal befreite Klaviermusik und die junge avancierte Saxofonistin mit einer bemerkenswerten Puste und Akzentuierung boten eine extrem sperrige Musik, die kantig, kubistisch, konsequent konstruktivistisch und konzentrisch gegenaufeinanderhin spielte. Den Reigen beendete das junge Zürcher Jazzwerkstatt Kollektiv, das sich zwischen herzhaftem Impuls und superfiligranem Eierfahr-Improv präsentierte. Die Workband trennte nicht zwischen Avant und Trad, sondern verband unprätentiös und schlüssig das Beste aller Welten. Auf jedenfall wurde es mit dem Neuner (5 Saxes!) noch einmal richtig leidenschaftlich, wenn auch diverse Hänger und Fadheiten im nun schon sehr gelichteten Moods hörbar waren.
Eröffnet wurde das Jubiläums-Fest mit einer hochkarätig und rein männlich besetzten Diskussionsrunde in der MHS Luzern vor leider handverlesenem Publikum. Alle Teilnehmer strotzten vor Fachwissen und hochinteressanten Erkenntnissen, aber unterm Strich gab es erwartungsgemäß kein klares und konkretes Ergebnis zum Zustand des Jazz. Die State-of-the-Jazz-Art-Analysen waren beachtlich, aber auch bekannt: man konstatierte die größte Diversifizierung, die das Genre je hatte, einen multidirektionalen Prozess mit flexiblen Kategorien und wachsender Hybridisation, gleichsam den sprichwörtlichen Klang-Konservatismus und die stets virulente Scheu vor der Elektronik. Die Diskussion fand unterm Strich wenig schlüssige Aussichten auf die Punkte am Horizont, aber Status-Check-Ups und Fragen stellen ist ja auch etwas, richtig gemacht, und das war hier der Fall, sogar extrem viel. Bald rutschte man jedoch zu sehr in spezielle Lobby- und Klienteldetails ab, und am Schluss wurde dann, leider, die weltweite Jazz-Community beschworen. Die es nun mal nicht gibt, sorry, denn das ist und bleibt humanistischer Unsinn: es gibt keine Jazz-Community, die Kontexte und Interessen sind einfach zu verschieden.
Aber die Musik spielt weiter, und wie. Es war ein sehr stimmiges Festival ohne Aussetzer mit sehr schöner Dramaturgie, dessen herausstechendstes Merkmal nicht zuletzt seine eigene Verjüngung war. Wie viele Bands mit jungen Leuten hier spielten – das kam sehr gut an in den zumeist voll besetzten Spielorten. Dieter Ulrich lobte zum Abschluss den hervorragenden Jahrgang, der er in der Tat war, und darüber hinaus alle Helfer und Unterstützer – bis auf die Journalisten. Es gibt noch was zu tun.
(Jazzthetik)