unerhört!-Festival 05

Zürich. Das 5. unerhört!-Festival / 23. – 28.11.2006

Von Marcus Maida

Zum Fünften gönnte man sich in Zürich fast eine Woche unerhörtes und weitete das Fest zudem in die Stadt aus. Wurde früher vor allem die Rote Fabrik bespielt, bewegte man das Publikum nun auch in den schicken und traumhaft subventionierten Innenstadt-Jazzclub Moods. Zunächst jedoch in der Roten Fabrik das beeindruckende Eröffnungskonzert: 10 Jahre Billiger Bauer, das wollte und sollte gefeiert werden. Neben friends and family hatten sich viele Leute eingefunden, um die ehemalige Projektband von Omri Ziegele zu erleben, zu der man ihm am Anfang sagte: „Nach drei Monaten kommt kein Schwein mehr.“ Heuer aber jede Menge Viehzeugs im Stall, und es ging richtig rund. Das zweiteilige Set zunächst mit groovendem Einstieg, dann impulsiver und extrovertierter Freejazz mit Dada Lyrik – das alles veranlasste ein junges Paar aufzustehen und zu gehen. Sofort. Das es das noch gibt. Das Restpublikum jedoch war ob der Üppigkeit, Finesse und Explosivität der Darbietung angetan bis begeistert. Zwar überzeugten die leisen Passagen im 1. Set nicht immer und Ziegeles Tiergedichte sind, sagen wir, gewöhnungsbedürftig, aber die Klasse dieses Ensembles kratzt das nicht: es ist voll etwas los, es raucht, es fordert – der Bauer macht keinen lahmen Feierabend-Jazz. Sehr schön die einzelnen Zellen und Inseln wie Ulrich-Schlegel-Friedli, später eine unglaubliche Energiesteigerung durch die beiden Drums. Ziegele überzeugte als impulsiv-expressiv-passionierter Frontman mit Minton-artigem Raunz-Rap und bisweiliger Pathosnähe, aber auch gezielt-gebrochener Theatralik, getragen vom infernalisch zwingenden Bauer-Freeform-Stil mit faszinierendsten Facetten. Hardbop-Idiome stachen in einen sehr zerfaserten Hintergrund, und die sich stetig komplex neu arrangierende Big-Band ging weit über einen klassischen Free-Jazz-Gestus hinaus. Am nächsten Abend dann einige Projekte aus dem Bauer-Umfeld wie Noise Minority oder das umwerfend gute Friedli-Studer-Ulrich-Trio mit gekonnter Abstraktion und unprätentiösen Klang-Assemblagen – ein Highlight! Anders ebenso gut das Trio Tresbass: Schlegels und Kramis Bässe zimmern im repetetiv reizvollem Kontrast regelrecht das Gerüst für Landis vital-turbulentes Sax, das quecksilbern darauf klettert – grosser Applaus, wie auch für die darauffolgenden Groove-Exkursionen von Marco Käppeli and the even odds. Danach die komponierte Ziegele-Suite „Make the Dust dance“ für einen fantastisch aufspielenden 14köpfigen Grossbauern, der dem Feld der zeitgemässen Musik nichts schuldig blieb und trotz aller Grenzen auf unbändiger Freiheit insistierte. Weniger erfolgreich leider der Bauer an der Musikhochschule Luzern: zum Workshop am Samstagmorgen war dann tatsächlich keine Sau da!

Samstag beim Wardrobe-Trio mit Beresford-Williamson-Turner teilten sich die Geister: sehr normativer und angestaubter Freeform, so die einen, souverän und konsequent, so die anderen. Auf jedenfall dampfte und zischte es: keine Stücke, sondern das Geweb eines völlig kontrastreichen, aber stimmigen Teppichs, keine wohldosierten Häppchen, sondern durchgehendes Energielevel. Hochartifiziell, auch teilweise ungestüm und wild, dazu stets mit Disziplin und Understatement. Beresfords Hemdsärmel blieben zugeknöpft, die Krawatte wird selbstverständlich auch beim derbsten Freeform nicht gelockert – auch so lässt sich frei sein. Das junge Manuel Mengis Sextett dann zwischen abstrakten Postrocktexturen und postmodernem Indie-Improv-Patchwork. Saugute Ansätze, aber dann zu gewollt, tolle Arrangements, aber im Zusammenspiel nicht austariert genug und im Gesamten etwas zu kopflastig und zusammengeleimt. Trotzdem definitiv vielversprechend und ein willkommener Crossovermoment im sonst doch recht engen Jazz-Korsett. Schliesslich Makaya and the New Tsotsis: Makaya Ntshoko, ex-Drummer von Hugh Masekela und Dollar-Brand, hat sich endlich gefangen und bot mit der Swiss-Jazz-Vaterfigur Andy Scherrer am Sax, Bassist Stephen Kurmann und Vera Kappeler am Piano eine generationsverbindende und eindrucksvolle Hommage an die Tradition, die mit allen Gefahren zum Schweifen verführte, wie die latente Langatmigkeit des Endlos-Impressionismus und die belanglosen Klangaquarellmalereien, die Makayas ex-Partner Abdullah Ibrahim heute live so unerträglich machen. Am Ende überrissen die Musiker das zunächst herrliche Set prompt und merkten nicht, dass die Stücke längst zu Ende waren – schade eigentlich. Im Hörgedächtnis blieb einmal mehr die Pianistin: das Coleman-Cover ging ganz klar auf Kappelers Kappe.

Die Nocturnes im Fabriktheater wurden von Braff-Oester-Rohrer bestritten. Von Irène Schweizer vorgeschlagen, bekam das kristallklar verspielte, federleichte und ungemein flüssige Trio den Bogen von anfänglicher Schluff- zu tighter Lässigkeit, am zweiten Abend auch äußerst prägnant, nahezu knallig. Sie spielten bei Augenkontakt auf ca. 3 qm2 ein sehr dichtes und letztlich überzeugendes Modul, sollten sie auch, denn sie werden mit 25.000 CHF als Hoffnungsträger von Pro Helvetia punktuell gefördert. Sonntag gab’s im Theater Stadelhofen eine Lesung von Rafik Schami mit der Perkussionspoesie von Günter ‚Baby’ Sommer als kongenialem Derwisch, z.B. am ‚Hang’, einem handgeschmiedetem Instrument aus dem Berner Oberland, das aussieht wie ein umgedrehter Wok.
Im Moods eröffneten später Koch-Schütz-Studer mit vielen Gästen ihre temporäre Improv-Kommune, die manchmal den Geist einer 70er-Jahre-Kollektiv-Revue zu atmen schien. Zwei Vokalistinnen verliehen dem Oktett besonderes Charisma: Suzanne Zahnd brachte in ihren „private is politics“-Lyrics („das war nicht nur ein Fick, das war Politik“ oder auch: „Meine Sehnsucht nach Freiheit war immer größer als die nach Zärtlichkeit. Deshalb bin ich auch heute so scheißalleine“) Kant, Foucault und Pimpern zusammen – etwas Hippie-mässig, aber immerhin schön offen. Joy Frempong hingegen croonte den Appenzeller im Nina-Hagen-Style und kratzte an der Elektronik – hier gab’s keine Jazz-Liebchen, sondern taffe Stimmen, gut so! Elektroakustische Drones statt die immergleichen Bläser-Kontexte, dazu noch ein Spontan-Ländler durch Handorgelkauz Hans Hassler, und alles ward gut. Koch-Schütz-Studer kamen heuer daher wie die Goldenen Zitronen (bei denen Zahnd ja schon mitmachte), sie erfinden sich wenigstens mal neu und scheißen auf den normativen Improv-Zirkus und seinen kontemplativ-konzentrierten Konzert-Gestus. Macht’s nur weiter so! Root Down, vor 2 Jahren auf dem Unerhört von Saxophonist Tommy Meier, Lebensgefährte von auch-Mitspielerin Co Streiff, gegründet, bestritten den Montag. Der Sound der 16köpfigen Band (inkl. Irène Schweizer) ist vor allem als Hommage an afrikanische Musik zu hören, aber nicht als artifizielles Bigband-Konstrukt, sondern als Re-Interpreter, mit DJ und klaren Bekenntnissen zu Kontexterweiterung, Innovation und Freeform. Vollends kochen tat es jedoch selten, es war schon etwas gesetzter, mitunter sogar unterkühlter. Man spürte bei allen Funkenschlägen: hier spielen Europäer, keine Afrikaner, zudem Interpreten im reiferen Alter. Das ist keinstenfalls abwertend gemeint, nur prägte es eben die Gesamtpräsenz. Prägend trotzdem der sehr lebendige und bisweilen tanzbare Vibe und die komplett überzeugende Rhythm-Section. Das Set war gekennzeichnet durch Funk, Rock und Afro-Beat, dabei nie eine Fela-Kuti-Kopie, sondern auch durch experimentellere Wurzeln und ganz klar die europäische Musik- und Big-Bandtradition bestimmt. Extra toll: Russ Johnson’s Trompete, und bei Kutis Zombie als Zugabe brannte dann wirklich die Hütte!
Das Festival endete durch eine experimentelle Interaktion zweier Basser: Peter K. Frey, neben Irène Schweizer einer der letzten noch aktiven Zürcher Urzellen der freien Musik, und Daniel Studer, einem exzellentem jungen Spieler zwischen neuer und improvisierter Musik. Den Schlusspunkt setzte Dave Holland: für den erkrankten Steve Nelson sprang Jason Moran ins Quintett ein. Den Tasteningenieur unterm Schweinekuchenhut brachte rein gar nichts aus der Fassung, als Meister Holland den Viersaiter wie ein Uhrwerk schnurren ließ und Nate Smith an den Drums pulsierend pushte. Die Band spielte sich mit vielen Tracks vom Critical Mass-Album sofort in einen sagenhaften komplexen und vollen Sound hinein. Überhaupt alles sagenhaft gespielt von unglaublichen Spitzenkönnern, aber auch irgendwann, genau, ein bisschen langweilig. Und dann wurde das Spiel wirklich vorherhörbar, aber man konnte, z.B. als Smith gegen Ende einen Stick verlor, noch lachen und improvisieren, und darum geht es ja – war doch ein schöner Schluss für das 5. unerhört!, oder?

(Jazzthetik)

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