Jürg Wickihalder

METHOD-ACTING FÜR DEN STANDPUNKT

Jürg Wickihalder ist einer der derzeit talentiertesten und umtriebigsten jungen Musiker aus der Schweizer Jazzszene. Der in Zürich lebende Sopransaxofonist hat vor kurzem mit „A Feeling for Someone“ ein unglaublich an- und viel versprechendes Debut vorgelegt, auf dem er acht seiner Kompositionen mit dem ebenso begabten wie jungen Zürcher Pianisten Chris Wiesendanger interpretiert. Der auch klassisch versierte Wiesendanger, der für seine Fähigkeit zur konzentrierten Poesie bekannt ist und der auch auf dem Frauenfelder Jazzfestival 2006 solo ungemein überzeugen konnte, ist für die einzigartige lyrische Klarheit und den prägnanten logischen Impressionismus, durch den Wickihalders Kompositionen ausgezeichnet sind, ein kongenialer Partner. Eine Reise nach Zürich gibt Aufschluss darüber, wie dieses Schweizer Uhrwerk tickt.

Das Duo

Über Musik sollte gesprochen werden, weniger über Mythen. Wickihalder, der in Glarus im Glarner Land aufwuchs, hat nicht nur in Luzern bei Urs Leimgruber, sondern auch eine kurze aber intensive Zeit in Paris bei Steve Lacy privat studiert. Diese Erwähnung ist so interessant wie nahe liegend und auch als Hintergrundfolie für die Genealogie seines Spiels sinnvoll, jedoch ist diese Geschichte für Wickihalder abgeschlossen. Daher springen wir direkt in das Album, um nicht zuletzt auch den enorm wichtigen musikalischen Part Wiesendangers zu betonen. Wie kam Wickihalder, der seit dem dreizehnten Lebensjahr ausschließlich Sopran und dieses seit dem achtzehnten professionell spielt, darauf, sein Debut mit einer expliziten Piano-Kombination zu geben?

Diese Kompositionen sind extrem klare Stücke, die im Duo mit Chris einfach am besten zur Geltung kommen. Das Team Sopran-Klavier mag ich sehr gerne, habe es aber noch nie zuvor aufgenommen, weil es einfach so schwierig ist, aus unendlich vielen Gründen. Zum Beispiel: das Register vom Sopransax ist oft genau im Register von der rechten Hand des Klaviers und man kommt sich extrem schnell in die Quere. Hör mal, wie Mal Waldron Lacy begleitet hat: er spielt ganz konsequent in den Registern. Ich habe schon mit diversen Pianisten gespielt, aber Chris hat einen anderen Weg gefunden. Er hat ein unglaubliches Ohr, und so muss er dann nicht in der tiefen Lage spielen, stattdessen stützt er immer und spielt nicht quer.“

Die Musiker haben sich erst vor 5 Jahren in Zürich kennen gelernt. Sie spielten in größeren Projekten zusammen, in denen bereits erste Funken schlugen, und nach zwei Duo-Sessions war die Wellenlänge bestätigt.

Chris hat dazu eine große Affinität zum Sopransax, denn er hat es zuerst auch mal versucht. Was mich bei diesen Komposition interessiert: sie sind sehr einfach, liedhaft, gesanglich und klar, und du kommst sofort in dieses Feld von „weniger ist schwierig“, denn alles, was du spielst, steht dermaßen nackt im Raum. Einerseits macht Chris schon die Begleitung, denn die Kompositionen und Arrangements sind von mir, andererseits beträgt sein Anteil soviel mehr, denn viele Sachen sind von ihm. Ich wusste ziemlich genau, wie ich das Ding haben möchte, und meine Vorgaben waren klar. Ich beschäftige mich solange mit etwas, bis es ein Teil von mir ist. Aber der wirkliche Akt der Kreation, das Assoziative, der Funke, muss auch vom Bauch kommen. Bei Spaziergängen sprudelt es dann manchmal regelrecht aus mir heraus.“

Wie spielt sich Lady Macbeth?

Das Album bildet einen Zusammenhang zu erlebten Geschichten und gelebter Geschichte Jürg Wickihalders, der Bezug der einzelnen Songs zu biografischen Szenen indes hat sich für ihn erst im Nachhinein ergeben und war in keiner Weise vorhergeplant. Um was geht es im Einzelnen?

The Last Breath“ steht sehr in Verbindung mit Lacy, aber er hätte nie so eine Komposition geschrieben. Es ist also eine Erinnerung, ein Bild, eine konkrete Situation, die ich damit verbinde. „The Sun“ steht für Charlie Parker: sehr verspielt und glücklich, voller Lebensfreude und auch Witz. Bezeichnend auch diese chromatischen Be-Bop-Linien. „The Coach“ bezieht sich auf Ellington. Ich habe einst einen Film gesehen, wie die Ellington-Band durch die USA tourte, das Stück ist eine Filmmusik für diesen Tourbus. Bei „Ridge Dancers“ ist Ornette Coleman der Bezugspunkt. Er ist für mich etwas Mysteriöses, auch seine harmolodische Theorie, von der niemand so genau weiß, was es ist. Klar, es geht um die Gleichberechtigung von Harmonie, Melodie und Rhythmus, das ist darin enthalten. Aber wenn ich „Prime Time“ höre … ich liebe diese Band, sie ist ein wunderbares Beispiel für Gleichberechtigung. Das funktioniert! Vom Sound her hört man das vor allem auf „Virgin Beauty“, es hat etwas Verzaubertes. Die Spieler sind hier keine Gratwanderer, sondern Grat-Tänzer, denen es darum geht, diese Gleichberechtigung zu behalten. „Autumn Child“ – Miles Davis. Als ich aus den USA kam habe ich ein halbes Jahr in Paris gelebt. Mit „Ascenseur pour l’ échafaud“ im Ohr bin ich stundelang durch Paris spaziert. Ich war jung und habe diese Musik Tag und Nacht gehört. Dieses Stück habe ich für diese Zeit geschrieben. Bei „Apology“ ist Stan Getz der Fokus, dieses Lied hat mich einfach extrem an ihn erinnert. Eine intime und liebe Entschuldigung für Dinge, die schief gelaufen sind. „Caring“ schließlich ist Coltrane: er ist für mich die Verkörperung von Liebe durch die Musik. Wenn ich den späten Coltrane höre, berührt mich das so, das ich immer das gleiche Bild von einem Mann sehe, der mit wahnsinnigen großen Armen da steht und dich einschließt. Liebe pur. Und: sich um etwas kümmern.“

Das Album besteht fast nur aus Balladen und ist sehr persönlich, aber es wirkt sehr universell, kohärent, klar und bestimmt. Auf eine bestimmte Art und Weise ist es Method-Acting. Wir sprechen über die Callas, als sie einst an der Julliard-School höchst intensiv Stunden gegeben hat. Wickihalder hat letztens in Basel das Stück „Meisterklasse“ gesehen, in dem Nikola Weisse die Diva spielt. „Es ist die faszinierende Einstellung: Wie spielt sich Lady Macbeth?“, sagt er, der auch oft als Musiker im Theater gearbeitet hat und sich auch in seinen neuen Kompositionen in die jeweiligen Rollen hineingearbeitet hat, eher unbewusst denn konzeptionell. „Musiker können von Schauspielern viel lernen. Dies hier sind kleine Episoden aus meinem Leben, die wie ein Film von mir sind.“

Dass die Platte so intim geworden ist, hat Wickihalder dabei nicht forciert. Aber doch ist es ein Zyklus geworden, und wie hat er sich letztlich geschlossen? „Ich komponiere relativ schnell. Habe mich zurückgezogen, in einem Monat geschrieben und arrangiert, und dieses Material blieb letztlich übrig. Ich bin nicht hergegangen und gesagt: ich mache jetzt ein persönliches Album von Dingen aus meinem Leben. Es gab nur zwei Vorgaben: der Intuition zu folgen und ehrlich zu bleiben.“ Wahrscheinlich gerade deshalb wirkt die Musik letztlich so authentisch, überzeugend und unaufgesetzt.

Das Ding muss kochen!

Doch Jürg Wickihalder ist nach wie vor in unterschiedlichen Projekten aktiv, so beispielsweise als regelmäßiger Spieler bei Omri Ziegeles Zürcher Improv-Institution „Billiger Bauer“ oder aber auch auf der Suche nach dem Groove mit „Marco Käppeli and the Even Odds“. Was ist das Wichtigste beim Spielen überhaupt? „Jedes Projekt ist unterschiedlich, aber eines ist gleich: Konzentrieren – und versuchen, das im Konzert wieder loszulassen. Das ist bei allen Projekten gleich. Sich mit dem Selbstbewusstsein und der Lockerheit hinstellen und vertrauen, dass das Wichtige schon hier ist. Das ist der Grund, warum die Musik, die wir machen, so viel mit Erfahrung zu tun hat. Die jungen Kids können das im Jazz oft noch nicht haben.“ Ob große oder kleine Formationen ist Wickihalder dafür egal, seine Bedingung ist: „Die Projekte müssen leben: Das Ding muss einfach kochen! Wenn Du solo spielst, spielst Du ja auch nie alleine.“

In Zukunft interessieren ihn vor allem die Ensembles, die seine Musik spielen, gleich, ob frei oder melodiös. „Ich bin nicht der Free-Jazzer oder der melodiöse Jazzer“, sagt er, dabei müsste ihm bewusst sein, dass viele Leute, die mit „A Feeling for Someone“ zum ersten Mal von ihm hören, ihn vor allem mit einem melodiösen und lyrischen Stil verbinden. Dabei macht er noch einiges anderes:

nächstes Jahr kommt auf ‚Intakt’ das Debut seines „Overseas Jazz Quartet“ heraus. Die Mitspieler sind alte Bekannte aus der Bostoner Studienzeit um 1996, zu denen er länger den Faden verloren, aber nie ganz durchgeschnitten hatte. Mit Bassist Mark Zubek spielte er schon während des Studiums in der Funk-Off-Rythm-Band „B-Connection“. Der versierte Multiinstrumentalist Zubek hat mit vielen erstklassigen Profis gespielt, sein Bruder Kevin als Drummer des Quartetts hingegen ist Autodidakt und Protagonist der freien NY-Lower-East-Side Szene um John Zorn und William Parker. Altsaxer und Bassklarinettist Achille Succi aus Modena schließlich war nur ein halbes Jahr in Boston, aber die Verbindung stimmte. Nach dem Studium indes verloren sich die Musiker komplett aus den Augen und verfolgten unterschiedlichste Lebensläufe: Mark Zubek stürzte privat in harte Zeiten, Succi hingegen gründete in Italien eine Familie. Wickihalder aber wollte dieses Quartett mit genau diesen Leuten: 2007 trieb er in New York die Zubek-Brüder wieder auf, jammte die alten Energien zusammen und besuchte danach Succi in Italien. Die Vier probten schließlich – die Schweizer Jazz-Förderung machte es einmal mehr möglich – zwei Tage in Zürich und spielten anschließend auf volles Risiko mit gutem Erfolg auf dem „jazznojazz“ 2007. „Ich bin sehr glücklich mit dieser Band, sie ist genauso wie ich es wollte: einen wilden chaotischen Haufen, der aber nicht free spielt, sondern Kompositionen als unprätentiöse und verspielte Gang präsentiert.“ Die Logistik dieser Band ist natürlich extrem schwierig und ohne Schweizer Förderung, so Wickihalder, auch gar nicht zu bewältigen. „Es ist keine working Band, ganz klar, wir arbeiten über Distanzen. Aber die Jungs hören sich das an und sind extrem gut vorbereitet, und wenn wir uns treffen, ist es auf dem Punkt.“

Da ist Chaos, und Du tönst so klar und einfach

Jürg Wickihalder ist ein Musiker, der gegenwärtig auf höchstem Niveau auf dem Weg ist und der es einfach wissen will. Seine Herangehensweise ist dabei ebenso von Intuition wie von Logik geprägt, wobei er sich letztlich noch sehr auf die gesetzmäßige Vernunft der jeweiligen Genres verlässt. „Gute Kunst oder Musik lässt sich am Ende vielleicht auf ganz wenige Gesetzmäßigkeiten zurückführen, und diese herauszufinden, finde ich sehr spannend Ich beobachte, dass ich als Musiker am Ende oft sehr analytisch arbeite, um diese Bausteine herauszufinden. Das interessiert mich! Wenn ich frei spiele, muss ich mir das oft ganz bewusst sagen! Du kannst so viel besser verstehen, warum du mal nicht so gut spielst, wenn du die Gesetzmäßigkeiten kennst, die in diesem Genre funktionieren oder eben auch nicht.“

Aber verbindet und transformiert gute Kunst die Genres nicht letztlich, vor allem, wenn man melodiös UND frei spielen will? Vielleicht ist diesbezüglich der alte Lehrer Lacy doch noch ein diskursiver Ansatzpunkt: er hat melodiös und lyrisch gespielt und sich gleichsam dermaßen frei geöffnet. Hier kommt Wickihalder ins längere Überlegen. „Es stimmt, Lacy hat es immer zum Klingen gebracht, er war einfach zur Musik geboren. Ich dagegen muss noch den Schalter umlegen, ich bin noch zu jung. Ich muss mir noch gewisse Dinge überlegen. Ich hoffe fest, dass irgendwann der Punkt kommt, wo ich nur noch reingehe und spiele, aber ich bin noch nicht so weit. Momentan kann ich die Musik noch in drei Welten unterteilen: eine diatonisch – zu der ganz klar das Duo gehört -, eine modale und eine freie Welt. Das sind im Moment die drei Bereiche. Harmonie, Rythmus, Form – und Melodie. In jeder Welt sind die Gesetzmäßigkeiten und Gewichtungen anders. Als Saxofonist sehe ich mich immer als Melodieinstrumentalist, und in diesem Projekt kann man das sehr gut nachverfolgen. Im Moment steht für mich die Melodie im Mittelpunkt.“

Jürg Wickihalder betreibt mit seiner Musik existenzielle Standortbestimmung. Er muss wissen, wo er sich gerade befindet, sagt er, sonst verliere er sich. „Die Analyse sucht die Klarheit: ich schäle das Material bis auf die Knochen. Da ist Chaos, und Du tönst dann so klar und einfach.“ Und das inmitten aller Poesie, inmitten von Witz, Bewegung, Leben und Liebe. Diese existenzielle Suche nach Klarheit und Logik erinnert auch an Monk, und Wickihalder, der mit Irène Schweizer auch Monk interpretiert, stimmt dem sofort zu. „Ich bin schon ein Suchender.“ Und, wie Lacy, auch ein Getriebener. Der eigene Standort ist gültig im Hier und Jetzt, aber nur dort, denn der Kompass muss stets neu ausgerichtet werden.

Jürg Wickihalder – Chris Wiesendanger: „A Feeling for Someone“ ist auf Intakt erschienen.

www.juerg-wickihalder.ch

(Jazzthetik)

Schreibe einen Kommentar