Progress, Regress und utopischer Schein

EINE WOCHE ERLEBTE IMPROVISIERTE MUSIK IN ZÜRICH

Manchmal widerfährt einem folgendes: kritische Geister, die sich in aller Liebe und Komplexität an Staat und Gesellschaft abarbeiten, machen am kulturellen Ausdruck, im speziellen zum Beispiel populärer Musik, gerne schon mal Halt. Hier will selten jemand gefordert werden, denn Musik ist schließlich zum Entspannen da. Doch ist Kultur, es sollte bekannt sein, eben nicht dieser herrschaftsfreie Chill-Out-Raum, sondern gerade hier lassen sich die falschen Verbindungen, bewussten Verblendungen und die fahrlässigen wie zulässigen Projektionen besonders gut ablesen. Ein wacher Blick ist nötig, um die unzähligen Projektionen des Pop-Paradigmas zu entschleiern und auf abgestandenes Pathos und schale Selbstbeweihräucherung zu überprüfen. Doch gibt es nicht auch jene kulturellen Momente, aus denen sich ein kritisches Bewusstsein neu formulieren kann? Ich frage mich dies angesichts der seltsamen Erfahrung, dass politisch hellwache Menschen zwar Komplexität oftmals denken, aber oft genug einfach nicht hören wollen (und vielleicht oft auch nicht können, aber das ist ein anderes Problem, nämlich das der strukturellen Verbreitung). Doch was ist alle Analyse und Reflektion ohne deren Überschreitung ins Konkrete? Nur knapp eine Woche zu Gast in dieser Stadt bin ich hier, um den Spuren der frei improvisierenden Musik in Zürich zu folgen. Und wohin kommt man da?

Mittwoch der 7.Mai: im Moods präsentiert Lucas Niggli seine erweiterte Formation Big Zoom, an diesem Spielort, wo vor zwei Jahren, so sagte mir Irene Schweizer, die hiesige große Pionierin der freien Musik, eine lokale Reflexion der Zürcher Szene noch nicht vorurteilsfrei möglich war. Big Zoom erweist sich nun als ein Nukleus der inzwischen stattgefundenen Veränderung: die Band bietet ihre Energie in Höchstform dar und teilt sie mit rund 150 begeisterten Leuten, die durch die Taufe der beiden neuen Zoom-CDs (auf Intakt) ein Konzert der Extraklasse erleben. Die Musik überzeugt durch eine Komplexität und Abstraktion, die geradezu atmet und rollt. Auf die gelassenste Art nimmt der Fünfer das Publikum auf musikalische Höhenflüge mit, virtuoser Selbstzweck ist das nie. Alles ist komponiert und gesetzt, und doch spielt die Gruppe so frei und in einem lustvoll bis ins Reflexive changierendem Spielfluss auf, dass zu keiner Zeit der Eindruck von Steifheit und Gesetztheit aufkommt. Und wieder frage ich mich: ist dieses Spiel nicht ein Modell für den möglichen Ernst und führt es dann nicht darüber hinaus? Niggli kann sich derzeit nicht beklagen: eine große Tour durch den deutschsprachigen Raum oder ein Trio mit den Altmeistern Barry Guy und Jacques Demierre markieren seine zunehmende Wertschätzung und internationale Anerkennung. Sicher freut ihn das, aber in seiner unnachahmlichen Art bleibt er auf dem (Zürcher) Boden. Vielen hier gilt er bereits als „Star“ der jungen avancierten Schweizer-Improv-Szene, aber diese Kategorien greifen einfach nicht bei einer Musik, die ihrem Selbstverständnis her auf Star-Mechanismen verzichtet und die in der Öffentlichkeit immer noch sehr oft marginalisiert wahrgenommen wird. Doch die Leute kommen. Und die Wahrnehmung wächst.

Donnerstagabend der 8. Mai: das vollbesetzte Zürcher Stadthaus brummt vor sich hin. Ca. 300 Besucher erwarten in der bestuhlten Halle die Eröffnung der Ausstellung „Jazzstadt Zürich“. Draußen herrscht schwüle Hitze, die Kleidung klebt am Körper. Das Thema ist, so scheint es, mitten in der Gesellschaft angekommen – ist es das? Klar ist: Jazz muss nicht mehr durchgesetzt werden, ist längst zur öffentlichen Repräsentationsmusik geworden. Das spiegelt sich auch im Publikum wieder, das gut und zufrieden in die Jahre gekommen ist, junge Leute sind dagegen kaum zu sehen. Stadtpräsident Ledergerber gibt die joviale coole Katze, und offensichtlich hat die Stadt erkannt, dass ein ehemals verpönter kultureller Ausdruck, wie es Jazz vor Dekaden mal war, heute hochoffizieller Standortfaktor ist. Zürich erlaubt sich heute einen großzügigen Blick auf den Jazz und bietet ein entspanntes Verhältnis. Doch die Schärfe und Kontur des Ausdrucks weicht auch in dieser Präsentation, wie könnte es bei repräsentativen Verlautbarungen auch anders sein, gerne einer seichten Lust am Nostalgischen, über die sich mitunter prima schmunzeln, manchmal gar staunen lässt – mehr aber auch nicht. Ein interessanter Vergleich: im Sommer 2002 gönnte sich die Stadt Düsseldorf eine Ausstellung zum lange ungeliebten schmuddeligen Punk und der dort mitentstandenen Neuen Deutschen Welle, die heute längst museumsfähig geworden ist. Die Wirtschaftsstadt fand im einstigen Drecknroll tatsächlich Akzente, mit denen sich Dekaden später gut für die angebliche kulturelle Aktivität und Offenheit werben ließ, und öffnete doch nur einer Eigenmythisierung weit die Tür, wo in realiter im Kulturbereich weggespart und gestrichen wurde, was nur gerade geht. Davon scheint Zürich (noch?) weit entfernt, und im Stadthaus herrschte eitel Swing und Sonnenschein. Gemäßigt kritische Worte allein von Musiker Dieter Ulrich, der für Alltag plädierte und eine nötige Demythisierung von Kulturschaffenden anregte, denn, was Wunder, JazzmusikerInnen sind auch nur Menschen, haben einen Alltag und müssen doch tatsächlich arbeiten, um ihr Überleben zu sichern. Und zumindest Juliana Müller als Leiterin Ressort Jazz, Rock und Pop erinnerte daran, dass, eigentlich unvorstellbar, der Jazz in Zürich erst seit Anfang der 80er Jahre subventioniert wurde. Dann gab’s Musik. Leider feierte die Stadt Zürich ihren Jazz mittels biederem Bilderbuchswing, der in seiner musealen Harmlosigkeit für ein Kurhausprogramm sicherlich bestens geeignet ist, aber keineswegs als Ausdruck einer lebendigen, intensiven und spannenden Kultur, der so vorsorglich sämtliche potenzielle Schärfe genommen wurde. Die hausbackene Musik des Zürich Jazz Orchestra war ohrenfälliges Beispiel dafür, dass bei aller Liebe zum Jazz einige Kontexte desselben offenbar noch nicht ganz verarbeitet und einverleibt worden waren. Wie ist es sonst erklärbar, dass die Ausstellung im Untertitel den Bogen „Von Louis Armstrong bis zum Zürich Jazz Orchestra“ spannen kann, worin sich beim besten Willen keinen Fort-, sondern vielmehr einen Rückschritt erkennen lässt. Wäre es da nicht sinnvoller gewesen, den „Billigen Bauer“, die Hausband der WIM (Werkstatt für Improvisierte Musik), immerhin auch eine Bigband, aufspielen zu lassen, was nicht nur den avancierten State-Of-The-Jazz-Art-Stil der Stadt, sondern vor allem auch die Intensität und Spielstärke des Jazz ungleich besser repräsentiert hätte als ein sattsam bekannter Bastelbogenswing? Immerhin, die ausgestellte Zürcher Jazz-Historisierung ist insofern korrekt, dass verdiente alte AktivistInnen eine späte und unpathetische Würdigung erfahren, und dass darüber hinaus vor allem die wichtigen kulturellen Kräfte des Jazz bzw. der freien und improvisierten Musikszene, die auch heute noch gerade jene Akzente setzen, die auch außerhalb der Stadt wahrgenommen und gefeiert werden, ihre exponierten Plätze erhalten, allen voran in der Person von Irene Schweizer, die auch das offizielle Plakatmotiv darstellt, wie natürlich auch Fabrikjazz/Taktlos, die WIM oder Intakt-Records, die mit eigenen Vitrinen vertreten sind. Die offizielle Zürcher Jazz-Präsentation gibt mit dem Mix aus nostalgischer Biederkeit und störrischem Innovationswillen somit kein verfälschendes, aber auf alle Fälle zwiespältiges Abbild auf ein musikalisches Phänomen frei, dessen aktuelle Widersprüche auszuloten sehr lehrreich sein kann. Und der mitunter obskure Vibe von Regress, mit dem eine Musikform hier gefeiert, ja geradezu instrumentalisiert wird, stellt die Frage, inwiefern Jazz (und seine erweiterten Formen) in Zürich Repräsentationskultur werden will und kann, oder wie die Musik ihre gegenkulturelle und subversiv-integrative Kraft noch erhalten kann. Das Publikum im Stadthaus kräftigte sich hingegen vor allem beim Apero. Endlich bricht der Himmel auf, und Blitz, Donner und Hagel schlagen auf die Stadt nieder.

Doch am Wochenende vom 9. bis zum 11. Mai dann zeigt sich mit dem 20. Taktlos-Festival in der Roten Fabrik, dass Jazz eigentlich nur noch am Rande interessiert. 20 Jahre kontinuierlicher Einsatz für und hochqualitative Arbeit im Bereich der frei improvisierenden Musik und ihrer Grenzbereiche haben hier ein immer noch lebendiges und hochspannendes Forum für diese Musikform geschaffen. Die Frage nach Jazz als staatlicher Repräsentationskultur ist hier zunächst einmal unrelevant, interessanter ist da schon die Frage, inwieweit improvisierte Musik durch ihre oft unhierarchische Struktur und den zwischen Spontanität und Struktur bestimmten Gestus immer noch jenen oft nachgesagten politischen Gestus abbildet, oder ob aus diesem gar ein beispielhafter utopischer Schein leuchten kann. Das dachte ich mir, völlig bodenverhaftet, angesichts der dunklen Bühne. Die Musik des Taktlos stand erneut im Zeichen der bewussten Kontraste: Sinnlichkeit korrespondierte mit Formstrenge, eine filigrane Struktur mit deren lustvoller, bisweilen schroffer Überschreitung, und es kristallisierte sich jene atmende Dialektik heraus, die sich im Zusammenspiel kontinuierlich selbst erarbeitet und erschafft. Das Taktlos zeigte brennpunktgleich, was noch alles drin und möglich ist in der frei improvisierenden Musik, beispielhaft an dem vom New Yorker Downtown-Aktivisten Elliott Sharp geleiteten 12köpfigen musikalischen Kollektiv, das in einer 90minütigen Improvisation das Publikum forderte und mehrmals auf seine Seite holte. Da war es wieder möglich: Musik als kulturelles und soziales Experimentierfeld und bewegtes und komplexes Netz, in dem Widersprüche und plötzliche Brüche nicht kaschiert oder vermieden, sondern ausgelebt, enggeführt und innerhalb eines kollektiven Korpus transformiert und verständlich gemacht werden. Die Momente, die packen, haben im Nachhinein die größte Erkenntnis inne. Da kann nicht immer alles wohlgeformt sein, denn Abstürze und auch Hänger gehören dazu, in der Musik wie im Alltag, dachte ich angesichts dieser strukturierten wie kraftvollen Energie auf der Rote-Fabrik-Bühne. Das anerkennen, mit Energie erneut überwinden, die Komplexität nicht vermeiden, sondern sich gerade darauf einlassen, die Widersprüche suchen und ihnen eigenes Leben geben.

und

fertig.

und nicht.

(WOZ Zürich)

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