To Rococo Rot

GEIST HAT HUNGER

Mit unscheinbarer Präsenz und einer sehr bewussten Arbeitsweise produzieren to rococo rot Audio, das tatsächlich über die Zeit imstande ist, sie selbst bei allen konzeptionellen Vorgaben und intensiven Vorbereitungen noch zu überraschen. Das Trio aus Düsseldorf und Berlin entwickelte über die Jahre eine interessante Schnittstelle aus Band- und Projektmusik mit fast immer ansprechenden Ergebnissen, deren deutliche Unaufdringlichkeit eine sachliche Autorität innehat. Prätentiös, elitistisch und theorieüberlastet ist diese Arbeit keineswegs, sie artikuliert sich vielmehr in Zusammenhängen und bewegt sich sicher durch verschiedenartigste Terrains zeitgenössischer Musikformen. Was to rococo rot dabei mögen: Konzentration und erweiterte Transformation. Was to rococo rot dabei nicht mögen: Beliebigkeit und Unentschlossenheit.

Das Projekt nahm seinen Anfang 1995, als die Gebrüder Robert und Ronald Lippok eine Ausstellung in einer Berliner Galerie hatten, die auch Klanginstallationen enthielt. Robert hatte Stefan Schneider, damals noch Bassist bei Kreidler, ein halbes Jahr vorher bei einem Auftritt der Band kennengelernt. Die Lippoks arbeiteten derzeit noch in der ca. 10-köpfigen Gruppe „Ornament und Verbrechen“ (nach dem Text von Adolf Loos), deren Kern sie bildeten. Die Gruppe zeichnete sich durch die Vermischung von Musikstilen – zwischen Jazz und Acidhouse – aus. Der Lippoksche Musikbackground war damals „eher Punk, New Wave, Avantgarde“, so Robert. Punk – tatsächlich: die Befreiung, der Impuls, Musik einfach selbst zu machen. Die Anfänge von to rococo rot liegen dann zwischen dem eher määnderndem und extrem konzeptionellem Ausprobieren von individuellen Tonsprachen, die in einer Zeit auf einen gemeinsamen Gruppennenner gebracht wurden, in dem Bandmusik durch die Omnipräsenz elektronischer Musik und dem Potenzial, dass damals noch der DJ-Kultur zugesprochen wurde, eher verpönt war. „Es war damals eine bewusste Entscheidung, in die Musikindustrie hineinzugehen und den Entstehungsprozess einer Platte und auch die Routine der Vermarktung einmal zu testen“, so Robert. Die erste Platte kam tatsächlich kurz vor der kreidlerschen „Weekend“ heraus, und über die Zeit zeigte sich, so Stefan Schneider, einfach auch eine unangestrengtere Entwicklung als bei seinem Düsseldorfer Projekt. „Bei to rococo rot war ich vor allem von dem Vertrauen begeistert, dass die anderen sofort in die eigene Idee setzten, auch wenn diese noch gar nicht so ausgereift und klar entwickelt worden war.“ Die Arbeit bei Kreidler war dahingegen viel klarer dadurch bestimmt, was man durfte und was nicht, was durchaus auch zu guten Resultaten führte. Das Projekt to rococo rot jedoch bezeichnet Schneider letztlich als „offener“, nichtzuletzt auch durch die nichtfestgelegte Verteilung der Instrumente. „Offen“ meint hier nicht einen schwammigen Prozess, der nachher nurmehr ein Flickenteppich ist, sondern ein durchaus konzentriert herausgearbeitetes Ergebnis. Dass to rococo rot-Audio auch äusserst konzentriert sein kann, zeigte schon der Schritt zum 97er Album „Veiculo“, einer erweiterten Lesart von Minimaltechno und auch Breakbeats in einem zeitgemässem Bandkontext. Die Erweiterung dieses Terrains zeigt sich auch durch die temporäre Einbeziehung von anderen Musikern wie Darryl Moore auf dem Minialbum „TRRD“ von 1998, Alexander Balanescu auf der aktuellen Platte „Music Is AHungryGhost“ oder eben dem New Yorker DJ I-Sound, wodurch die Band dann hier tatsächlich aus vier Leuten besteht. Wie produziert sich dieses Projekt? Nicht in einem eigenem Studio, sondern stets aus den verschiedensten Situationen heraus. Die neue Platte entstand zum grossen Teil im Studio von „Tarwater“ – Roberts Projekt mit Bernd Jestram -, wurde dann aber per Powerbook und extra gekauften guten Boxen in einer komplett leeren Wohnung – „wirklich nur Böcke, eine Tischplatte und drei Stühle“, so Robert lapidar -, die sie für eine Woche von einem Berliner Freund angemietet hatten, gemixt. Alte und neue Technologien sind für diesen Prozess vorher vermischt worden, so auch der Atari, den sich Robert letztens erst wieder zugelegt hat. „Man wird ihn nicht hören, aber er ist da“ – die Implementierung der Audiobestandteile geschieht eben sachlich und selbstverständlich. Trotzdem müssen wir lachen. Da ist es wieder, dieses schon die Arbeit von „Kreidler“ bestimmende Wort“: sachlich. Und doch ist etwas an Arbeitsweise und Ergebnis von to rococo rot auf eine sehr ernsthafte und sympathische Weise „unsachlich“.

Wer ist DJ I-Sound? Kennengelernt hat ihn die Gruppe vor drei Jahren während ihrer US-Tour, als er in New York inmitten von urlangsamen wie – langweiligen, oft mit Akustikgitarre agierenden Post-Irgendwas-Bands, die mit to rococo rot auf die Giglist gesetzt wurden, mit einem hyperaktivem und energetischem Cut-Up aus HipHop, Dancehall, Musique Concrete und Techno für das Trio die Sonne aufgehen liess. Am nächsten Tag besuchten sie ihn auf seiner Arbeitsstelle, einem Plattenladen, und luden ihn, der noch nie zuvor in Europa gewesen war, nach Berlin ein. Schon auf dem nächstem Album „The Amateur View“ gab es auf dem Track „A little asphalt here and there“ eine Zusammenarbeit mit ihm, die nun auf „Music Is a Hungry Ghost“ ausgebaut und verfestigt wurde. Man schickte sich, wie üblich, die files über den Ozean und erwartete geduldig die Vorschläge des Anderen. I-Sound kam dann in den zweieinhalb Jahren Produktionszeit mehrere Male mit vorproduzierten Tracks und einem präpariertem Casio nach Berlin. Vor allem für die Rythmik ergab sich daraus Interessantes, da viele von ihm vorproduzierten Sachen oft kein metrisches Mass mehr hatten, das in 4er oder 6er aufteilbar ist, und auch kein Frequenzbild, das eine Bassdrum oder eine Hi-Hat abbildet, sondern Sachen, die dazwischen lagen. Das war vor allem für Ronald Lippok interessant, da dieser auf der neuen Platte kein Schlagzeug spielt, sondern mit perkussiven Elementen darauf reagieren konnte. „Die Rythmik wurde durch I-Sound erweitert und offen gehalten“, bestätigt die Gruppe. Aspekte, die für das musikalische Gefüge der Band durchaus bezeichnend sind, wie eine unaufdringliche Hypnotik, die mitunter nüchtern-psychedelische Implikationen erreichen kann, werden dadurch organisch gebrochen und auf künstliche Weise wieder geflickt. Der Geist ist hungrig, denn die Seele trägt Narben. Das Thema „Pop“ ist auf der „Amateur View“-Platte zudem abgearbeitet worden, so dass hier das Feld wieder offen ist – in jener spezifischen Bedeutung, die Konzentration und Transformation auf konkrete Ziele zulässt. Ziele allerdings, die der Band, wie Stefan Schneider nüchtern-überrascht zugibt, mitunter erst lange nach der Produktion selbst deutlich werden.

Eine stilistische Verortung von to rococo rot angesichts der verschiedenartigen Musikkontexte, in denen sie verhandelt werden, fällt nicht leicht – gut so. Eindeutige Stilzuschreibungen haben sie natürlich immer schon genervt, differenziertes Multitasking in Hörerlebnissen war bei allen schon seit jeher die Regel, aktuelle Entwicklungen konnten dabei schon mal angesichts expliziter Vergangenheitsforschung in der Musikgeschichte der 70er oder 60er zurückstehen. Stefan Schneider: „In den letzten Jahren ist eine elektronische Musik entstanden, die sich zwischen Ambient und reiner Tanzmusik aufhält, eine europäische Elektronikmusik , die einen Zwischenraum behauptet, der vor 5-6 Jahren noch als Hybrid-Ding aufgefasst worden ist und sich nun als eine neue Form von populärer Musik herauskristallisiert hat, wo es auch keinen Sinn mehr macht, sich für eine Seite zu entscheiden. Und in so einer Musik würde ich uns am ehesten plaziert sehen.“ Schön gesehn – das ehemalige „Clubparadigma“ der elektronischen Musik existiert oftmals nurnoch in den Kriegstagebüchern ehemaliger Raver oder selbsternannter Autorisierter und ist allein schon durch die enorme Stildiversifizierung nurmehr von historischem Interesse. To rococo rot haben sich in der Vergangenheit auch dadurch profiliert, dass sie die Hörgewohnheiten und das Musikverständnis des Clubs mit selbstverständlicher Contenance in ihren musikalischen Alltag überführen konnten. „Wir haben eine Grenze innerhalb elektronischer Musik gesehen, die wir auch gerne verschieben wollten, aus unserem eigenen Verständnis heraus, dass wir die Musik also letztlich dorthin bringen wollten, wo sie auch passieren könnte“, bestätigt Schneider – und dass es durchaus andere Anknüpfungspunkte für elektronische Musik gab als die puristische Autorität einiger Danceaktivisten. Der strenge Zwang der Funktionalisierung innerhalb der Dancemusik war durchaus ein Bezugspunkz zur Parameterverschiebung, so Robert Lippok. Andere Plazierungsmöglickeiten für Musik suchen und innerhalb dessen Grenzen verschieben, so formuliert die Gruppe eine ihrer Hauptintentionen. Stichpunkt Improvisation: die schnelle Erfindung von Linien, Reaktion und Erweiterung des Kontextes ist eher nicht die Sache von to rococo rot. Vielmehr geht es um kleine Fragmente, die in den Computer getan werden, und dann entscheidet sich ziemlich schnell, was noch dazu kommt. Der Bausteincharakter charakterisiere die Musik der Gruppe eher. Jedoch klärt sich bald unser produktives Missverständnis: weniger die stundenlange määndernde Improvisation, aus der nachher die „besten Momente“ herausgeschnitten werden, meine ich, oder den „free spirit“, den Ornette Coleman und eine kollektive Gruppe beschwor, als vielmehr das Prinzip einer ganz bestimmten und letztlich ziemlich exakten Herangehensweise, die auch bei der reinen Studioarbeit letztlich Ergebnisse mit improvisatorischen Aspekten hervorrufen kann. So gesehen stimmt man mir sofort zu. Und eben dies ist die Besonderheit von to rococo rot, die sie von der bewusst-kühlen Sachlichkeit des reinen zirkulären Trackbauens immer ein Stück entfernt hält. Es gibt hier keine „do’s“ und „don’ts“, die ein Konzept vorschreibt oder verbietet, und auch wenn ein Track sehr genau vorbereitet wird, wird er nie ganz durchgeplant. So lässt sich auf Bausteine reagieren, und so entsteht letztlich auch der „ghost in the machine“, der Hunger hat und dies durch unvorhergesehene Referenzpunkte artikuliert.

Longplayer

To Rococo Rot (Kitty Yo / 1996 / 97)

Veiculo (City Slang 1997)

The Amateur View (City Slang 1999)

Music Is A Hungry Ghost (City Slang 2001)

Singles

Lips (City Slang 1997)

Paris 25 (City Slang 1997)

She understands the dynamics (Fat Cat 1998)

TRRD (Soul Static Sound / 1998)

Telema (City Slang 1999)

Cars (City Slang 2000)

7″ Single (Sub Pop 2000)

7″ Single (Soul Static Sound 2000)

plus diverse Remixe u.a. für Thomas Fehlmann, Mira Calix, T. Rex, Leftfield, Wolfgang Voigt

plus diverse Filmaudio (Vladimir Mushesky-Dokumentarfilm, Abdur Rehman’s Dokumentarfilm „No Ordinary Cowboy“)

plus diverse Klanginstallationen

(Jazzthetik)

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