Hans Hassler

SOLO AUS DEM GLÜCKSMOMENT

Von ‚Accordion Tribe’ bis zu Kimmo Pohjonen hat sich das Akkordeon als Instrument zwischen Jazz, World, Groove, Experiment und Improv längst einen herausragenden Klang machen können. Der Schweizer Godfather des freien Akkordeons indes heißt Hans Hassler. Volksmusiker, Virtuose, Grenzgänger, Kauz und Freigeist – eine soeben bei ‚Intakt’ erschienene CD dokumentiert zum ersten Mal das Solo-Spiel des wahren Schweizer Handorgel-Wizzards.

Immer etwas mehr

Hassler, der heute in Hagendorn im Kanton Zug lebt, wurde 1945 geboren und ist in Chur in einer traditionellen Volksmusikerfamilie unter Arbeiterverhältnissen aufgewachsen. Sein Vater arbeitete als Fahrer und spielte Kontrabass bei einer sehr guten und damals bekannten Ländlerkapelle, der Onkel spielte Handorgel. Mit Sieben bekam der kleine Hans sein erstes Akkordeon und schloss sich mangels Spielmöglichkeiten in Chur dem Orchester eines Musikhauses an. Schnell konnte er die Stücke auswendig und wollte weitergehen. Ein Chauffeurskollege des Vaters gab ihm Stunden, danach brachte er sich durch regelmäßiges Teilnehmen an Wetttbewerben, bei denen er auch mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder im Handorgelduo teilnahm, weiter. Dazu kamen Jam-Sessions mit den zahlreichen Live-Orchestern, die damals noch traditionell im Wirtshaus auftraten. „Der Club in Chur war damals wahrscheinlich der einzige Club, wo es das Ziel der Junioren war, bei den Senioren mitzumachen. Bei den Wettspielen habe ich eigentlich irgendwie immer gewonnen“, lacht Hassler heute. Es ergaben sich oft neue Kontakte, so kam die frühe Schweizer Handorgellegende Fritz Tschannen – ein sehr guter Spieler wie auch Skispringer – auf ihn zu, und eines Tages im Jahr 1956 führte der Vater den damaligen Akkordeon-Weltmeister Kurt Heusser ins Hinterzimmer, wo der 11jährige Hassler sich nach einem Auftritt erholte. Heusser war sehr angetan vom Spiel des Jungen und lud ihn umgehend in den Sommerferien nach St. Gallen ein. „Er wollte mich da behalten und wohl zum Weltmeister machen, aber die Familie wollte das nicht.“ Gleichsam erfuhr Hassler weitere Förderung, denn Heusser brachte ihm die Klassik nahe, anspruchsvollere Spielweisen und Volkstänze. Damals gab es noch nicht viel Originalliteratur für Akkordeon, und das Instrument wurde auch über die Volksmusik hinaus nicht weiter beachtet. Desweiteren tourte Hassler mit seinen zwei Brüdern als ‚Hassler Buebe’ durch die Ländlerszene. „Für die Volksmelodien brauchte ich keine Noten, ich habe es gehört und bin sofort eingestiegen. Einen guten Spieler gab’s noch in Chur, mit dem habe ich quasi gejammt und aus dem Moment heraus gespielt. Ich konnte einfach immer mitspielen, hatte immer persönlichen Kontakt mit der Musik. Im Radio liefen damals nur Ländler und Schlager, das ‚Andere’, das gab’s eigentlich nicht, das kam erst später.“ In den späten 50er Jahren hörte Hassler im Radio Ländlerkoryphäen wie den erst im Februar 2008 verstorbenen Klarinettisten Edi Bär oder auch den Klarinettisten und Akkordeonstimmer Jost Ribary, der damals jeden Abend im Restaurant Konkordia im Zürcher Niederdorf spielte. „Und es gab Bobby Zaugg, auch Akkordeon-Weltmeister! Mein Vater hat es arrangiert, dass wir zu ihm gefahren sind, das war Anfang der 60er. Vom Bobby hatte ich mir damals ein Stück aus dem Radio aufgenommen und selbst beigebracht. Einen Samstagnachmittag dann kam er zu uns nach Hause, und mein Bruder und ich haben ihm vorgespielt, und er hat gesagt: ohne Daumen geht es nicht. Das ist das Maximum, was man machen könne. Ab da habe ich immer auch mit dem Daumen gespielt. Ich wollte immer etwas mehr machen.“

Zwischen Technik, Klassik und Unterhaltung

Das Akkordeon gefiel Hassler, aber er spürte ebenso früh die Limitierung. Die Folge: mit 15 war das Instrument für ihn erschöpft. Wie hat er dann neue Horizonte kennen gelernt und wie hat sich das in die Musik transformiert?

Um mehr zu erfahren, spielte Hassler in der Knabenmusik Klarinette und Tambour. Das war schon ein Antrieb, in der Mittelschule kamen dann erste Kontakte mit Dixieland, später auch Klassik: Strawinsky, und dann vor allem Bach. Die barocke Fülle und vor allem die Chöre haben ihn schon sehr beeindruckt, es war definitiv ein Einstieg in eine andere musikalische Form. Um 1968 spielte er bei einem Wettspiel Bachs G-Dur-Toccata, eine Transkription. „Es klang wirklich überraschend, wenn man vom Schneewalzer kommt. Kommt man von der Kirchenorgel, sagt man vielleicht: Oh, ist das jetzt niedlich.“ Wichtig wurde ein weiterer musikalischer Lehrer: Hugo Noth, der zu der Zeit in Trossingen Akkordeon-Professor war. „Noth hat in einer Richtung weitergemacht, zu der ich später gekommen bin. Er steht eher für die Schule, die die Klassik transformiert. Ein sehr guter Spieler!“ Das kam zu einer Zeit, da Hassler sich bereits dem Studentenleben hingegeben hatte. 1964 wollte er eigentlich Elektroingenieur werden, doch bei einer Führung aller angehenden Maturanten missfielen ihm die frühen Aufsteh- und rigide festgelegten Arbeitszeiten. „Technik interessierte mich schon sehr, Musik auch: also Tonmeister.“ Es gab die Schule in Basel sowie in Zürich, wo ihm Tonmeister Klaus Koenig jedoch klarmachte: wenn du wirklich gut sein willst, musst du nach Detmold. Also meldete sich Hassler nach dem Militärdienst im Westfälischen an und machte zuvor in Zürich ein elektrotechnisches Praktikum. Für die Tonmeisterei lernte er auch Klavier, fünf Stunden am Tag. „Die Prüfung war im Oktober, es war April. Zwei Wochen vor der Prüfung habe ich noch gelernt, eine Melodie zu harmonisieren. Sie sagten mir, wenn ich das schaffte, sei ich ein Genie. Die Prüfung bestand ich. Wir waren 15, und da waren welche, die seit 10 Jahren Unterricht hatten. Es war Wahnsinn, wie ich mir das Instrument reinklopfte.“ Ab 1966 studierte Hassler dann in Zürich vier Semester Musikwissenschaften und Anglistik, aber da war er eigentlich kein richtiger Student, sagt er. „Ich bin von Chur gekommen, und an der Uni haben sie Abszenzenkontrolle geführt … bis15 Uhr, und ab da konnte man dann ins Kino oder wohin gehen. Das war ein Angebot, und das habe ich auch angenommen. Aber ich brauchte damals auch diese Freiheit.“ Unterhaltungsmusik hat er zu der Zeit immer noch gemacht, um Geld zu verdienen. So tourte er 1966 bis 1968 mit dem jodelnden Schlagersänger Peter Hinnen und dessen Hit ‚7000 Rinder’ durch alle möglichen Alpen-Festhütten. „Aber die klassische Musik kam immer mehr. Und dann habe ich in der Zeit das Akkordeon auch ein bisschen zur Seite gelegt, weil das Repertoire der Klassik soviel größer war. Trotzdem habe ich immer gespielt und 1969 an der Musikakademie Zürich auch noch das Klarinettenstudium begonnen. Doch mein Lehrer dort war von meinem Akkordeonspiel so beeindruckt, dass er mir anriet, das Instrument auf keinen Fall aufzugeben. Einfach weil mein Wesen da schon ein bisschen durchgebrochen ist: improvisieren konnte ich eigentlich schon immer, und das hat ihn glaube ich sehr beeindruckt. Ich hatte jedoch meine Zweifel.“

Spätzünder, Meteoriteneinschlag

Jazz war zu der Zeit kein wirkliches Thema für Hassler, außer Dixieland. „1972 kam ich wieder in die Zuger Gegend und spielte mit einer sehr guten Dixie-Band, dessen sehr guter Trompeter übrigens heute im Luzerner Sinfonieorchester spielt. Das war für mich etwas Neues: ich konnte mitspielen, ohne ständig auf den Solisten achten zu müssen.“ Später kamen dann Jazz-Aha-Erlebnisse aus dem Radio: „Gerry Mulligan and his Concert Jazz Band – My funny Valentine“ – das war ein Erlebnis! Ich glaube, ab da bin vom Dixieland weggekommen in andere Richtungen.“ Jazzmäßig war Hassler durchaus ein Spätzünder, Mitte der 70er waren Be- und Hard-Bop und erst recht Free Jazz immer noch weiße Flecken auf seiner Landkarte. „Dafür hörte ich die alten Helden wie King Oliver, und die bewundere ich immer noch.“ Durch die 70er spielte Hassler also weiter fleißig Dixie und Klarinette, ab 1974 ging es mit dem ‚Schanfigger Ländlerquintett’ sogar wieder konsequent in Richtung Bündner Volksmusik. Hassler machte schließlich die Diplome für Schulmusik und fing sehr früh an, zu lehren. Eigentlich zu viel, sagt er heute. Wieso? „Andere übten acht Stunden pro Tag, jetzt erst begreife ich das – jetzt würde ich auch anders üben. Ich habe damals sehr wenig geübt, weil ich recht viel unterrichtet habe.“ Allerdings hatte Hassler in der Musikschule auch die höchste Semesterrechnung, weil er sich einfach für alles interessierte, egal, ob Dirigieren, Kontrapunkt oder Schulgesang. Kontrabassunterricht nahm er auch noch. Bis in die 80er Jahre lebte Hassler so und lehrte auch viel privat. Doch dann gab es Anfang des Jahrzehnts einen Meteoriteneinschlag. „Ich hörte im Radio Mogens Ellegaard. Und deshalb bin ich jetzt eigentlich hier.“

Schlüsse, die alles umwerten

Der Däne haute Hassler „total um“ und beeinflusste ihn nachhaltig. Im Radio hatte er mit seiner Frau Marta Bene gespielt und damit Hassler eine völlig neue Welt eröffnet. „Es war etwas, wie ich es nie zuvor gehört hatte. 16tel auf dem Akkordeon, Tongebung, Dynamik, alles, was für Musik wirklich eine Rolle spielt, alles, was bei anderen Instrumenten so selbstverständlich ist, hatte Ellegaard für das Akkordeon ‚gestaltet’. Er spielte sehr virtuos, aber auch extrem expressiv und frei. Er ist als Akkordeonist zu vielen Komponisten gegangen und hat ihnen das Instrument erklärt, so dass sie Stücke dafür schrieben, und hat es auch in einer Fabrik in Italien immer mehr weiterentwickelt. Seine Rolle kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.“ Hassler fasste sich ein Herz und rief Ellegaard, der in Kopenhagen eine Professur hatte, an. Nicht nur, dass er ihn erreichte, er wurde sogar von ihm nach Südschweden eingeladen, wo Ellegaard damals noch lebte. „Ich bin zu ihm gefahren und er hat mir so viel mitgegeben, was ich nicht wusste. Er zeigte mir Instrumente und Literatur, die über die Transkriptionen hinausging. Mogens sagte, zu ihm kommen eigentlich nicht die Akkordeonisten, sondern die Musiker.“ Das bedeutete? „Die traditionellen Akkordeonisten sagen, das freie Spiel sei doch kein Akkordeonspiel mehr. Es gab – und gibt, glaube ich, immer noch – diese zwei Religionen beim Instrument. Was dann bei Mogens so eindrücklich war: Ich bin bei ihm zu Schlüssen gekommen, die alles umwerteten. Sie halfen mir, das Akkordeon als vollwertiges Instrument zu etablieren!“ Hassler, der zu dieser Zeit die skandinavische Tradition, z.B. die des finnischen Tangos, noch gar nicht kannte, hatte ein Akkordeon-Orchester bis dato für komplett unsinnig gehalten. „Aber Mogens und ich hatten dieselbe Wellenlänge. Er verstand meine Zweifel. Wir sind dann auch in ein Konzert von Elsbeth Moser gegangen, die lehrt aktuell noch in Hannover. Sie hat damals schon das Klavier durch das Akkordeon ersetzt – das war mir vorher nicht denkbar!“

Was ist die Liebe in der Hassliebe?

Das Akkordeon ist als ein vor allem mobiles Instrument im Industriezeitalter nicht zuletzt dazu erfunden worden, um das Orchester wegrationalisieren zu können – so muss man es auch einmal sehen. Die Ländlerkapellen wurden zunehmend aus den Tanzsäälen gefegt, und es gab nur noch einen Musiker, der alles Vorherige an Dynamik und Ausdrucksstärke ersetzen musste. Klar, dass da irgendetwas auf der Strecke bleibt. Hassler hat das eigene Instrument immer als Beschränkung empfunden, und tut das partiell auch heute noch. „Auch Ellegaard lebte diese künstlerische … nicht Hassliebe, aber Ambivalenz. Es ist einfach eine Schwäche des Instruments, die man nicht gerne hätte.“ Aber bei aller in diesem Rahmen möglichen Virtuosität kann man sprichwörtlich weitergehen. Hassler schätzt vor allem die Beweglichkeit des Instrumentes – man erinnere sich hier an die Szene in „Namibia Crossing“, in der er im Türrahmen eines sandzugewehten Hauses spielt – , doch durch das von Ellegaard mitentwickelte Konverter-, Manual 3- oder auch Einzelton-Akkordeon mit seinen mehrere Oktaven umfassenden Einzeltonmanual auf der Bassseite erfuhr er auch ganz neue ausdruckstechnische Möglichkeiten, die ihn immer mehr zum Prinzip ‚Freiheit’ führten. Er befand sich damals immer noch mitten zwischen den beiden „Religionen“: hier die ‚Hugo-Noth-Schule’ mit ihren klassischen Transkriptionen, im Frack und mit Cellisten inklusive der gesamten Gestik der Klassik wie ein Streichquartett auftretend, dort die Ländlerspieler, die ‚urtümlichen’, die von der Volksmusik kommend das Instrument unprätentiös ‚begreifen’ und, so sie sich denn weiter bewegen wollten, neue Techniken, Richtungen und Möglichkeiten angingen. Ellegaard half bei der Standortbestimmung. Er war strikt gegen das Spielen von Transkriptionen und wollte das Akkordeon als Volksinstrument begreifen und erneuern und infolgedessen konsequent neue Musik spielen. Dieses Bewusstsein eröffnete Hassler ein weites Feld. Er wurde offener Schüler des Dänen, merkte jedoch trotzdem bald, dass das Spektrum des Instruments eben doch begrenzt ist. „Es ist eben nicht dasselbe als wenn ein Klavier ein dreigestrichenes C spielt, es ist eben nicht derselbe Ton! Das Hohe, diese Brillanz, das kriegt man nicht hin! Und das Pedal beim Klavier – das hat man einfach nicht! In der ersten Euphorie habe ich bald gemerkt: es geht doch nicht alles so.“ Was bewog ihn trotzdem, dabeizubleiben und stur zu sein? „Vielleicht ist das Akkordeon tatsächlich eine Hassliebe, dass man es nicht beiseite legen kann. Es stört auch, dass man nur eine Lautstärke hat. Das Instrument ist noch nicht auf der Stufe vom Steinway. Vielleicht kommt noch etwas mit der Mechanik.“ Hassler spielt heute zwei Instrumente, die in der Qualität sehr unterschiedlich sind. Beide stammen ursprünglich von Ellegaard: ein russisches ‚Jupiter’, das ihm dieser für ca. 30.000 sfr verkaufte, und das ‚Mythos’, eine russisch-italienische Zusammenarbeit, die Ellegaard selbst bei Pigini entwickelt hatte. Nach seinem Tod 1995 durfte Hassler es von seiner Witwe erwerben. „Er hatte so viele gute Studenten in Dänemark, aber seine Frau sagte, ich müsste dieses Instrument haben. Es ist die Nr. 1, exklusiv für ihn gemacht. Eine große Ehre!“

Ab in die Improv-Szene

Ellegaard ist 1995 gestorben, und bis zu seinem Tod hatten er und Hassler stets regen Kontakt und immer wieder Austausch. „Er war so ein großartiger Mensch, ohne jegliche Allüren. Er selbst hat gar nicht soviel veröffentlicht, eine CD hat er rausgegeben. Und das kann man mit dem Klavier gar nicht mehr spielen!“ Hassler selbst hatte mittlerweile bei anderen Freigeistern angedockt: „Damals mit dem Habarigani-Projekt spürte ich, dass wir etwas anders spielen mussten. Für mich hieß das, eine Richtung mit dem Akkordeon zu spielen, wo man nie denkt: das müsste jetzt ein Klavier sein.“ Die Aufnahme von 1987 auf ‚hathut’, bei der Hassler auch Klarinette und Bassklarinette spielte, hat er lange nicht gehört und letztlich erst wiederentdeckt, und sie überzeugt ihn heute noch.

Es war Hans Kennels Projekt: dieser selbst als klar määndernder Trompeter, Flügelhornist und Jodler, der Posaunist Roland Dahinden als Spezialist für weite wie dichte und manchmal nahezu magische Stimmungen – man höre nur seine bezwingende Komposition ‚Hexenglut’! -, Thomas Eckerts erdiges wie atmosphärisches Klarinettenspiel sowie Hassler, dessen ‚Ballade pour Brillantine’ Slavko Avsenik, Brubeck, Lehar, Chiribiribin und Volksmusik als eine Abspiegelung seiner Unterhaltungsmusikwurzeln in das Stück bittet. Das war die Platte, mit der sich Hassler bei den Jazz-Leuten zum ersten mal Gehör verschaffte. Man improvisierte sehr viel, inkludierte Monks ‚Epistrophy’ ohne vor Ehrfurcht zu erblassen und schuf insgesamt auch eine frühe offene Referenz zur Volksmusik, ohne jemals ansatzweise in deren Gestus oder gar Klischees zu geraten. Die spezifische Dialektik von Raum und Spannung erhielt hier eine noch heute gültige Formulierung, die sich durch eine bewundernswerte sphärische Leichtigkeit, reduktionistische formale Strenge wie auch intensive Bewusstseinsbewegung profilierte. Ab den 80ern tauschte sich Hassler immer intensiver mit der Schweizer Improv-Szene aus, doch es gab keine konstante Besetzung. „Ich bin nicht so der Macher“, sagt er gelassen, „ich lasse mich holen.“ 1986 holte ihn auf Tipp von Kennel Mathias Rüegg für über ein Jahr ins Vienna Art Orchestra, 1990 gab es eine gelungene Fortsetzung von ‚Habarigani’, 1996 eine sehr schön bewegte und rhythmisch dichte Platte im Quintett unter der Federführung des Tessiner Percussionisten Ivano Torre, Marco Käppeli holte ihn in seine ‚Selection’, 2000 partizipierte er mit Gebhard Ullmanns Improv-Orchester-Projekt ‚Tà Lam’ in Vancouver und es gab Austausch mit ähnlich frei gesinnten Musikern wie Koch-Schütz-Studer oder auch Rudi Mahall. Hassler war endgültig in der freien Jazz- und Improv-Szene angekommen. Experimentelle Kleinkunst, Theater- sowie Hörspielarbeit gab es ebenfalls. Und dann natürlich noch 2004 die Teilnahme bei Peter Liechtis ‚Namibia Crossing’, jenem Doku-Roadmovie über das Scheitern des multikulturellen Musikensemble ‚Hambana Sound Company’, durch den Hassler für viele Interessierte zum ersten Mal außerhalb der Landesgrenzen als begnadeter Freispieler sicht- und hörbar wurde.

Die Kühe machen Muh

Hassler möchte vor allem keine Akkordeon-Erwartungen bestätigen. „Der Ton soll nicht glatt sein. Ich war immer der Ansicht, dass man das anders machen kann.“ Solo überzeugte er die Leute damit am besten. 1988 gab er im Volkshaus Zürich auf dem Jazzfestival sein erstes Solo-Konzert, das sowohl Publikum als auch Kritiker sehr beeindruckte. „Mein Vorgänger war ein Franzose und Akkordeonist, wie man es erwartet: glatt und ödig.“ Hassler hingegen spielte nur 30 Minuten und machte danach einen Handstand. Das kam an bei den Leuten. Seitdem ist Hassler, der Solo in der Regel aus dem absolutesten Moment heraus spielt, ein Garant für musikalische Überraschungen und Transformationen. Inwiefern spielt bei diesen Solo-Konzerten die volksmusikalische Tradition noch eine Rolle? Zum Vergleich: Koch-Schütz-Studer, die beispielsweise mit ägyptischen oder kubanischen Musikern spielten, waren überrascht, wie befriedigt diese von ihrer eigenen Tradition waren. Sie hingegen waren dies definitiv nicht und wollten eine völlig neue Musik machen.

Wie ist das für Hassler?

In der guten Tradition fühle ich mich schon wohl: es gibt wirklich sehr gute Volksmusik, und das spiele ich nach wie vor sehr gerne. Aber ich mache mich nie darüber lustig, es kommt dann wirklich bei mir so raus. Ich verforme es ganz, aber ich respektiere es noch. Es gibt da Sachen, das reizt mich einfach so, um etwas draus zu machen. Ich sehe da vielfach Verbindungen, die einfach nicht alle sehen. Das fällt mir dann auf, und das ist es, was mich dazu bringt, diese Volksmusik zu bearbeiten. Wobei ich finde, dass Volksmusik im Moment sowieso ziemlich ‚in’ ist. In der Schweiz entdeckt man die alte Musik wieder und macht so eine Art World Music daraus. Hans Kennel hat sich ja auch ganz zurückgezogen, er macht eigentlich nur noch Alphorn und jodelt. Und es gibt auch so neue Bewegungen, Schwyzerörgeli wird da von einem Studenten gespielt. Das ist schon sehr problematisch. Der studiert das und er komponiert und er findet, die Volksmusik muss sich entwickeln. Und das finde ich eben nicht. Ich finde, die Kühe, die machen Muh, und die fragen sich nicht plötzlich, ‚Du, müssen wir eigentlich immer nur Muh machen?’ (lacht) Es gibt Kompositionen, die sind sehr intellektuell, die sind fast am Reißbrett entstanden, aber ich finde, man kann nicht einfach herkommen und sagen, jöh, jetzt ändern wir das mal. Mich packt es dann nicht. Es gibt soviel neue Akkordeonmusik, so neue Ländlermusik, hervorragend gespielt und auch sehr virtuos, aber es reißt mich nicht vom Stuhl. Ich spiele aber Sachen, so dass man sofort mitspielen könnte. Nicht genau so wie in meiner Jugend, aber ähnlich. Es waren ja die Innerschweizer schon immer die Virtuosen, die Graubündner Musik dagegen war eigentlich immer sehr einfach. Als mein Vater früher nach Hause kam und von der Akkordeon-WM erzählte, machte diese rein artistische Leistung natürlich erstmal wahnsinnig Eindruck. Irgendwie habe ich aber später gemerkt: es gibt Komponisten, die haben einfach komponiert, aber einfach so gut. Früher war ich beeindruckt von Virtuosität, von allem, was glänzt, aber es gibt eben auch Virtuosen, die musikalisch überhaupt nicht gut sind, und da unterscheide ich mittlerweile und kann das Einfache und die schöne Melodie schätzen. Volksmusik-Elemente kommen nach wie vor bei mir vor, aber ich möchte nicht darauf reduziert werden und es nur spielen. Aber umgekehrt liebe ich die einfache Volksmusik mehr als die nur Konstruierte. Die Wildecker Herzbuben, ‚Patronae Bavariae’ – das ist natürlich furchtbar! Aber Dreiklänge, wenn man das ganz anders hört, Bulgarische Chöre oder auch Appenzeller Gesänge – mit Glocken! – das hat so eine Kraft, da kann man mitsingen. Ich glaube, auch bei Mozart war das so. Doch wenn man mal versucht, eine Melodie zu schreiben, die von Mozart sein könnte, wie schnell ist man da beim Kitsch!“

Glücksmomente

Erstaunlicherweise gab es von Hassler, der von sich sagt, kein guter Verkäufer seiner selbst zu sein, noch nie eine CD, die sein Solo-Spiel dokumentiert. Jetzt gibt es sie: Intakt-Records hat soeben mit „Sehr Schnee Sehr Wald Sehr“ 14 Stücke herausgebracht, die samt und sonders aus dem Moment improvisiert wurden. Das konnte Hassler halt schon immer. „Das ist eine Gabe, ich weiß auch gar nicht, ob ich mir das durchs immer wieder Spielen angeeignet habe?“ Jedenfalls ist es seine Wesensart, dass ihm im Moment Sachen auf- und einfallen und in den Sinn kommen, so ist auch der ganze Typ. „Ich reagiere auch viel auf sprachliche Dinge, anderen fällt das nicht auf. In der Bäckerei sagt die Frau an der Theke: ‚Danke Herr Hüssler!’, und danach kommt halt Herr Hassler. Aber sie findet es nicht lustig, sie hat es ja gar nicht bemerkt. Oder im Radio heißt es ‚Stau zwischen Au und Widnau’, das finde ich lustig, da sehe ich sofort Verbindungen und Assoziationen, genauso wie beim Schnee Wald Sehr. Oft gehe ich auf die Bühne und die Situation ist eben so wie sie ist und daraus entsteht dann alles. Das sind wirkliche Glücksmomente.“

Hans Hassler für Einsteiger:

  • Habarigani“ (Hans Kennel, Roland Dahinden, Thomas Eckert, Hans Hassler) (hathut 1987)

  • Habarigani Two“ (hathut 1990)

  • Ivano Torre – Urt’ O Logique“ (Unit Records 1996)

  • Gebhard Ullmann – Tà Lam Zehn. Vancouver Concert“ (Leo Records 2000)

  • Namibia Crossing“ (Film von Peter Liechti, 2004)

  • Sehr Schnee Sehr Wald Sehr“. Solo Akkordeon. (Intakt Records 2008)

(WOZ 21 / 22. Mai 2008)

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