23. Jazzfestival Schaffhausen / 2. – 5. Mai 2012
Von Marcus Maida
Ohne offizielle Bekenntnisse der Politik zum Jazz geht es beim Schaffhauser Festival als Schaufenster des Schweizer Jazz nicht mehr. Heuer eröffnete, einmal mehr in höchst honoriger Kulisse des Stadttheaters, zum ersten Mal ein Bundesrat den Reigen, was den Veranstaltern ein ziemlicher Wirbel wert war. Zwei Politiker – beide zudem auch Jazzpianisten – agierten sozusagen als Festival-Vorgruppe, denn auch Kantons-Kulturminister Christian Amsler, der Stadtkind Irène Schweizer als ‚Leuchtturm’ empfahl, eröffnete; Bundesrat Alain Berset hingegen wurde danach unübertrieben empfangen wie ein Polit-Messias, der dem Jazz den Segen geben sollte. Die Ausführungen des smarten Jungpolitikers hingegen ernüchterten: Jazz und Politik hätten dieselben Grundlagen: man muss sein Handwerk beherrschen und improvisieren können. Na Bumm – angesichts des Zustands der Europakrise müsste es da um den Jazz wohl schlecht bestellt sein. Gleichsam reizte der Bundesrat sein Publikum stetig zu zustimmenden Sympathielachen und gewann es mit Charmanz und Eloquenz – ganz wie ein Politiker halt.
Katharina Weber, Barry Guy und Balts Nill improvisierten und schweiften danach über die Themen des heute 86jährig in Frankreich lebenden Komponisten György Kurtág. Vor allem Guy fungierte hierbei als essentielles Bindeglied, denn er erdete die intellektuell sprunghaften und geistig regen Stücke voller ungestümer Dissonanz und filigranem Netzespannen und machte ihre Poesie greifbar. Die Musik zeigte Potenzial, aber auch Grenzen des avancierten E-Jazz auf, der mit dem Genre nur im temporären Improv-Gestus hauchdünn verbunden ist. Im Publikum teilte man sich den Eindruck zwischen Begeisterung und Ermüdung. Narziss und Echo vom Jürg Wickihalder Orchester, das beim unerhört!-Festival 2010 noch so begeistert hatte, zeigte danach auch klar seine Grenzen auf. Ursprünglich viel lebhafter in Erinnerung, war es hier teilweise fad gespielt: die Soli, sonst als Überleitung gedacht, waren jeweils zu lang, so verlor das Ganze an Dichte und Stringenz. Ein Plus war die Reichhaltigkeit einer Dialektik aus atmosphärischen Tutti und liedhaften Strukturen. Das Stück atmete besonders bei Chris Wiesendangers Piano Magie und Transzendenz und generierte abstrakte Poesie. Gleichsam fehlte dem Singspiel für nur zwei Stimmen ein szenischer Kontext als Rahmen, wo die Musik, die hier keinerlei Handlung vorantrieb, eben nicht Fokus, sondern vielmehr Impuls und Untermalung für Bühnenaktion sein sollte. Die Frage bleibt: welches Publikum und welchen Kontext strebt diese Musik eigentlich an?
Der Bühnenmarathon in der Kammgarn begann mit dem Youngster-Quartett Weird Beard zwischen zupackend-konzentriertem und loslassend-ambientösem Gestus. Die Improv-Einschübe waren nicht immer stimmig, aber der Zusammenfluss aus dem Wechselspiel von Dichte und Zerfaserung überzeugte letztlich. Das Thomas Silvestri-Trio bot klassischen Pianotriojazz, schwelgerisch, fix, melodienverliebt. Die fleißigen Stücke mit den wenig begeisternden Titeln Voyage oder Rollercoaster kamen im vollbesetzten Saal extrem gut an, und auch die exquisite Auskomponiertheit und nahezu absurde Dekonstruktion von z.B. Blue Traffic überzeugte letztlich. Alles war dabei tight, druckvoll und schlagfertig, trotzdem blieb der Eindruck einer Selbstreproduktion auf hohem Niveau. Das Ghost Town Trio kam als Jazz-Lad-Band im Psychobilly-Outfit auf die Bühne und spielte Pop-als-Jazz (Queen, Dylan, Green Day), den – echte Schande – kaum einer aus dem Publikum erkannte. Outfits wie Attitude unterstrichen den korrekten rotzigen und humoristischen Gestus des Projekts, aber irgendwann wurde es fad, die Spot-the-Song-Spielchen waren gespielt. Das Halbzeit-Fazit war ernüchternd: wenn diese beiden Abende den CH-Jazz repräsentieren, sieht es eher schlecht aus – der erste Abend bot eher E-Jazz, der zweite Schaffhausen-Regional-Spezial. Am Freitag holte zunächst das Pedra Preta-Trio mit dem charismatischen Gitarrero-Sänger Munir Hossn die Kartoffeln aus dem Feuer: zwischen abstrahiertem Baden-Powell und Fusion-Funk-Rock-Gewittern klaffte auf einmal ein Dub-Experimental und Grime-artiges Loch auf – aber alles war: Jazz! Gutes, charmantes und eigenes Spiel! Marc Perrenouds Klaviertrio war rasant, wendig, supervirtuos und hinterließ den Eindruck typischer klangimpressionistischer Soße ohne Pfiff, Verve und Kante. Autumn Leaves und Dideldei, alles war drin, und plätschernd hinterließ der Spielfluss keine nennenswerten Spuren. Beide Bands überzogen indes ihr Set gnadenlos, so dass Nils Wogram Nostalgia und Gäste extrem angefressen waren, dass der an dem Abend live übertragende WDR ihr Set nicht mehr in den Äther bringen konnte. Denn sie waren nicht nur spielerisch über jeden Zweifel erhaben, sondern ein, wenn nicht der Höhepunkt des Festivals. Das Warten und Knausern hatte ein Ende: voll, dicht, packend, großartig! Mit den grandiosen Gästen Philip Schaufelberger und Domenic Landolf trieb sich das Trio zur Spitzenband. Diese Rasanz und Brillanz war euphorisierend – Wecker! Unbedingt zu empfehlen. Die beste Band wurde hier aber verheizt und spielte leider vor ½ leerer Halle – Wogram ätzte zu Recht die Kollegen an.
Im Haberhaus versuchte derweil der halbexperimentelle Luzerner Vokalist Pascal Galeone mit seinem Quintett zu überzeugen, aber vor allem Gitarrist Franz Hellmüller blieb hier sehr schön und eigen in Erinnerung. Der Samstag kam mit der Jean-Lou Treboux Group sehr traditionell, aber auch stimmig und charmant daher. Das präzise, sichere und ungemein transparente Spiel des jungen Vibrafonisten stand komplett im Mittelpunkt des Fünfers und hinterließ einen begeisterten Saal. Das Heiri Känzig Quintet brachte dann mit transformiertem Tangospiel endlich eine andere Instrumentalästhetik. Klar, das ist richtige Wohlfühlmusik, die Stimmungen bedient, aber äußerst originell und supertoll gespielt. Känzigs tolles Bandoneon tönte kristallin-melancholisch und dabei lyrisch, und Matthieu Michels Flügelhorn brachte wirklich alle zum Fliegen – eine stimmige Band für das erwartungsfrohe Samstagabendpublikum. Das Ballbreaker Ensemble der Berner Jazzwerkstatt dann lief leider nicht in Leder, sondern in Anzug und Krawatte und auch dementsprechend etwas steif auf. Das Kollektiv um Mastermind Benedikt Reising wirkte leider nicht lässig, sondern etwas zahm und nett und nur ein bissl funky. Bei Angry Angus war dann auch nicht etwa Band-Namensgeber Young gemeint, sondern das schlechtgelaunte Rind. Auch Marc Stuckis Stück über eine Eintagsfliege offenbarte wenigstens schrägen Humor, den das gutgelaunte Publikum den verhaltenen Partykrachern mit den seltsam-komplexen und mitunter neunmalklugen Nummern gehörig dankte. Wozu aber die eigentlich unerträglich fade Renaissance des Begriffs „Jazz-Werkstatt“? Da wird nix repariert oder werden Ersatzteile ausgetauscht oder frisiert, so dass die Sache mal richtig heftig in Fahrt kommt. Das fast zirzensiche Finale offenbarte zwar eine veritable Leistungsschau, aber eher wenig Soul und Groove. Die Innovation der Konstruktion fehlt letztlich – wozu also das Rumgeschraube?
Die Jazzgespräche zeigten heuer, dass ihr Zenith letztlich erreicht und überschritten ist. Trotz sehr erhellender Momente war doch die Redundanz und karusselartige Wiederkehr bestimmter Themenkomplexe und auch Gesichter prägend. Der erste Teil Jazz und Pop als Traumpaar? steuerte, auch aufgrund der wirr-unglücklichen Moderation, fast auf eine Katastrophe zu, bis zum Glück Podiumsgast Nik Bärtsch einstieg und Dinge deutlich hinterfragte und mehr Konkretion einforderte. Bärtschs Impulse waren eindeutig die besten, durch ihn bekam die Diskussion Sinn, Format und Fahrt. Ohne seine klugen und anregenden Aussagen wäre dieser Diskurs, der schon durch das schwache Einstiegsreferat von Jazzinstitut-Leiter Wolfram Knauer amorph genug blieb, wahrhaft versandet. Die eigentlichen neuen Impulse, so ein später Konsens, kommen doch heute eher vom Pop, und nicht vom Jazz, der doch immer so way ahead sein will. Letztlich aber sehr schön, dass aus einem alten und scheinbar schon rundgelutschtem Thema doch noch ein paar stimmige und sinnvolle Impulse kamen.
Diskurs Nr. 2 brachte eine gelungene Keynote von Lucas Niggli zum Thema Künstler-Selbstmanagement auf den Plan. Für Niggli, einen der bestorganisiertesten und auch bestsubventioniertesten Musiker des Landes, ist dies kein Zwang, sondern aktives Selbstverständnis und bewusster Wille und Lust, seine polystilistischen Aktivitäten sowohl egoistisch als auch für die Szene zu bündeln und zu markieren. Damit man nicht nur in der Jazz-Suppe kochte, hatte man KollegInnen aus den Sparten Literatur, Klassik und Theater geladen. Das Fazit der Kreativen subsumierte sich unter der Intention, nicht mehr „mit Arschlöchern arbeiten zu wollen“, so Theatermann Daniel Rohr unter großer Zustimmung. Niggli plädierte dann am Schluss für das Volunteering mit dem Wunsch, dass die KollegInnen sich mehr dafür interessieren sollten, wie das System läuft und die Struktur des Jazz aussieht.
Diskurs Nr. 3 legte einmal mehr die Leuchtturm-Förderdebatte auf den Prüfstand. Radioexpertin Karin Salm als angenehm redseelige und scharfzüngige Moderatorin stellte die Modernität und Angemessenheit der Metapher, die aus dem 90er Jahre-Diskurs in Deutschland stamme, zunächst in Frage. Hernach mache das Etikett auch schnell träge und gefällig, und die oft von oben aufgepropften Kulturleuchtfeuer graben den oft wirklich avancierten Sachen nun mal oft und gerne das Wasser ab, und staatliche Kulturförderung, so ein Podiumskonsens, sei zudem nach wie vor extrem statisch, träge und gleich. Die Chance, die Kulturinfarkt-Thesen von u.a. Noch-Pro-Helvetia-Direktor Pius Knüsel in Schaffhausen kontrovers zu diskutieren – man hatte dies zunächst tatsächlich angedacht – wurde leider vertan, so wurde es zu einer reinen und relativ faden Wirtschafts- und Förderdiskussion, eventuell bereits eine unfreiwillige Vorschau auf das kommende Profil der Jazzgespräche.
Fazit 1: der Haberhaus-Keller macht die Themen irgendwie muffig, der Diskurs gehört wieder ans Licht. Ganz wichtig wären auch Kontroversen, Störungen und Widersprüche – es ist zu zahm! Scharfe Kritik scheint nicht wirklich erwünscht, die Themen sind oft recycelt.
Fazit 2: die Jazzgespräche gehören erneuert und gepflegt, sonst werden sie schmierig, schlampig und obsolet. Großen Zulauf haben sie eh nicht, dann sollte man wenigstens das Fachpublikum nicht mit zuwenig Kritik und zuviel zahmer Blässe vergraulen. Wenn sie nicht von kompetenten Leuten, am besten im Kollektiv, kuratiert und gepflegt werden, könnte es hier schon bald heißen: das Modell hat sich totgelaufen, mission complete. Wäre schade drum, denn die Gespräche machen Schaffhausen eben auch zu einem markanten und besonderen Festival.
Was neben einer eigenartigen leichten Dominanz von Gitarren und dem Fehlen von wirklich neuartig-innovativen Klangszenarien aber wirklich nervte, war – abgesehen vom eher durchwachsenen Jazz-Jahrgang – vor allem der fast lupenreine Boysclub. Fast keine einzige Frau auf den Festivalbühnen – das ist wahrhaftig albern und komplett unmöglich. So wenig Weiblichkeit hatte Schaffhausen noch nie! Ist Schweizer Jazz wirklich so maskulin – a pure man’s world? Klarer Fail. Ausgerechnet Katharina Weber neben den beiden Wickihalder-Vokalistinnen als einzige Frauen auf einem Jazzfestival – wer hat sich denn so etwas ausgedacht? Es ist immer wieder erstaunlich, wie gefährlich nahe dieses grundsätzlich hochinteressante Festival an bestimmten Klippen vorbeischrammt, aber wo Gefahr ist, so ein alter Gassenhauer, wächst bekanntlich das Rettende auch. Wünschen wir also weiterhin gute Fahrt.
Marcus Maida
Ein Gedanke zu „Schaffhausen 23“