Generations 06 Frauenfeld

Generations 06. Internationales Jazztreffen Frauenfeld 30.9. – 7.10. 2006

Von Marcus Maida

Tatort: Südlich vom Bodensee, Frauenfeld, Hauptstadt des Kantons Thurgau. Tatbestand: In der wunderschönen sanfthügelig-frühherbstlichen Schweizer Alpenvorlandschaft findet zum mittlerweile fünften Mal ein kriminell gutes Jazzfestival statt. Wie kommt es, dass die gerade mal 20.000 Einwohner zählende Metropole von „Most-Indien“ sich für eine Woche in eine Art pulsierendes East-Village verwandeln kann? Viele gute Geister und lässig-professionelle Strippenzieher sind für die Organisation eines der konzeptionell interessantesten kontinentalen Jazzfeste verantwortlich, doch seinen Anfang nimmt die Geschichte des ‚Generations’ sicherlich mit der Person des musikalischen Leiters: Roman Schwaller. Nach 21 Jahren in München und Hamburg und 10 Jahren Vienna Art Orchestra (79-89), zog der Saxofonist 1996 in seine Geburtsstadt Frauenfeld zurück und begann im Januar 97 mit der Organisation des Generations. Angestiftet durch die gute öffentliche und private Förderung, entwickelte Schwaller ein Festivalkonzept, dass auf einer einmaligen und vitalen Mixtur aus Förderung, Präsentationskonzerten und Clubszene basiert. Das Jazzfest läuft von Samstag bis Samstag genau eine Woche, präsentiert verdiente Altmeister in klassischer Atmosphäre, Youngster und Pro’s in verräucherten Spielorten, die avancierten Spielweisen in konzentrierter Form und die größeren Formationen in großen Sälen. Dabei wird keineswegs Trennkost gehalten, denn vor allem der Austausch der Generationen untereinander macht die einmalige Mischung des Festivals aus. Einige Konzerte werden mehrmals geboten, Variationen und Erweiterungen sind erwünscht und Jam-Sessions sind eh selbstverständlich: wer traditionelle Jazzkultur, präsentiert auf höchstem zeitgemäßen Niveau, erleben will, ist in Frauenfeld exakt richtig. Schwaller selbst hat größte Ansprüche und klar profilierte Wünsche an das eigene Festival: „Innerhalb dieser Woche soll etwas Lebendiges entstehen, und es soll nichts Museales reproduziert werden.“ Eine Big Band z.B. darf nicht einfach kommen und spielen, sondern es gibt, wie diesmal zur 70-Jahres Feier von Urgestein Joe Haider, Spezialkonzepte, die tagsüber erprobt, und abends in Club und Festsaal präsentiert werden. Starre Reproduktion ist nicht der Sinn des Festivals, und obschon seine Ausrichtung schwerpunktmäßig im Traditionellen liegt, geht es um stetige Erweiterung und Austausch. Daraus erwächst Entwicklung, Response, Profil und Identität – und macht in dieser spezifischen Zutatenmischung das Frauenfelder Festival mittlerweile europaweit unverwechselbar.

Die Intention von Austausch, Anregung und Weitergabe, wird am besten im Förderkonzept deutlich: sieben hochprofilierte Jazzprofis agieren als Masterclass Workshop-Dozenten – dieses Jahr der grandiose Cedar Walton, Lewis Nash, Brad Leali, Derrick Gardner, Adrian Mears, Thomas Stabenow und Jürgen Seefelder – und erarbeiten mit den Youngsters, die noch überwiegend aus dem deutschsprachigem Raum stammen, Material, das gegen Ende der Woche in einem Gesamtkonzert präsentiert wird. Spätestens dann hat die Jury sich schon auf einen Solo-Förderpreisträger und eine Förderpreisband – dieses Jahr Elmar Brass / Piano und die Band der Mears-Klasse – geeinigt. Generations ist das einzige europäische Festival, das Förderpreise vergibt. Die Gewinner erhalten eine DRS-Radioübertragung des Preisträgerkonzertes, eine dreitägige Studioproduktion mit CD und können 2007 unter Mears musikalischer und Schwallers organisatorischer Leitung auf Tour gehen – lassen sich jungen Talenten bessere Impulse unter musiklischen real-life Bedingungen mitgeben als so? Die Intention, durch die sorgfältige Teilnehmer-Auswahl den Standard der Workshop-Aufnahme nochmals zu erhöhen, ging Schwallers Ansicht nach 2006 voll auf: „Wir hatten den besten Jahrgang bis jetzt überhaupt!“

Live bestätigte sich das eindringlich: junge hoch motivierte und inspirierte Spieler jammten auf absolutem Top-Niveau mit ihren jeweiligen Dozenten im Nachteulen-Club ‚Dreiegg’ bis spät in die Nacht – unter der Woche, wohlgemerkt. Ebenso großartig: seit 2004 gibt es das Swiss Solopiano in der Eisenbeiz, mittlerweile schon eine Art ein Festival im Festival, und vor allem ein meditativer Einstieg auf den jeweiligen Konzertabend. Heuer gab’s George Gruntz, Chris Wiesendanger, Vera Kappeler und Oliver Friedli, die anschließend im jeweiligen Trioformat die musikalischen Facetten erweiterten und dynamisierten. Spannung galore, vor allem bei Kappeler, die sich zwischen Abstraktion und Simplifizierung als eine der interessantesten jungen Pianistinnen empfiehl: ob Volkslied oder Coleman, das Einfache wurde oft verzinkt und verbogen, das Komplexe zu einem vollen Fluss gebracht. Friedli hingegen beeindruckte in seinem ersten Solokonzert überhaupt mit einer lyrischen Klangfülle und suchte Ausdrucksdialektik in feinsten, aber ungemein kraftvollen Schwingungen. Intim, konzentriert und ebenso locker wie ausgelassen die Triokonzerte, die oft noch mehr begeisterten. Grandpianomaster Cedar Walton füllte derweil mit seinem beseeltem Spiel die knallvollenge Clubbar: Drumleopard Lewis Nash kratzte ausgeglichen die unglaublichsten Rhythmen zusammen, während Thomas Stabenows smarter Bass gelassen nach Kühlung grub. Ab Mitte der Woche übernahm die Wiener Jazzlegende Fritz Pauer plus Trio den Laden und zeigte mit Standards und Eigenkompositionen den Youngstern, wo der Hunger herkommt und der Hammer hängt. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel: in den Clubs ging’s heiter weiter, und so ließen mit Cojazz u.a. der fliegende Flügelhorn-Holländer Ack van Rooyen – saucool und gefühlvoll, so kann man älter werden, Dudes! –, Sax-Hexe Carolyn Breuer und das Schweizer Sax’n Piano-As Andy Scherrer die Funken sprühen. Als sich auch noch Scatter-Oldie Willi Johanns und Tausendsassa Adrian Mears mit dampfender Posaune dazugesellten, rauchte das Podium in der rustikalen Sternen-Brauerei. Laut, treibend, wild, heftig – das ist Clubjazz, wie er sein soll. Sternstunde! Das Hauptkonzert dann im Eisenwerk: die von Mears geleitete Förderpreisband, sehr smart, smooth und energiebepackt, unterstrich nochmals ihre außerordentliche Klasse. Die von Schwaller und Mastern aufgeführten drei Teile seiner Thurgovian Suite sehr bewegt und klassisch, voller Komplexität, Rhythmus und Tiefe. Mears und Gardners Tonlagen glänzten, und Mario Gonzis geniale Drums pushten die ausgezeichneten und sehr auf den Punkt geschriebenen vorwärts drängenden Arrangements. Das Cedar Walton Trio plus Brad Leali und Jürgen Seefelder geriet erneut zur klaren Sternstunde: „The Rubber Man“, „Holy Land“, „Hand in Glove“ – absolut erinnerungswürdig. Zum Nachtisch dann alle Dozenten auf der Bühne, und vor allem bei Gardners „Appointment in Ghana“ gerieten die Masters zu Meteoriten, die um das fixe Piano des Planeten Walton kreisten. Ob Leali in Tranes jungen Spuren, Nash’ waghalsige Rhythmik oder die Prägnanz des 72jährigen Weltklassepianisten – gerade in dieser Schlussnummer zeigte sich, wie viel unglaubliche Energie klassisch gespielter Jazz ausstrahlen kann, wenn er richtig gut rübergebracht wird.
Im Gleis 4 dann chillte, killte und grillte Pat Bianchi die unermüdlichen Nighthawks. Der juvenile Orgelprofessor aus Denver zog im kongenialen Duo mit Pius Bachnagels Drums alle Register und kniete sich tief in seine Hammond B-3, während der Schweizer opulent und punktgenau diverse Nägel in die Felle drosch. Weniger der ästhetische Gesamtaspekt interessierte hier als vielmehr: move your butts! Grundgute Jazzgrooves erzeugten Pfiffe, Beckenschwinger und allgemeine Publikumseuphorie. Am Abend zuvor hatten selbst Leali und Gardner angesichts dieser coolen Energie ohne viel Federlesen mit ihren Hörnern die Bühne gestürmt und zum Jam geblasen. Der Samstag stand ganz im Zeichen einer fabelhaften und absolut zeitgemäßen Big-Band-Night zu Ehren des großen Joe Haider, dessen musikalische Gäste wie das Münchener Modern String Quartet, die großartigen modernen Arrangements seiner Lebensgefährtin Brigitte Dietrich und nicht zuletzt der lakonische Humor des Grandseigneurs selbst dem Publikum einen sagenhaften Auftritt bescherten. Die International Youth Band schließlich präsentierte das hohe Niveau der nächsten und jüngsten Generation pur – vor allem Axel Schlossers Trompete ließ erneut aufhorchen.

200 000 Einwohner hat der Kanton Thurgau: wie kann man nicht zuletzt der alten Rampensau Zürich ein wenig Publikum abziehen? Wie die Region für Hardbop und Modern Straight Ahead Jazz – Schwallers erklärter protegierter Stil – entflammen? Es geht. Mittlerweile ist das Festival eine bekannte Größe und wird auch wegen seines zwei Jahres-Turnus heiß erwartet. Warum dieser Zeitabstand? Einmal zur besseren Nachlese, und man möchte das Publikum im Thurgau auch nicht überfordern, es eher ein bisschen austrocknen und dann wieder jazzdurstig machen, so Schwaller. Clever. Zudem er logisch noch das betreiben möchte, was ihm am Herzen liegt: komponieren und selbst spielen. Frauenfeld ist eine lebendige und anspruchsvolle Feier des klassischen Jazz, doch Erweiterungen im Rahmen des Konzeptes sind gerne gesehen. Das Programm ist nicht vorrangig auf Spektakuläres angelegt, sondern auf Vitalität, Nachhaltigkeit und stetes Wachstum. Der Etat erlaubt Generations durchaus, die Stars zu holen, aber das ist gar nicht gewünscht, denn: „In diesem Falle können wir die Masterclasses vergessen. Der Unterricht hört ja nicht auf, wenn der letzte Ton verklungen ist. Und wir wollen eben nicht just another festival sein. Obwohl Top-Leute da sind, sind Namen eher zweitrangig. Aber die Leute wissen, dass es zu spannenden Konstellationen kommt.“ Und exakt das ist es.

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