15. Jazzfestival Schaffhausen / 12. – 15. Mai 2005
Von Marcus Maida
Die Sache ist ganz einfach und klingt wie ein gespielter Witz: kommen zwei Idealisten und machen ein Jazzfestival. In einer Stadt, die erst nicht furchtbar viel davon verstehen will, etwas rummault, aber immerhin tolerant und gutgewillt genug ist, dies zuzulassen und in geringem Maße gar zu fördern. Die Erde stimmt, und der Baum wächst. 14 Jahre lang, die Früchte schmecken hervorragend und immer besser, und über die Jahre schwillt auch der Dünge- sprich Finanztopf an. Als die Musiker und Veranstalter Hans Naef und Urs Röllin (Lehrbeauftragter für Gitarre in Luzern, musikalisch zwischen Improv und Komposition mit dem avanciertem Quartett unart 4.0, u.a. mit Posaunistencrack Robert Morgenthaler, unterwegs) 1990 ihre Kräfte vereinigten, ahnte noch niemand, dass Schaffhausen einmal die bedeutendste und repräsentativste Plattform für Jazz aus der Schweiz werden würde. Im Mai ging das Jazz-Fest nun ins 15. Jahr und hat ohne jeglichen Hype inzwischen ein derart hochqualitatives Level erreicht, dass der Ruf des Festivals über die lokalen und Landesgrenzen hinauseilt. Montreaux oder Willisau, klar, kennt man, teure Leute, internationale Creme hier, Ambition und Namen da. In Schaffhausen dagegen nach wie vor: Just Swiss Jazz. Und das ist sehr gut so. Denn Jazz aus der Schweiz hat in den letzten Jahre eine unwahrscheinliche Blüte erlebt, die immer noch anhält: die Szene ist höchst disparat und wirkt bisweilen unübersichtlich, und es gibt eine wahre Talentschwemme und wahnsinnsgute MusikerInnen und Projekte, die auf einem unwahrscheinlich avanciertem und professionellem Level arbeiten.
Allein: das Land (und seine Spielorte) ist zu eng für alle, und auch bei immer noch anhaltender ökonomischer Prosperität der eidgenössischen Republik stimmen auch hier die Rahmenbedingungen nicht wirklich, wenn, wie in Deutschland, der Hang zur Eventkultur und die Sparwut grassiert und zu viele junge MusikerInnen eher ein Schmerzensgeld als eine Gage erhalten, was natürlich auch für genug andere Protagonisten im Kulturbetrieb gilt. Gleichsam hält sich das musikalische Niveau und kann sich, getrieben aus der notorisch-motorischen Mischung aus Idealismus und Professionalität, sogar noch steigern, wie in Schaffhausen als authentischer Werkschau des zeitgenössischen Schweizer Jazz deutlich zu erleben war.
Das 4-Tages-Programm, das im Kulturzentrum Kammgarn stattfand, bot dabei eine beachtliche Bandbreite. Am ersten Tag präsentierte sich Daniel Humairs Quintet Baby Boom, spielte vom Blatt und improvisierte. Schlagmeister Humair als rhythmusbesessener Butcher Boy, sichtlich froh inmitten seiner Pariser Youngster, zog fantasievolle und schwelgerische Linien und trieb ein spontan-direktes, aber sehr bewusstes Spiel mit der Komik. Dann schon gleich ein Höhepunkt: Hart, Haerter, Harald. Das Zürcher Saiten-Tier fusionierte live mit der lokalen HipHop-Formation Vizioso und Stargast Eric Truffaz, der sich als bescheidener Profi eher besonnen und introvertiert, aber souverän ins Projekt einfügte. So entstand schnell ein satter, mitreißender Drive. Wenn Groove-Derwisch Harald dann ab und an ein James-Brown-Schrei entfuhr und er zum flitzeschnellen Solo-Spiel rumzuckte, gab’s auch im Publikum kein Halten mehr. Rauchwolken stiegen auf, jede Hand rührte sich – dieser Auftritt riss mit. Sehr schön auch die Energie, die von der Perkussion des Lausanners Marcel Papaux ausging. Auch die jungen MCs setzten genug Akzente – nix Frischzellenkur für alte Profis, es war ein organisches, betont körperfreundliches Ganzes.
Der zweite Tag brachte dann die avancierten Projekte auf die Bühne: Pierre Favre, Percussionspoet und Maestrodrummer, präsentierte mit dem Arte Quartett und Michel Godard seine neue CD. Saxspiel wurde hier in nahezu Madrigal-artige Formen gegossen, und der Unisonoklang kam wie Mönchschöre daher: klar, ruhig, abgezirkelt, souverän, aber inmitten dieses strengen, wunderschön und nahezu sakral wirkenden Raumes gab es auch Platz für den Tubisten, diesen Anarchisten: Godard ließ kräftig die Hummeln brummen, so dass Favre, der absolute Feinarbeiter, nur noch grinsen konnte – improvisierte Kammermusik at it’s best. Daran schloss das Duo Frappant an: Gabriela Friedlis (p) und Priska Walss’ (tb, alphorn) asynchrones, fast asymmetrisches Spiel, ergänzte sich auf logisch-impulsive Weise. Hier eine 12-Ton-Barmusik, da ein abstrakter Jazz-Grenzgang … frau stellte höchste Anforderungen mit sehr schwierigem und anspruchsvollem Material. Friedlis kompromissloses Spiel und Walss’ Growls waren rein improvisiert, doch bei dieser Art von transparentem Klang und Ausdruck verbot sich jede Art von Beliebigkeit. Sie hatten tolles Material, müssten jedoch noch die Lässigkeit erlangen, die komplexe Musik in der Performanz bisweilen braucht.
Dann folgte eine wirkliche Überraschung: das Quartett des Saxofonisten Lucien Dubuis aus Biel legte als Improv-Spielplatz los, verwandelte sich aber alsbald in eine derart spaßige Kapelle, dass ihre charismatische Bühnenpräsenz sie in Rekordzeit zu Publikumslieblingen machte. Ein wirklich anarchistischer Weckruf: Handyanruf an die Mutter mitten im Stück, launige Instrumentenwechsel, 1a Jacko-Moonwalk-Parodie, Haarföhn über die Effekte, Muppet-Animal-Drums – wild, ungestüm, aber auch komplex und differenziert zeigte sich eine urvitale Gruppe mit viel Potenzial, die auf dem Weg ist. Nach unzähligen Zugaben ging’s mit einem Gutenachtlied mitten ins Publikum, und jeder, wirklich jeder ging mit einem Grinsen nach Hause.
Der dritte Konzertabend dann stellte die Traditionalisten (und manche Sponsoren) zufrieden: Marianne Racine zog mit ihrem Quartet ihre schwedischen Wurzeln auf die Bühne und öffnete mit „Sangbook“ ein gar gefälliges Jazz-Büchlein. Ruhig, elegisch-poetisch, später mit launigen Wald und Wiesen-Scats, profilierte sie sich als atmosphärische Erzählerin ländlicher Geschichten, in denen nichts kracht und scheppert. Und das Publikum liebte diesen gemütlichen Charme. Das ambitionierte European-Broadcasting-Union-Jazz-Orchestra dann lieferte ein Radiokonzert, das der profilierte Schweizer Kultursender DRS2, bedeutender Sponsor des Festes, als Erstaufführung live nach Europa übertrug. Die en Block gespielten fünf Kompositionen von Martin Streule, Trudi Strebi und Ohad Talmor präsentierten sich im kompakten Ensemblespiel, das von ruhig und smooth bis dynamisch mit freieren Akzenten einiges an typischem Bigbandsound abdeckte. Vieles lud zum Driften ein, aber da jegliches Experiment konsequent ausgespart wurde, geriet manches zu gewohnt und gesetzt. Den gesuchten Bruch mit der Tradition sollte vielleicht der politische Subtext von Talmors „Americans Dream American Dreams“ haben, ein „bitterböser Kommentar“, so der Komponist, auf die Träume der USA-Migranten, Bush und Luther King-Samples inklusive, aber auch hier unterm Strich klar Programmusik, BigBand-Retro, und keine musikalischen Neologismen in irgendeiner Form. Einige brechende Elemente hätten hier gut getan.
Der Abschlussabend punktete dann mit dem inspirierten und leidenschaftlichen Spiel des Genfer Moncef Genoud Trios. Zwischen Bill Evans und Debussy schafften sich der blinde Pianist und seine Leute komplett und verabschiedete sich, noch ganz befangen vom großem Applaus, mit „Hope to see you soon!“ – starker Eindruck, starker Abgang! Wie muss es sein, im Dunkeln den Applaus des Publikums zu spüren? Albins Alpin Quintett dann brachte für eine Stunde die Berge an den Rheinfall: Albin Bruns „Pilatus“-Suite bestieg, untermalt von s/w-Dias, musikalisch den Luzerner Hausberg „Pilatus“. Die positive Transformation von Volksmusik in Freeform-Idiome hatte einen heiteren, unkomplizierten und unbeschwerten Grundgestus. Fröhlich vorwärts ziehend geriet die Improv-Ländlerkapelle dann an nahezu genormt wirkende Freeform-Ausbrüche, die aber Dampf machten, es wäre sonst zu impressionistisch gewesen. Irgendwann geriet die Bergfahrt jedoch ins Stocken, und unnötige Längen taten sich auf, ab da wurde das leicht Überambitionierte des Projektes deutlich. Viele Improviser finden Punkt und Komma nicht, hier wurde zwar vorher was gesetzt, aber irgendwann langweilig erzählt.
Mit Spannung erwartet wurde dann ein Musiker der jungen Generation, der nochmals einen fulminanten Schlusspunkt setzte: Nik Bärtschs Quartett-Projekt Ronin mit seinem extrem reduziert-transparentem Miniml-Zen-Funk. Scheinbar endlos ließ der Japan-Freak seine Leute ins Repetetive grooven, hatte seinen Spaß dabei und saß wie ein lächelnder Shaolin-Schamane hinter seinem Tasten-Shinto-Schrein. Die Musik des Zürchers ging live ungeheuer, reinigte die Köpfe des Publikums mit null Expression und Drama und gab den Körpern einen sehr sachlichen, nahezu protestantischen Präzisionsfunk. Es gab noch mal Körperlichkeit, und das kam super an! Alles groovte in die zahllosen Zugaben hinein, und die Leute feierten ihr Festival, dessen Spannung sich auf wunderbare Weise gelöst und neu gefunden hatte.
Eine sehr wichtige Sache prägte dieses 15. Jazz-Fest ebenso: die von Patrik Landolt kuratierten, an drei Tagen jeweils nachmittags stattfindenden 1. Schaffhauser Jazz Gespräche. Der Intakt-Label-Betreiber und Journalist hatte ein hochkarätiges Vortrags- und Gesprächsprogramm organisiert, bei dem nach einführenden größeren Referaten von im Jazzbereich involvierten KulturaktivistInnen sich anregende Podiumsdiskussionen ergaben. Man hatte sich zum ersten Mal eine Jazz-Reflektionsebene erlaubte, die es so vorher in der Schweiz noch nicht gegeben hatte. Die Schweizer seien da, so Landolt, eher pragmatisch, das Diskursive vernachlässige man schon mal gerne, aber um die für den Jazz (über-) lebenswichtige Theorie zu gestalten, legte man nun kräftig und äußerst gehaltvoll nach. Kein dekoratives Diskurs-Bla-Bla also, sondern anregendste Theorie, pointiert-scharfe und geistreiche Analysen und im jeweils darauffolgenden Podium, bei dem sich aussagekräftige Cracks der Kulturszene gegenübersaßen, ergab sich manche Kontroverse. Ob State-of-the-Art-Analysen, erhellende Genderfragen (auch in Schaffhausen waren Frauen überall repräsentativ unterbesetzt) und nicht zuletzt sehr konkrete Fakten über den ökonomischen Unterbau bzw. das Thema „Jazz zwischen Inhalten und Eventkultur“ ließen an Deutlichkeit für die aktuelle Jazzkultur nichts zu wünschen übrig. Ausgerüstet mit diesem Hirn-Futter ließ es sich danach noch mal besser den Festivalbeiträgen zuhören, so lieferte Bert Nogliks Beitrag zB. die Analyse zum Vortags erlebten. Und nicht zuletzt gab es ein Solokonzert von Irène Schweizer, deren Pianospiel in ihrer Heimatstadt, so geht die Sage, immer besonders gut sei. Das stimmte. Sehr kristallin und konzentriert, nicht minder impulsiv und extrem rhythmisiert gab es nun die Praxis nach der Theorie, wie sie sagte, inklusive Don Cherrys „Golden Heart“.
Schaffhausen ist ein kleines Festival, dessen Besucherzahl sich im Schnitt bei 1200 einpendelt. Doch es brummt und summt, Interesse und Kreativität liegt in der Luft, und man ist konzentriert, interessiert, tolerant und herzlich. Das Programm lebt von Gegensätzen, die nicht extrapoliert, sondern sinnvoll nebeneinander gestellt werden, und jede Spielart hat durch die hohe Qualität und den sehr durchdachten Aufbau der Präsentationen seinen Platz. Das Programm ist tatsächlich repräsentativ für die Schweizer Szene, und es fehlt nichts, außer der Elektroakustik. Elektronik wurde tatsächlich kleingeschrieben, vielleicht aber auch gar kein Fehler in dieser Struktur, denn der Kontext der Instrumentenmusik war völlig stimmig so. Die nächtlichen Projektkonzerte im Taptab-Musikraum bedienten schließlich den Clubraum und gingen eher in Richtung Live-Groove-Elektronik. Soviel steht fest, sagt Veranstalter Urs Röllin: man will Musikinteressierte ansprechen und bei der Musik bleiben, keinstenfalls das Fest zum Event hochpumpen. Sein Glück: gerade sind die Zuschüsse für das Festival kräftig aufgestockt worden, denn Kanton und Stadt haben ‚ihr’ Festival quasi als ‚Jazz-Brand’-Marke entdeckt. Der Vergleich mit Moers ist in gewisser Hinsicht interessant. Hier wie dort mussten jahrzehntelang erst mal die Idealisten schuften, und nun wird sich zeigen, welche Gelder woher kommen und wie das Programm beeinflussen. Es gibt eine aktuelle Studie die belegt, dass Schaffhausen in Zukunft die öffentliche Hand dringender braucht als je zuvor. Wird gesponsorte alternative Kultur dann mit jener grandios-vollbescheuerten Grandezza aufgezogen wie hierzulande (Schnell, Schneller, Tempodrom)? Wir wünschen den MacherInnen, dass sie auf diesem exzellentem Level weitermachen und sich ganz stetig-selbstverständlich mit korrekten Netzwerken steigern können, und sich nicht irgendwelche Event- und Marketing-Besserwisser einzuklinken zu versuchen, die alles mal wieder „bigger und better“ machen wollen und dabei die Sache mit ihrem pur-mathematisch-ökonomischem Visionswahn so gründlich verhauen, bis niemand mehr wirkliches Interesse für die Inhalte hat. Denn DA wird Musik und ihre Struktur auf einmal wieder ohne unnötigen Zuckerguss zu konkreter Politik: dadurch, WIE man etwas macht, was man hineinlässt, und was man herauslässt.
(Jazzthetik)