DIE 100 TAGE VON HÜRTH
Von Marcus Maida
Da sind wir also in der neuen schönen elektronisch vernetzten Medienwelt, die uns ja angeblich Chancen für Resets der Menschheitsgeschichte ohne Ende anbietet, und müssen jedoch vor allem jeden Tag wieder aufs neue lernen, deren Images aufs Derbste zu dekonstruieren – bzw.oft besser zu sezieren –, um uns nicht von der Transformation der üblichen dummbeutelig kapitalistischen Biokacke, die sich uns in den dollsten neuen Masken präsentiert, später ganz dreist und soft abstrafen zu lassen. Und nun ein neuer Fall für die Abtlg. „Werteverfall und Untergang des Abendlandes“: Big Brother ist da.
Gemeint ist natürlich nicht der komische Überpappi und das liebgewonnene traditionell-autoritäre Diktatorengespenst aus George Orwells „1984“, sondern die neue Reality Soap von RTL 2, die, mal wieder, zeigt, dass Aldous Huxleys „Schöne Neue Welt“-Version einer sanften, aber ungleich perfideren und wirkungsvolleren Zivilisationsdiktatur mit Publikumssedierung galore, doch näher an der kulturellen Jetztzeit liegt. Extreme Gamesshows und Soaps erfreuen bereits seit einiger Zeit die telegenen Zeitgenossen: in Japan wurden Gameshowkandidaten schon mal gerne mit einem Kanister Wasser und einem rustikalen „Viel Glück!“ in die Wüste geflogen, andere in Kellern mit unzähligen Ungetier gefilmt, es gibt geisterbahnartige Gameshows, die jede Reaktion der Gepeinigten penibelst für das interessierte Publikum aufzeichnen, und in den USA entwickelte sich eine Serie zum Renner, in der sich 40 Jugendliche auf einer Südseeinsel aussetzen und freudigst zu Fernsehguineapigs machen liessen.
Und jetzt das ganze in Hürth bei Köln. Im abgeschlossenen, eigens für die Serie errichteten Containerbau befinden sich 5 Frauen, 5 Männer, 55 halbdurchsichtige Fenster, 28 Kameras (4 Infrarot für nachts), 60 Mikros (und ein Körpermikro per Teilnehmer) und ein gigantisches Team (u.a. 16 Kameraleute und 24 Regisseure), die dafür sorgen, dass die zu erwartenden BigBrother-Addicts 24 Stunden am Tag mit Bildern ihrer Lieblinge versorgt werden. Gesendet wird Montags bis Samstags der jeweilige Zusammenschnitt des Tages, das Internet ist ständig live dabei. Die Kandidaten müssen Aufgaben erledigen, die Big Brother diktiert, dann müssen sie ständig 2 Kollegen anschwärzen (kriegen nur die Zuschauer mit), die meistnominierten werden per TED-Abstimmung alle zwei Wochen aus dem Team gefeuert, allein wer die 100 Tage von Hürth von Alpha bis Omega aushält, kriegt 250.000 Piepen. Ist das jetzt aufregend oder was? Eher nicht. Sicher ist jetzt schon, dass die besten Szenen wahrscheinlich eh unter den Schneidetisch fallen und all-time-chartsburner wie Nasepopeln, Zehennägelschneiden und Pinkeln im Stehen wegfallen, dafür wird wahrscheinlich inszenierte Fiesheit und camcorderfarbige Intrige nicht zu kurz kommen. Interessanter wäre vielmehr, ein heimliches zweites Team würde die O-Töne des Ersten filmen, die heiseren Schreie aus dem Regieraum wie „Komm! Sie duscht sich!“ oder „Sie ficken! Cum-Shot auf 6!“, oder einfach die gelangweilten Kommentare der fluppenrauchenden expresslesenden Medienschwerstarbeiter, die sich Tag und Nacht mit diesem Hardcoreschwachsinn ihr Geld verdienen.
Auffällig aber ist allemal diese allgemeine trendsportartige Geilheit nach Intimität, das ewige Zuguckenwollen und -können, das von tausenden von Webcams über die Jahre schon angeheizt wurde. Entschuldigen Sie, wenn ich hierzu einen Klassiker zitiere: Warhols Filme zeigten vor allem, dass die Leute IMMER Schauspieler sind, wenn sie wissen, dass sie gefilmt werden. Den Rest regelt die zuschauende stumpfe Schere im Kopf. Nicht hier. Aber demnächst in dieser Zeitschrift.
PS
Die siebente und letzte Regel für die Kandidaten besagt, dass jeder jederzeit gehen kann, dann aber nicht mehr hineindarf. Am coolsten wäre es logisch, wenn die Gruppe am ersten Tag geschlossen das Haus verlassen und das Team trotzdem weiterfilmen würde. So ein leerer Raum täte uns allen zu gut …
(Intro)