VERSCHIEDENE
Inuit: Fifty-Five Historical Recordings (CD)
VERSCHIEDENE
Tzotziles: Psalms, Stories and Music (CD / LP)
Keineswegs wollen wir dem üblichem universalistischem Unsinn auf den Leim gehen, den – warum nicht einmal wieder und mit vollster Berechtigung: – Roland Barthes in den „Mythologees“ in dem Artikel über die Fotoausstellung „The family of man“ einmal so treffend demontiert hat: die Menschheit ist eine grosse Familie, und die weissen Babies sind genauso verletzlich und schwach wie die farbigen, so ein Mythos des Alltags, der globale soziale und ökonomische Ungleichheiten von vorneherein durch Null dividiert. Verständlich. Wenn nun ein Subrosa-Unterlabel, das sich der spezifischen Aufarbeitung ethnografischer Musiken angenommen hat, „Le Coeur Du Monde“ betitelt ist, sollten auf keinen Fall vorschnell die falschen weltmusikalischen Schlüsse gezogen werden. Hier verbreitet sich nämlich keine Exotika, sondern eine akribisch aufgearbeitete Geschichte bestimmter ethnischer Musikformen, die respektvoll und historisch korrekt aufbereitet ist und auch in wissenschaftlicher Hinsicht keinerlei Wünsche offen lässt. Mehr noch: darüberhinaus zeigt sich einmal mehr, dass marginal beachtete Wurzeln der sogenannten Folkmusik bzw. ethnischer „Minoritätsmusik“ bewegender in Stil, Form und Ausdruck sein können als die allmonatlichen Ausstösse der popmusikalischen Kulturindustrie, der zum automatischen Tollfinden in den entsprechenden Medien Pre-Set-artig abgefeiert wird. Und das ist sicherlich keine Projektion auf scheinbare „Naivität“ oder „Authentizität“ eines ethnischen Kulturausdruckes und erst recht kein eurozentristischer Romantizismus, denn ganz im Gegenteil relativieren sich die mitteleuropäischen (Popmusik)-Hörgewohnheiten durch die Rezeption dieser Platten ungemein. Ein aktuelles Beispiel sind die 55 Musikstücke, welche die traditionelle Musik der Inuit aus der Zeit von 1905 bis 1987 repräsentieren. Die Stücke aus Ost- und Westgrönland, Südgrönland, Zentralwestgrönland, Uummannaq-Upernarvik, Nordgrönland und auch den kanadischen Territorien überzeugen durch eine ganz eigene Klasse, die sich in den unterschiedlichsten Ensembles und Instrumentierungen auszeichnet. Wir hören Drum-Songs, mehrstimmige Chants, Solo- und Wechselgesänge, Jagd- und Unterhaltungslieder, Duel-Songs, Charm-Songs oder schamanistische Gesänge und finden uns nach 77 Minuten in einem Zustand aus logischem Impressionismus und sachlicher Euphorie wieder. Obschon einige Tunes von europäischen Melodien beeinflusst worden sind, finden sich in Allen genuine traditionelle grönländische Elemente wieder. Aufgenommen wurde das ultrarare Material von dem britischen Ethnologen William Thalbitzer – zumeist auf Wachszylindern -, und gesammelt und geordnet wurde es vom dänischen Musikethnologen Michael Hauser. Ein ausgezeichnetes dickes Booklet kommentiert sämtliche Aufnahmen und enthält zudem eine kurze Histographie nebst Fotos. Einen völlig anderen Kontext bilden die Archivaufnahmen des Indianerstammes der Tzotzilen in Mexiko. Ungefähr 150.000 von ihnen leben in den hohen Bergplateaus im Bundesstaat Chiapas. Zusammen mit den Tzeltalen, einem eng verwandtem Stamm, bilden sie die bedeutendste indianische Gemeinschaft in Mexiko. Aus der Herkunft der Mayakultur leben sie ein traditionelles Leben, das komplett von hispanischen Einflüssen abgetrennt ist. Die Religion der Tzotzilen ist eine Fusion des katholischen Christentums, das ihren Vorfahren auferlegt wurde, und ihrem angestammtem traditionellem Glauben, soweit er überlebt hat. Ihren Heiligenbildern opfern sie unter anderem Alkohol und in letzter Zeit immer häufiger, Coca-Cola und Pepsi, da dies tatsächlich die exklusivsten und teuersten Getränke sind, die sie bekommen können. Die Musikaufnahmen aus den Jahren 1975-92 und 1995-96 bilden den „Allerheiligentag“ ab, die spezifische Zeremonie der Machtübertragung mit den Behörden, die Weihnachtsnacht, Segnungsrituale, Karnevalsmusik und, als spezifische Verbindung zur politischen Unterdrückung dieser Minorität, ELZN-Tondokumente, so die Reden von zwei zapatistischen Befehlsführern, in denen die über 500 Jahre andauernde Unterdrückung, Versklavung und der Versuch des Genozids an der indianischen Minderheit thematisiert wird. Nicht zuletzt dies setzt die vorherigen Tondokumente in die richtige Relation, führt sie weit weg von jeglicher folkloristischen Exotik und gibt den Aufnahmen dadurch die notwendige deutliche politische Schärfe gibt. Sehr verständlich.
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