Neotropic

ICH MÖCHTE TEIL EINER REVOLUTION SEIN

Die Musik beginnt mit einer Tür. Doch wird sie geöffnet oder geschlossen? Auf jedenfall entlässt sie ein Hall, ein Echo, und dann fliesst ein ruhiges gezupftes Thema daher, zu dem sich bald besonnene Streicher gesellen. So beginnt „La Prochaine Fois“, das neue Album von Riz Maslen unter ihrem Synonym „Neotropic“.

Bekannt geworden ist die Engländerin vor allem als Produzentin von atmosphärischen Stücken, denen es bei aller eklektizistischen Machart und der cinematografisch anmutenden Trackarchitektur nie an einer gewissen ansprechenden Simplizität und einem durch häufige Downbeatexkurisoen geschulten HipHop-Gespür fehlte. Das neue Album hingegen zieht seine stille Kraft nicht zuletzt aus einer klaren Bezugnahme auf den Komplex „Folk“, verbunden mit eher abgedunkelten, nahezu industrialartigen Flächenverschiebungen, die jedoch durch den pointierten Einsatz von melodischen Streicherarrangements aufgefangen und in einer letztlich optimistischen Schwerelosigkeit getragen werden, die der Beat gerne einmal wieder auf den Boden zieht und erdet. Die Musik „La Prochaine Fois“ ist Korrespondenz zu einem gleichnamigen Film von Riz, der mit dem Audio zusammen erscheint. Wir sehen sehr persönliche und authentische Filmszenen, die im Stil klassischer Experimentalfilme verarbeitet wurden: Cut-Ups, Unschärfen, abstrakter Schnitt, verwackelte Handkamera, individuelle Filterung, Bilderfahrten, aus dem Auto heraus gemacht. Im Verbund mit dem Audio – der von der Anordnung und der Auswahl nicht derselbe ist wie auf dem Album – ergibt sich jedoch eine klarsichtige dokumentarische Suche nach Erinnerungen, die stark von Emotionen und Erfahrungen geprägt ist.

„Der Film war eine natürliche Entwicklung, wirklich sehr lo-fi gemacht, aber ich lernte sehr viel daraus. Und ich musste mich auf einem neuen Level herausfordern, denn meine Aufmerksamkeitsspanne ist sehr niedrig, ich langweile mich sehr schnell und muss mir dann unbedingt neue Herausforderungen setzen.“ Er entstand innerhalb der letzten fünf Jahre, dokumentiert Reisen, Wege, Impressionen und stellt doch vor allem eines dar: Bewegung. Wir sehen Szenen aus Polen, Australien, sehr viel USA, Chicago, Seattle, San Francisco, und Kanada, Montreal. Der jeweilige Ort spiegelt seine Geschichte zurück. So war Riz zum ersten mal in Polen, und es erschien ihr erstaunlich: wie in einem anderen Jahrhundert. Und so wirken die dort gefilmten Szenen wie auf dem Flohmarkt gefundene Super-8-Familienfilme, mit nicht nur sehr alt wirkenden Häuserfassaden, die gelbstichig und verwackelt daherkommen, sondern auch durch die abgebildeten Menschen, die sich vor ihnen bewegen. Die Bilder sind jedoch aus dem Warschau der Jetztzeit, allerdings von Riz absichtlich mit einem Filter vor der Kamera gefilmt, so sieht die abgebildete Gegenwart noch älter aus. Ein bizarres Erlebnis mit diesem Hintergrundwissen, dass uns versichert, dass die Aufnahmen von heute sind. „Ich spielte da, und die Leute waren unglaublich freundlich und aufgeschlossen. Nicht zu glauben, dass das Land vor 10 Jahren noch „geschlossen“ war. Das grösste Erlebnis war jedoch, mit den Leuten zu sprechen und herauszufinden, wie ihr Leben früher war.“ Riz visuelle wie musikalische Intention ist auf ein überpersönliches Dokumentieren von Zuständen ausgerichtet, das selbstredend von persönlichen Eindrücken seinen Ausgang nimmt. In früheren Gesprächen sagte sie mir einmal, sie bevorzuge die Zusammenarbeit mit „echten“ Menschen – und nicht nur mit klassisch ausgebildeten Musikern. „Das Leben der Leute interessiert mich: was sie in den Coffeeshops zueinander sagen, ihr Flüstern. In dieser Art von Musik ist eine organische Schönheit, eine Art grenzenlose Musik, die Bewusstsein transzendiert.“ Weitere Filmszenen zeigen kalifornische Strände, unterlegt mit eher dunklen Industrialscapes, verlassenen Industrieanlagen oder auch eine Anti-Nazi-League Demonstration vor einigen Jahren – ein simples statement gegen Rassismus, ein klarer kleiner Hinweis, ohne plakativen Fingerzeig. Politisches Bewusstsein liegt der Musik von Neotropic wie selbstverständlich zugrunde, ihr Album „15 Levels of Magnification“ behandelte nicht zuletzt auch die Paranoia und Entfremdung, die durch die allgegenwärtigen Überwachungskameras in den Innenstädten hervorgerufen wird. Riz ist überzeugt davon, dass der permanente Ausbau von Überwachungsstrukturen und deren Implantation in der Öffentlichkeit, und die Gewöhnung daran, zu einem immer intensiveren gesellschaftlichen Burn-Out führt. Im Film ist jedoch nichts explizit politisch codiert, vielmehr verschieben sich die verschiedenen Realitäten und deren spontanen Wahrnehmungsebenen ineinander und ergeben ein überindividuelles Panorama, das keine neue Realitäten konstruiert, sondern die alten und ihren Zustand in den jetzigen abzubilden versucht.

Die Basisidee des Filmes geht auch formal weit über einen erzählerischen Impressionismus hinaus, er ist, bei aller konkreten Bildhaftigkeit, visuell sehr abstrakt. „Die Hauptidee des Filmes ist: es gibt eine Art von Flow, und einerseits versuche ich ihn beizubehalten, andererseits, erzählerisch zu brechen. Es ist klar der alternative-filmmaker-vibe, aber ich bin auch ein grosser Fan von Eisenstein und Collagierungen und will dahingehend noch viel mehr machen. Vieles an meiner Musik ist eh schon sehr cinematografisch.“ Der Weg Neotropics dorthin zeigt sich auch durch die Filmsoundtracks zu Josh Ferrazzanos Independent Film „System Noise“ oder zu Melonie Pooles „Dish“, dessen Audio sie gemeinsam mit der britischen Experimentalelektronikerin Kaffe Mathews produzierte. „Eine Mischung aus unseren Arbeitsweisen: sie macht live sampling und Klangbearbeitung, und ich versorgte die Sache mit den kleinen Melodien und den Beats. Der Film ist definitiv eine Liebesgeschichte, aber mit versteckter Botschaft, die über das reine „Mädchen trifft Junge“-Ding hinausgeht.“ Zusätzlich arbeitete sie an scores für eine Fernsehserie von John Woo in den USA und Kanada – eine komplett andere Arbeitsszene, und wieder eine logische Erweiterung der emotionalen Spurensuche durch Musik. Das Konzept des neuen Albums ist, an den eigenen Erinnerungen zu arbeiten, um sie konkret hervorzubringen. „Meine Musik ist sowieso schon sehr emotionell, aber dieses Album ist viel organischer als alle davor.“ Und es ist auch das Ende ihres 3-Alben-Vertrages mit Ninja / n-tone. Vielleicht, um woanders anzukommen.

„Jetzt ist glücklicherweise genau die richtige Zeit, dass diese Platte herauskommt, denn es gibt eine Art neue Folk-Bewegung in England, in dessen Kontext sie passt. Und obwohl ich nicht explizit musikalisch daran teil genommen habe, fühle ich mich dieser Szene sehr verbunden. Ich habe diese Musik auch immer gespielt, wenn ich geDJt habe, denn ich liebe Folk. Dylan, Nick Drake, es ist ein sehr wichtiger Teil meines musikalischen Hintergrundes, und dies spiegelt sich in dem neuen Album wieder.“ Riz mag es, als Teil dieser Szene betrachtet zu werden, denn sie will sich weiterbewegen, lieber als an einem Ort zu bleiben, dessen Szenen unfähig sind, aus ihrer Statik auszubrechen. Wie gesagt, sie fühlt sich schnell gelangweilt. Riz bezieht sich positiv auf Akustikgitarren, Texte mit Bewusstsein, Inhalten und Optimismus, ohne dabei in nostalgische Hippie-Schwärmerei zu verfallen. „Quiet is the new loud“ ist für sie ein selbstverständlicher und notwendiger Antipol zu hysterisch-langweiliger Clubmusik und reaktionären Rockmodellen, die einen freien Ausdruck eher beschweren denn intensivieren. Natürlich interessiert sie sich immer noch für elektronische Musik, schliesslich macht sie mit diesem Equipment ihre Musik. Aber die notwendigen Grenzüberschreitungen sind es, die Riz Maslen musikalisch bewegen und antreiben.

Die neue Platte klingt jedoch nicht allzu optimistisch, sie verlangsamt die Dinge und Sichtweisen eher. Melodik ist dabei sehr wichtig. Und immer wieder Filmbezüge: Blade Runner, die Suche nach Erinnerungen, und die versteckten politischen Botschaften: erstaunlich, dahin zu kommen.

Eine andere Linie, auf die sich ihre Musik bezieht, ist Psychedelik, nicht umsonst lehnt sich der Titel ihrer zweiten Platte an einen psychedelischen Klassiker an. Und natürlich auch Jazz: „Ich bin über die letzten Jahre sehr durch die ECM-Sachen inspiriert worden. Ich mag Free Jazz, es ist ein sehr natürlicher Weg für mich. Einige Liveacts mit Kaffe gingen genau in die improvisatorische Richtung – ich liebe es, zu jammen.“ An der neuen Platte waren 9 Musiker beteiligt. Auch ihr alter Freund Paul Jason Fredericks, mit dem sie schon bei ihrem Kollaborationsprojekt „Small Fish With Spine“ auf dem belgischen R&S-Label zusammengearbeitet hat, ua. an einer Coverversion von Nick Drake’s „Riverman“. Folgerichtig gründete sie ihr eigenens Label „Council Folk“ mit Fredericks zusammen, „Place to hide / Running“, die erste 7″ von Frederick & Nina ist soeben erschienen, keineswegs puristischer Folk, sondern eher psychedelisierter Northern Soul mit uptempo-vibe.

Noch immer sammelt Riz Kiddie-Keyboards und Spielzeuginstrumente, die sie auf Flohmärkten und Second-Hand-Shops kauft, und auch auf dem neuen Album verwendet. Von ihrer Musik kann sie, nicht zuletzt bedingt durch eine sehr billige Wohnung in einer teuren Stadt, so eben leben. Riz lebt in East-London, aber vielleicht geht sie doch wieder eines Tages aufs Land, weil sie am Ende ihres Tages eben doch ein „Country Girl“ ist, das Pferde liebt, wie sie sagt. La Prochaine …das nächste Mal…es kam ihr in Quebec unter, es behandelt die Frage: wohin gehst du, und damit auch: wohin geht die Gesellschaft. „Ich liebe diese Idee“, sagt sie lachend, „denn ich möchte ein Teil der Revolution sein – auf irgendeinem Weg!“

Diskographie

1994 – Neotropic: Bubbledub / Compilation Track (Different Drummer)

1995 – Neotropic: Tumbleweed ep (Ntone)

1995 – Neotropic: Laundraphonic ep (Ntone)

1995 – Small Fish With Spine: Stickleback ep (Oxygen Music Works)

1995 – Small Fish With Spine: I hate you remixes (Oxygen Music Works)

1996 – Small Fish With Spine: Fugu ep (Oxygen Music Works)

1996 – Small Fish With Spine: Fugu remixes (Oxygen Music Works)

1996 – Neotropic: 15 Levels of Magnification lp (Ntone)

1997 – Neotropic: 15 Levels of Magnification remixes (Ntone)

1997 – Small Fish with Spine: The Hilltop ep (R&S)

1997 – Small Fish with Spine: Ultimate Sushi lp (Oxygen Music Works)

1998 – Neotropic: Mr. Brubakers Strawberry Alarm Clock lp (Ntone)

1999 – Neotropic: Ulltra Freaky Orange (Ntone)

2001 – Neotropic: La Prochaine Fois lp (Ntone)

Equipment

Akai S1000

Akai S3200

Alesis Midiverb

Atari mit Creator

DOD Composer

Fostex Digital Delay

Fostex Quarter Inch Tape Machine

Ibanez Digital Delay

2x Mission 700 Speakers

Roland MC-202

Roland TB-303

Roland TR-606

Seck Mixer 18:8:2

Sony DAT Walkman

2 x Technics 1210 Turntables

(Jazzthetik)

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