Damals, als sie noch Ideen hatten, nahmen sie Acid statt Aspirin und machten eine ästhetische Revolution. Davon erzählen Onkel und Tante ja immer noch: wenn sie sich nicht gerade auf die Schreckensherrschaft des Freakspiessertums der 70er Jahre oder den institutionalisierten Vorruhestand der Politik in den 80ern vorbereiteten, liessen sie sich in den wilden 60ern das dritte Auge wachsen und dann die Fetzen fliegen. Ja gut, es gab noch jede Menge graumeliert-unrecycelbaren Alltag zu entsorgen bis die Heide wackelt, aber das Handwerkszeug und die wirr gestrickten Netzwerke, mit denen das angegangen wurde, mein lieber Scholli, das kann sich teilweise heute noch sehen lassen. PSYCH-E-DE-LIC ! Geht das bitte auch ohne Nostalgie? Die Zeit von ca. 1964 bis 1970 lässt sich tatsächlich als eine ästhetische Explosion in Zeitlupe verstehen, und wer jetzt das Haus in „Zabrisikie Point“ vor Augen hat, liegt schon ziemlich silberrichtig. Die erste Intermedia-, Multimedia- und Mixed-Media-Kultur des 20. Jahrhunderts war so wirr, disparat und konkret wie selten eine kulturelle Errungenschaft davor oder danach. Das Experiment war Ziel, und das Ziel war der Weg. Dass dabei vieles zusammenkam wie auch einiges auf der Strecke blieb, auch das macht die Ausstellung „Summer of Love. Psychedelische Kunst der 60er Jahre“ in der Frankfurter Schirn Kunsthalle (noch bis Mitte Februar 2006) deutlich. Tatsächlich waren sich im Kapitalismus Ästhetik und Politik im Hybrid einer Gegenkultur selten so nahe gewesen wie in den 60ern: „Der Dialog zwischen psychedelischer Kunst und politischer Revolution und Gegenkultur fand seinen Niederschlag in einer einzigartigen Ästhetik, welche die gesellschaftliche, politische, ethnische und sexuelle Befreiung ausdrückte“, so der Grundgedanke der Ausstellung. Das präsentierte Material, über 350 Arbeiten aus den Bereichen Malerei, Skulptur, Fotografie, Film, Video, Environment, Architektur, Grafik-Design und Mode, formt ein eindrucksvolles und hochinteressantes Panorama, das auch für heutige Diskussionen über den Zusammenhang von Ästhetik und politischen Aktivitäten als Hintergrund nützlich ist. Der telefonbuchdicke Katalog ist nicht nur eine fantastische Sammlung psychedelischer Kultur, sondern fächert mit Texten von u.a. Dave Hickey, Diedrich Diederichsen, Joe Austin oder Catherine Sadler und Themen von Freaks, LSD, Plakatkunst, Acid-Rock, Architektur oder kollektiven Utopien und der Politik des psychedelischen Happenings die Palette der Ausdrucksformen und die Vielzahl der Ebenen auf und geht dabei gleichzeitig in die Tiefe. Dort gibt es neue Verzweigungen, die aber an der Oberfläche stets wieder in einem Strom münden: einer Politik der Ekstase, die sich nicht als subkultureller Eskapismus verstehen wollte, sondern die sich in der gerade erst ausdifferenzierenden Popkultur explizit als Gegenkultur formulierte und verstand. Das noch einmal in aller Konkretion, Opulenz und Herrlichkeit mit der gegebenen historischen Distanz zu erleben, ist ein grossartiges und lehrreiches Erlebnis. Genauso wie das grossartige Scheitern dieses Versuches. Sehr empfohlen.
Summer of Love. Psychedelische Kunst der 60er Jahre. Schirn Kunsthalle Frankfurt 2.11.2005 bis 12.2.2006 (danach vom 12.5. bis zum 3.9. in der Kunsthalle Wien). Katalog Hg. von Christoph Grunenberg, Tate Liverpool. Hatje Cantz, Ostfildern 2005, 273 S., 276 Farb- und 47 s/w-Abbildungen