Jamal Tuschik


JAMAL TUSCHIK (Hrsg.)
MorgenLand. Neueste deutsche Literatur.
JAMAL TUSCHIK
Keine grosse Geschichte

Von Marcus Maida

„Sind sie zu fremd, bist du zu deutsch“ – mit diesem schönem Spruch wirbt der Fischer-Verlag für eine Literaturcompilation, in der sich ethnische GrenzgängerInnen einfinden, die alle in diesem viel zu deutschem Land leben oder hier geboren wurden. Herausgeber ist der 39-jährige Jamal Tuschik, der letztens bei Suhrkamp mit „Keine grosse Geschichte“ seinen ersten Roman veröffentlicht hat. Doch zuerst ein kurzer Blick auf „MorgenLand“, der sicherlich interessantesten Alternative zu den deutschen „Pop-Anthologien“, die in den Jubelfeuillettons ihren kreuzlangweiligen medialen Eskapismus-a-go-go abfeiern dürfen. Wenn diese jedoch mit dem Zusatz „Neueste deutsche Literatur“ versehen sein würden, wie das bei „MorgenLand“ der Fall ist, würde sich sofort und berechtigterweise eine klitzekleine wütende Nationalismusdebatte daran festbeissen, hier jedoch ist diese Selbstzuschreibung eine (strategisch notwendige) Selbstverständlichkeit und auf perfide Weise berechtigt, um in den verschiedenen Inhalten dieses Literatursamplers wieder multipel gebrochen werden zu können. Status in bei gleichzeitigem out: diese Inhalte sind sehr disparat, und haben keinen gemeinsamen Zusammenhang und keine andere Klammer als die Tatsache, dass ihre VerfasserInnen in diesem Land geboren und gleichzeitig fremd sind.

Der Umgang mit dieser Tatsache gestaltet sich demzufolge ebenfalls höchst disparat: mal geht es um Kanaken-Pulp im Gangstastyle, Drogenschmuggel via Holland, mal gibt es alberne aber konkrete Alltagssnapshots aus den Berliner Strassen, Flüchtlings- und Asylantengeschichten ohne jegliche Hardboiled-Romantizismen, es gibt die Sehnsüchte einer Frau nach Liebe, projeziert auf einen jungen fremden deutschen Boy, es gibt die übliche Fick- und Sauffolklore mit subkulturellem Lokalkolorit und anderem pittoreskem Sozialkäse, den manche SchreiberInnen nun mal für die Realität halten, es gibt eine e-mail-Korrespondenz, deren Phänomenologie erst entschlüsselt werden muss, es gibt eine Soziologie der deutschen Keuschheit und eine rührend traditionell erzählte Geschichte von einem alten Mann in einer alten Stadt über Mythen wie den von Gilgamesch – und was das mit den zigtausend jungen Soldaten zu tun hat, die in den letzten Wochen des anhaltenden Krieges getötet wurden – all das gibt es, und wie in jeder Anthologie gibt es Brenner und Blindgänger und sehr unterschiedliche Seh- und Herangehensweisen an die Realitäten in diesem sich erneuerndem Standort. Namen: Mariola Brillowska’s, Zoran Drvenkar oder Sarah Khan – zum Beispiel – stossen mitunter intuitiv durch genormte Schrillheit, ranzige Extremitäten oder sanft durchschimmernden social-beat-Schimmel ab. AutorInnen wie Terézia Mora, Selim Özdogan, Abdellatif Youssafi, Oleg Jurjew oder Sherko Fatah – zum Beispiel – dagegen bestechen durch eine gewisse intensive und komplett unprätentiöse Ernsthaftigkeit, die Spass macht und gut tut, und sie halten sich scheinbar intuitiv von jeglicher Pop-Idiomatik fern, sei es aus Anstand, Abgrenzung, Strategie oder ganz banal aus Desinteresse. Und tatsächlich ergeben mitunter die traditionell erscheinenden Schreibweisen immer noch den besten Blick frei auf Komplexe wie Herkunft, sozialen Status, Milieus, Verbundenheiten und Abgrenzungen – und auf GegenWarten und deren Zukunft.

Frühere Zuschreibungen wie „verkrampfte Intellektualisierung einer Ausländerkultur“ finden hier nicht mehr statt, aber keineswegs ist „MorgenLand“ eine „Ausländer-Kanak-Pop-Anthologie“, was auch völlig albern gewesen wäre. Die AutorInnen haben jedoch auch keinerlei Interesse an alibihaften Ausländerahnungszangen. „Auf die Ethnie beziehen sich die Ausgebremsten“, so Feridun Zaimoglu resolut, und Tuschik ergänzt: „So sehen das auch alle anderen Autoren, die sich hier äussern. Keiner ideologisiert seine Herkunft.“ Tuschik, auf der Suche nach dem poetischem Niederschlag des gesellschaftlichen Wandels, wird an den „ethnischen Rändern“ fündig, wie er in seinem treffendem und lakonischem Nachwort sagt, ohne dass hier die „Vorzeigeausländer“ als Vorgartenzwerge für die Gruslparade der ehrlichen Anständigen von den Fliessbändern fallen würden. Die Anthologie bekommt somit den Charakter eines durchwachsenen aber letztlich gut durchkonturierten selbstverständlichen Marksteins, von dem sich in die Zukunft gehen lässt, und das ist einfach schon mal sehr viel wert inmitten der gegenwärtigen Pop-Zombieliteratur, die autistisch an ihrem eigenem Hype arbeitet. Kein Hype nötig hier, dafür genaues gegenlesen.

Dann Tuschiks Solodebut: so einen coolen und unprätentiösen Stilisten, der wie selbstverständlich seine Wirklichkeitslupen und Realitätsbrenngläser aus dem Revers zaubert, gelassen in die Welt hält und daraus eine präzise Poesie des Alltags macht, habe ich seit den seeligen Tagen vom in letzter Zeit etwas überhyptem RD Brinkmann und dem dagegen leider immer etwas unbekannt gebliebenen Nicolaus Born nicht mehr in den Händen gehalten. Der Film in Worten revisited: erzählt wird die Geschichte aus der Geschichte heraus, und zwar aus den 70er Jahren. Das Buch ist eines der besten und treffendsten Erzählungen über diese vor einiger Zeit überhypte und modisch recycelte Epoche, die hier ohne jeden nervenden Hip-Charme und Hype mit vielen Treffern zusammengestaucht wird. Aus der komprimierenden Zeitpresse Tuschiks fallen andere Bilder: die Snapshots, gemacht mit jenen kleinen lachhaften Blitzlichtgewittern, über die hier keine grosse Geschichte gemacht wird. Keine Schlaghosenseeligkeit, kein Plateauschuh-Remix, sondern: Realität, Alter, und was eine Droge! Aufhänger ist die Geschichte einer Rockband, die sich in Kassel gründet und anschickt, im Laufe der Jahre etwas bekannter zu werden. Kommunarden, Hausbesetzer, Hippies, Luden, Loddltypen, Spiesser in Over- und Underground – Opfer gibt es immer wieder, und Verluste werden hingenommen, aber vom Erzähler akribisch-lakonisch ausgeleuchtet. Der Schlagzeuger, auch so ein besessener Notizler, sieht zuviel, denkt zuviel, hält es nicht aus, erhängt sich, die anderen, was sonst als tragikomische Typen, die man meint, alle schon mal in seiner eigenen Geschichte als Transformierte getroffen zu haben, werden schamlos scheissälter, jonglieren unachtsam mit Lebenslügen, verzweigen sich in vermeintlicher coolness und sehen ziemlich alt dabei aus, oder sie erfinden sich falsch neu und vernichten ihre Geschichte dabei. Was Tuschik hier gemacht hat, klingt eigentlich sehr einfach: die frühen Drogen, die normalen unpathetischen Exzesse, die bloody days, die Alltäglichkeiten und Gemeinheiten der Provinz, der Schattenstars und der Genossen und von sich selber erneut Revue passieren zu lassen, eben die besinnungslose Phase, wo mehr passiert als das reflektiert wird, zu sammeln und zu stilisieren, ohne sie überzudramatisieren. Dort, wo Maschinen des Erlebens angeworfen werden, die schnurren, stottern oder auch absaufen, in der Stille des Papiers bilden sie verstaubte Minimonumente, die Tuschik gnadenlos mit Sätzen ablichtet. Eigentlich überrascht nichts an dem Buch ausser sein guter Stil.

Der ist fantastisch, eben nicht prätentiös oder mit dem Hang zu gespreizten gekünstelten Metaphern. „Sie war detailsüchtig. Säume und Borten machten Joy an.“ Plötzlich gibt es Zeitsprünge, die Geschichte bockt wie ein Pferd, das nicht mehr ruhig zugeritten werden will. Es springt ins Kassel der Jetztzeit, aber deren Idiome und Codes werden gelassen wie kleine Mücken in der schreibenden Handfläche zerquetscht – kein Rotz, kein Hurra, kein Pathos. Es gibt Polit-Zusammenhänge, man denkt an mit Politik projezierte Popbands und ihre Probleme mit der „authentischen“ Szene, schliesslich zieht Punk ein, was völlig unprätentiös und ohne jegliche marktschreierische Euphorie beschrieben wird, am Rande, wie vieles, mit der coolen Gelassenheit des Involviert-Distanzierten – bis man merkt, dass die Geschichte die ganze Zeit im Zentrum der Geschichte flaniert. Es geht auch anders, subkulturelle Zusammenhänge im Detail aufzuzeichnen, so dass Spass und Reaktion darauf entsteht. Es gibt Nachrichten aus einer gesellschaftlichen Vergangenheit, in der das Reale noch ungestraft „Leben“ genannt wurde, und von seiner omnipräsenten medialen Agonie noch einige kleine nasse Zentimeter entfernt war. Doch wer genau hinsieht, sieht überall ganz natürliche Kulturspuren von Füssen, die permanent treten, auch unter dem Tisch. Alltagspsychologie wird durch Bilder, Handlungen und Mechanik der zwischenmenschlichen Aktivitäten in Zwischenräumenen eingefangen … das alles fällt in Nebensätzen, bleibt scheinbar achtlos liegen, doch immer wieder wird der alte Faden der Geschichte aufgenommen, zb. der des toten Drummers, dessen Notizen der Erzähler später editiert. Später, in Frankfurt, als die ehemaligen Drop-Outs Karrierre machen, die man angesichts dieser akribisch vivisezierten Verhältnisse nun wirklich nicht mehr so naiv nennen will, wird immer mehr deutlich, dass gewordene Wirklichkeit der einzige Protagonist des Buches ist und sein kann.

Ich bin ganz ruhig begeistert wie auch erschüttert über diese exakten Beobachtungsgesten, und dass diese heute überhaupt noch von jemandem vollzogen werden. Eines der besten Bücher über die 70er und ihrer Metastasen in die Jetztzeit, ohne Mythos, Puff und Patina, autobiographisch-gefälscht und darüber hinausgehend, und unendlich besser als dieser glamhysterische egoautobiographische Schrott der 90er, der omnipotent und viel zu wortreich um sich schlägt, aber das exakte Treffen verlernt hat. Es geht, wenn man vorher nur genau hinschaut und dann eine Sprache findet, die angemessen ist, nicht platt und ohne viel Geschrei vom verdammten Kinderego wegführt.
Denn eines ist klar: jeder hat eine Geschichte. Erzähl Deine.

(Jamal Tuschik (Hrsg.). Morgenland. Neueste deutsche Literatur. 302 Seiten. Fischer TB. Frankfurt / Main 2000. ISBN 3-596-14755-7. 19,90 DM /
Jamal Tuschik. Keine grosse Geschichte. 185 Seiten. Edition Suhrkamp 2166. Frankfurt / Main 2000. ISBN 3-518-12166-9. 18,90 DM)

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