Suicide

DIE RÜCKKEHR DER GEISTERREITER

“Here comes success, in the last ditch.“

Iggy Pop

I. Enter the Mythmachine

Suicide waren die ersten, die Elektronik mit Rock’n Roll-Attitude herüberbrachten und das Unterkühlte, Monotone und Treibende der Elektronik mit dieser ganz speziell verzweifelten Passion des frühen Rock’n Roll verbanden und betonten. Gegründet 1970 in New York, aufgelöst 1980, kurzzeitig reformiert 1986, und dann immer mal wieder, verloren sich Vega und Rev trotz all ihrer Solo- und Nebenprojekte über die unglaublichen 30 Jahre ihres Bestehens doch nie ganz aus den Augen. Das erste Synthie-„Pop“-Duo der Popgeschichte, das die Tradition von Elvis in seiner Sun-Session-Phase, Link Wray und dem ganzen Rocka- und Psychobilly, den Stooges und Velvet Underground mit der vehementen Radikalität von Minimalismus, Free Jazz und freier elektronischer Improvisation auf ebenso zwingende wie schlüssige Weise miteinander verband, schuf seinen ureigenen Blueprint und machte auf überzeugende Weise plausibel, dass Gene Vincent und Kraftwerk (letztere waren übrigens selbst begeisterte Stooges-Fans), wie Alan Vega einmal sagte, in der Tat dasselbe sind.

Suicides frühe Orginalität basierte auf hohem künstlerischem Risiko – über sechs Jahre lebten Sänger Alan Vega und Keyboarder Martin Rev die meiste Zeit ohne feste Wohnung und ohne Geld in New York –, und dem Bewusstsein, dass Reduktion und Konsequenz mehr sein kann als 100 gute Ideen, denen letztendlich Punkt und Faden fehlen. Die Liste der von Suicide beeinflussten Bands ist lang, um nur die offensichtlichsten zu nennen: The Sisters Of Mercy, Soft Cell, Depeche Mode, The Cassandra Complex, The 39 Clocks, Spiritualized, Jimi Tenor, Add N to X, Fisherspooner – sie alle verdanken dem Duo mehr als nur eine Inspiration. Die typischen musikalischen Parameter bei Suicide sind Revs pulsierend-organische Monotonie, die originären Maschinenfunk- und blues generieren kann, und Vegas zittrig-fahrige, atmende, flehentliche und mitunter kurz vorm Überschnappen stehende Stimme. Aus dieser Intensität entsteht eine schneidende Tiefe, welche die heute vor allem in Indie-Kreisen unverzichtbare Kategorie Dringlichkeit hör- und erfahrbar macht. Indifferent ist das nie. Selbst die mit Rick „The Cars“ Ocasek durchgezogenen Produktionen, die dem Duo eine vergleichsweise kommerzielle Richtung geben sollten, was jedoch nie wirklich gelang, wie sie selber zugeben, verlieren nie ganz jene hintergründige Suicide-Schärfe, auch wenn die Abgründe mit trügerisch hedonistischen Dekadenz-Images aufpoliert werden. Alan Vegas mal kryptische, mal offensichtliche Dekonstruktionen von privaten und öffentlichen Mythen ist Ausdruck einer desillusionierten Klarsicht angesichts des amerikanischen Traums, der zum Alp geworden ist, genauso wie sein exaltiertes Hecheln durch die permanente Überidentifikation längst kaputtidealisierter Werte jenes Experiments, das, wie ein philosophisch versierter Schwarzseher mit gut abgehangenem okzidentalem Defaitismus einmal in gutgelaunter Humorlosigkeit geschrieben hat, furchtbar gescheitert ist: America is an experiment, which has gone terribly wrong, brachte Jean Baudrillard die Misere einst auf den Punkt – und genau das macht das Duo Suicide auf eindringliche Weise hörbar. Sie spielen eine sehr „weiße“ Musik, obwohl sie Derivate aus Blues und Jazz in ihr maschinelles Mythentrauma überführen. Das neue Album „American Supreme“ wartet dazu mit sinistrem Funk und kreiselnder Rythmik auf, was einer technoiden Kontexterweiterung – nicht umsonst arbeiteten Suicide beim 98er Remix ihres Klassikers „Cheree“ mit Pansonic zusammen – zuarbeitet, ohne dass es je nötig wird, den alten Boden zu verlassen – wozu hat man ihn schließlich einst selbst bereitet? Die Stossrichtung changiert dabei zwischen Anerkennung der eigenen existenzialistischen Traumatisierung durch die Mythenmaschine USA und dem hartnäckigem rotnackigem Rebellentum dagegen. „I don’t know what to do / should I cry? / I don’t know what to say“ – Vegas Zeilen, ständig wiederholt, vom Schrei bis zum Flüstern, zeigen eine in der Stärke oszillierende Verzweiflung, die bezeichnend, ja stigmatisierend für einen ganz bestimmten, nahezu paradigmatischen Geisteszustand der USA zu sein scheint. Sind die USA ein Land voller hellwacher Alp-Träumer, und der unsichere Held mit der Maske der Stärke ihr fataler Totengräber, der den Erfolg dieses Systems schlussendlich im Grab sucht und findet? Bush: ein weinerlicher Sheriff oder ein wahnsinniger Wimp? „This ain’t no cowboy“, so Willie Nelson, auch eine amerikanische Ikone, über diesen Präsidenten letztens. Vega und Rev machen diese amerikanischen Widersprüche hörbar, sie sind die Geisterreiter, die aus der Geschichte heraus zwischen die eigenen Linien der Gegenwart reiten und sich die Fahne schnappen. Ein Blick auf das Cover von „American Supreme“ sagt genug dazu aus. Vor diesem Hintergrund erscheint es mehr als sinnvoll, mit ihnen über diese Zusammenhänge zu reden und nicht über ihre musikalischen Einflüsse – sie müssen schließlich keinem mehr etwas beweisen.

Berlin, 2. Oktober 2002. Morgen feiern wir hier den Tag der deutschen Einheit. Die Mythenmaschine produziert. Wir selber sind sie. Gestern spielten Suicide im kleinen und renommierten Londoner Club „The End“, „auf einer Bühne, so groß wie eine Briefmarke“, sagt Alan Vega, „Na ja, oder wie der Tisch da drüben“, variiert Martin Rev. Halbe Stunde, Vier Stücke, drei neue und … „Ghostrider“. 800 Leute. „It was packed“, so Vega lakonisch. Presseinteresse a-gogo für das legendäre Duo, die Plattenfirma kann sich vor Anfragen kaum noch retten. Zwei Tage vor dem einzigen Interviewtag in Deutschland wacht der „Spiegel“ auf und fragt an. Zu spät, Leute. Gestern gab’s noch ein Roundtablegespräch mit den Chicks on Speed, mit denen Suicide vor einem Jahr schon mal in London aufgetreten sind. Man wollte die alte und die neue Generation zusammenbringen, heißt es. Der Kult rollt. Überlebende der Punk-Zeit, 30 Jahre später. Kein „Sorry“ auf dem T-Shirt zum Re-Unionkonzert nötig, wie Alt-Sex-Pistole John (My old man’s a) „Fatso“ Lydon kürzlich die letzten Restpartikel Bewusstsein einer einst ziemlich coolen Sache in Halbscham und jovialem Flirt mit dem eigenen Unvermögen, damit im Laufe der Geschichte einigermaßen respektabel umzugehen, charmant-am-Ende auf den Punkt zu bringen wusste. Die Sucht nach Authentizität im beginnenden 21. Jahrhundert treibt seltsame Blüten, dieses Dinosaurier-Gucken auf eine ästhetische Haltung, die, als Punk (ohne –rock) bezeichnet, seitdem durch die Populärkulturgeschichte geisterreitet …und die eines der letzten Aufbäumungen eines nahezu archaisch wirkenden Pop-Wildpferdes zu sein schien, bevor die derzeit im Popkulturverwertungsprozess erkennbaren Imagecodierungen der medialen Mythenmaschinen, die stets eine neue eigene Geschichte voller standardisierter Leidenschaft, Mythen-Euphorie und Fan-Obsession generieren, sich noch gnadenloser und mit penetranter Hilflosigkeit in den Pop-Zirkusrund-Kreislauf der ewigen Wiederkehr des Immergleichen einbrennen. Und manche Neukombination darin nach geringer Laufzeit bereits wieder auseinander fällt, auch wenn sie immer wieder hastig zusammengeklebt werden. Wenn die Replikanten doch wenigstens aufregend wären, möchte man flehen.

Wie aber sehen überhaupt Originale aus?

Vega spricht schnell, mal undeutlich und voller Slang, mal verschluckt er regelrecht die Worte, andere dagegen betont er, spuckt sie dann regelrecht aus. Keine besondere Dramaturgie darin, sondern nur Aufgewecktheit, Schnelligkeit. Impulsiv, hellwach, aber auch etwas in seiner Welt …street wise to the max, ließe sich sagen. Rev dagegen spricht ruhig, etwas heiser, sehr bewusst, sehr wie ein alter Blueser, dito hellwach, messerscharfer Verstand. Beide, was Wunder, ganz in Schwarz, Rev die ganze Zeit hinter verspiegelter Lou-Reed-Gedächtnissonnenbrille, Vega dagegen stellt sich todesmutig dem Tageslicht. Mit seinem schwarzen Barrett sieht er Che – von dem es übrigens mittlerweile auch einen Tabak plus Blättchen gibt, der hier just vor uns liegt – tatsächlich etwas ähnlich. Ganz oben drauf ein „Black Panther“-Badge. Sympathie? Eine Frage davon, sagt Alan Vega, Geisterreiter. Die Mythenmaschine brummt.

II. Die Realität des Alptraums

Marcus Maida: Letztens meinte jemand, Suicide sollten doch endlich mal anfangen, Film-Soundtracks zu machen. Ich sagte: das haben sie doch schon immer gemacht – und zwar zu diesem oberverrücktem Film namens „USA“. Korrekt?

Martin Rev: Sehr gut. Nicht dem Film, sondern dem real movie …

Alan Vega: Ich hab sogar öfters Scores für Filme von Freunden gemacht … coole Sache … sehr gute Erfahrung, auch mal gutes Geld … und auch mal einen Track zu einem Fassbinder-Film, das war „In einem Jahr mit 13 Monden.

Martin Rev: Aber das mit dem Film USA, das stimmt –

Alan Vega (singt leicht schief): … born in the USA …

Martin Rev: – ein seltsamer Film –

Marcus Maida: – oft genug ein B-Movie –

Rev und Vega (lachen): Absolut richtig. Aber unser Film ist dagegen low budget und low-tech …

Marcus Maida: „Beim Hören von “American Supreme” drängt sich der Gedanke auf, dass ihr euer Verhältnis zu den USA direkter als sonst auf den Punkt bringen wollt. In dem Sinne, dass euch die Ereignisse von 9/11 und danach zwar nicht direkt zu einer Reaktion darauf brachten, aber eine Art „Kick“ waren, bestimmte Sachen auf jeden Fall expliziter auszudrücken – auch verglichen mit dem letzten Album „Why be blue“ von 1992, das ja vergleichsweise poppig und harmlos zu den bisweilen dunklen und klaustrophobischen Szenarien des Nachfolgers klingt.“

Rev beteuert, dass der USA-Fokus von „American Supreme“ keineswegs geplant war, es passierte einfach: „Wir haben wirklich gerade zu der Zeit angefangen zu arbeiten. September 2001 fingen wir konzentriert mit der Produktion an. Ich gab Alan die Tracks, und er legte mit den Texten los.“ Vega: „Die letzte gemeinsame Platte vor 10 Jahren, 30 Jahre zusammen, wir fangen an, aus irgendeinem Grund was zu machen, und was passiert – 9/11!“ Bei Textzeilen wie „the ultimate tragedy“ (aus „Swearin’ to the flag“) drängt sich ein Bezug aber geradezu auf. Vega: „Es sieht so aus, aber nur im Blick von diesen 12 Monaten danach. Einige Worte habe ich damals tatsächlich geändert, aber das war marginal, die meisten Sachen standen schon. Ich bin nun mal diese eine Person, die diesen Kram schreibt, weil ich diese dunklen Seiten sehe, ich bin so geboren. Dass 9/11 dann passierte, ist verstörend und bizarr. Suicide haben vor 30 Jahren angefangen, und jetzt sind wir eine der am längsten bestehenden Bands in der Geschichte des Musikbusiness, denk darüber nach!“ Wie siehst Du das, Martin? „Es sieht vielleicht spektakulär aus, aber, wie Alan sagte, wir gehen auf dieser dunklen Seite, die Themen werden uns nicht gegeben, es ist unsere Natur. Es braucht Zeit, um das, was wir wollen, aus der Musik herauszufinden. Ich denke, das Album ist explizit in dem Sinn, dass da ein definiter Schritt war, Bewegungen … nahe dran an bestimmte Themen und Situationen, genauso wie New York Stück für Stück wie ein Apfel verfault …

Vega: „Für mich war New York immer der freieste Platz der Welt, und dann kamen eines Tages diese Arschlöcher und bombten rum, und jetzt hast du überall die Bullen rumrennen. Viele Strassen sind immer noch gesperrt und werden das für immer sein. Überall diese Metallmaschinen zur Überwachung. Ich sehe sie, wenn ich mein kiddie zur Schule bringe. Alles ist mit Überwachungskameras vollgestellt, überall, wohin du gehst. Ich kann nicht mehr auf die Strasse pissen, ohne aufgenommen zu werden (lacht)…“ Rev: „Das passierte auch schon vorher …“ Vega: „…aber jetzt derart stark, überall dieser „Security“-Schrott … diese Stadt wird nie mehr dieselbe sein, und das ist es, was mich derart ankotzt wegen der ganzen Sache … so sehr, dass ich froh bin, von da abhauen zu können, dass ich’s nicht mehr aushalte. Früher war ich für drei Monate in Paris, aber dann dachte ich, Zeit wieder nach Hause zu kommen (Rev nickt und bestätigt ständig:“… right … yeah …“) … jetzt ist da eine derart große Lücke, ein totale Veränderung, und global erst recht.“

Tja, hart war das Leben für den verstört-verstörenden Grosstadt-Cowboy, den Elektro-Psychobilly-Wiedergänger oder den gallenschwarzen Redneck, der die wildgewordenen USA-Mythen mit seinem elektrischen Lasso einfängt und ihnen sein Brandzeichen aufdrückt, und das ausgerechnet in New York, immer schon, aber 2K2 insbesondere, soviel ist schon mal jetzt klar. Diese Stadt, die Vega, der dort Anfang der 70ern als Part-Time-Penner und Kleinkrimineller gelebt haben soll, in ihrer vitalen Multischizophrenie jedoch auch stets mit frisch verfaulten Mythen zum kaputtlachen und –machen fütterte, war stets Nährboden und Brennglas für Suicides Ästhetik, aber heutzutage, so Vega, wird’s dort wirklich eng, fade und nahezu unerträglich. Trotzdem beteuert er, weiter dort leben zu wollen, Rev dagegen setzt sich schon oft und regelmäßig ab. New York sei seine Homebase, sagt er, aber er möchte sich da nicht mehr ausbreiten, die Kohle für ein Kondo, also ein luxuriöseres Loft, hat er eh nicht, daher lebt er die meiste Zeit des Jahres in Quebec und Montreal.“ Vega: „Wirklich hübsch da oben. Man kann da wirklich gut ausspannen … und dann unten wieder Verrücktwerden (lacht).“ OK, Leute, wenn dann mit „Swearin’ to the flag“ nicht 9/11 gemeint ist, worum geht’s dann in dieser ultimativen Tragödie? Vega klar und bestimmt: „Es ist ein Anti-Patriotisches Stück. Über den dummen amerikanischen Patriotismus, die Ikone, diesen idiotischen Scheißdreck, dass Leute auf die Flagge schwören.“ Rev: „Sie ist wirklich ein derartiges Symbol in Amerika … das ist die größte Sache.“ Vega: „Sieh dir das Album Cover an! Ich überlegte mir tatsächlich: diskriminiere ich die Flagge? Kann ich dafür verknackt werden? Einige sagten: Ja!“ Wer hat das Cover gemacht? Es ist großartig. Rev: „Eine Grafik-Agentur namens „Crash“ aus London, die sich angeboten haben, sogar darum gebeten haben, für kein Geld das Artwork zur neuen Platte zu machen. Sie haben ne Menge Zeit dafür gegeben. Ich denke, es ist perfekt geworden.“ Vega: „Definitiv! Der neue Jasper Johns oder Andy Warhol würde heute so arbeiten! Es ist so futuristisch, es ist großartig … erstaunlich. Und der Titel in Verbindung mit Suicide, das hat so viele Bedeutungen, mit der Flagge. Und der Orangeton im Kontrast mit dem Schwarz: wie von Mülltonnen, oder wie einem „Achtung!“-Schild, ein Warnschild auf dem Highway. Wir haben das Artwork nicht angerührt, sie haben’s alles alleine gemacht, und sie hatten echt Bammel wegen unsere großen Reputation.“ Die Crash-Mitglieder Scott King als Art Direktor und Matt Worley, der im Cover-Inlay ein ergänzendes und anregendes Mini-Essay in zwölf Punkten mit Zitaten von Iggy Pop, Guy Debord, Antonin Artaud, Donny Osmond und Tony Hancock verfasst hat, haben tatsächlich gute Artwork-Arbeit daran geleistet, um Suicide 2002 in Sachen Explizität wie Kontexterweiterung auf den Plan zu bringen. Zeit, das auch im Gespräch zu tun.

Marcus Maida: „Das zentrale Thema bei Suicide war immer das akustische Abbilden des anderen amerikanischen Traums, besser: gleich des amerikanischen Alptraums. Aber die Dialektik darin, und die Widersprüche, die daraus entstehen können, wenn man selbst in dieser Kultur aufwächst, von ihr geprägt wird, sie internalisiert, aufnimmt und dann anders interpretiert und weiterträgt, war stets genauso wichtig. Man bewegt sich scheinbar frei darin, ist aber doch wie in einem Käfig eingeschlossen. Wie seht ihr dieses System?“

Martin Rev: “The dream is the nightmare. Der Traum ist das Trugbild und der Hype, aber der Alptraum ist die Realität. Und ich denke, eine Menge Leute, viele aus der Arbeiterklasse, leben für diesen Traum und glauben daran, verteidigen ihn zäh und weigern sich zu sehen, dass er immer noch nur ein Traum ist. Wir müssen die Terroristen kriegen, die Fahne schwenken, Bin Laden als den Feind kennzeichnen … nichts hinterfragen, gar nichts. Und wenn wir Bin Laden kriegen, ist alles fein. Die Leute können sich nicht trennen von diesem Traum, und diesem Vertrauen in die Führerschaft, dass das System immer recht hat …“.

Alan Vega: „Sie freuen sich, wenn sie das Geschirr von Millionären waschen können … das ist die amerikanische Gesellschaft…!“

Wir sprechen über die fatale Überidentifizierung mit dem System, über Wahlen, Wahlfälschung und den amerikanischen Wahlbetrug, über den sich Rev ausgesprochen gut informiert äußert. Vega setzt den politischen Schwerpunkt dagegen etwas anders: „Darüber hinaus hat dieses Land seinen Sinn für Humor total verloren! Alles muss politisch korrekt sein … do the right thing hier, do the right way da … du kannst keinen Witz mehr über irgendwas überhaupt reißen, denn du musst ständig aufpassen, wen auch immer nicht zu verletzen. Es ist am Arsch!“ Rev stimmt zu: „It’s fucked up.“

Marcus Maida: „Wenn ihr das nun mit der Situation in den 70ern vergleicht, als ihr angefangen habt?

Martin Rev: „Nehmen wir jemanden wie Nixon. Egal, was für ein Typ er war, er hatte tatsächlich noch so etwas wie ein „staatsmännisches Format“, eine Art statemanship, sogar Reagan war besser.“

Alan Vega: „Das Land geht vor die Hunde, es geht nach unten. Die Erziehung wird schlechter und schlechter, ob in den Projects oder in den Vororten. Und das ist unser Präsident der USA: er guckt fernsehen. Allerdings, sogar Reagan war da besser, sogar Nixon war da vergleichsweise ein Staatsmann, er ging nach China, sah sich andere Länder und Kulturen wenigstens an. Heute wird mit der Phrase Demokratie nur noch rumgewedelt.“ Beide reden durcheinander und ergänzen sich: „Bush ist nur eine Reflektion dessen, was in diesem Land passiert … Amerika bekommt, was es verdient hat … wir haben unsere kids so lange vernachlässigt.“ „Ich habe ein Kind“, so Vega, „und kann mir keine gute Schule für ihn leisten, es ist derart teuer, es ist eine Schande. Als ich nach New York kam, gab es noch ein ziemlich gutes Schulsystem, ich bekam eine großartige Erziehung, hatte großartige Lehrer, aber ich war am Ende des Kreislaufs. Von da an ging’s nur noch bergab, und das setzt sich fort.“

Martin Rev: „Aber die größte Veränderung in diesem Land ist, dass es eine riesige Angstfabrik geworden ist. Anthrax zum Beispiel: eine Frau, die weder bei der Post arbeitete noch jemals ausging, bekam es. Sie war das erste Opfer, das die Boulevardmedien groß aufgeblasen haben. Und dann kommt Cheney raus und sagt: ihr bleibt ganz dicht bei uns und stellt keine Fragen. Leute, die zu kritisch sind, sollen wie Marionetten an Fäden gehalten werden. Es gab auch Angst in den 70ern, klar…“.

Alan Vega: „Aber in den 70ern demonstrierten wir, gingen auf die Strasse, gegen Vietnam und die Folgen. Wenn du das jetzt machst und die grundlegendsten Grundrechte anwendest, behandeln sie dich wie einen absoluten Staatsfeind!“

Martin Rev: „Es gibt immer mehr Restriktionen im Demonstrationsrecht. Leuten in Washington ist der Prozess gemacht worden, bloß weil sie in der Nähe einer Demonstration waren.“

Marcus Maida: „Ein anderer Track ist auch sehr interessant auf der Platte: „Dachau, Disney, Disco“ – was bedeutet denn diese Wortkette für euch?“

Vega erklärt, es ging ihm um die ungeheuere Vorstellung von einem Konzentrationslager, das wie Disneyland aufgezogen ist, in Dachau, mit einer Disco darin: „verrückt-wahnsinnig-dumm“, sagt er, und dass durch diese Wortkombination Images konstruiert werden, die wie Pop funktionieren. Denn die Leute nehmen oft nur noch Images auf, so Vega, dem man als Künstler jüdischer Herkunft (Vega ist unter seinem bürgerlichen Namen Alan Bermowitz schließlich auch ein mittlerweile anerkannter Lichtskulpturkünstler) nicht unbedingt pre-set-artig Antisemitismus unterstellen sollte, und in dieser Neukombination wird der konkrete Wahnsinn der interdependenten Vernetzung von Spaßkultur und Vernichtung vielleicht etwas deutlicher. Rev dazu: „Was Bush den Leuten nach 9/11 sagte war: Keine Sorge, Leute, macht das, was ihr immer getan habt – geht zurück an eure Arbeit, und geht mit eueren Kindern nach Disneyland. Das ist Amerika für ihn.“

Marcus Maida: „Wohlstandswahn – das bringt mich zu euerem Umgang mit „Erfolg“ und „Verlieren“. Ich erinnere mich an ein Zitat von dir, Alan, Anfang der 80er: ‚Du darfst nicht in Begriffen wie Karriere denken’, hast du da gesagt, ‚wenn Du ein Künstler bist und daran zu arbeiten hast’. Das klang gerade Anfang der 80er sehr gegensätzlich zum beginnenden Yuppie-Jahrzehnt – wie siehst du das jetzt im beginnenden 21. Jahrhundert?

Alan Vega: „Dasselbe Ding, dieselben Leute. Es ist nett, ein bisschen Geld zu haben, es hilft uns bei unserer Arbeit. Aber Karriere, das Wort alleine ist so albern. Ein Typ sagte mir letztens: ‚Oh, du hast solange eine Karriere als Künstler gehabt – wann gehst du in Pension?’ Mann! Ich mache meine Kunst, meine Musik, so wie ich scheiße und atme!!!“

Martin Rev: „Erfolg ist so relativ. Wenn du den Erfolg fürchtest, kann das Geld kommen. Auto, Haus, das bedeutet Erfolg für die Leute, und dann ein größeres Haus, ein größeres Auto …“

Alan Vega: „Und dann wirst du erschossen! (lacht) Ich habe so viele Künstler erlebt, die sich wie Huren für das, was sie Erfolg nannten, aufgeführt haben. Aber Suicide haben Respekt, den kannst du dir nicht für eine Million Dollar kaufen (lacht). Du brauchst wenige Dinge im Leben: eine Frau, die du liebst, eine Arbeit, und Gesundheit, vor allem.“

Marcus Maida: „Und Suicide ist die Negativ-Formel von Erfolg im Sinne von Iggy Pops Zitat im Cover-Inlay: „Here comes success, in the last ditch?“

Alan Vega: „Genau. Das bedeutet: endlich kommt der Erfolg, am Ende von allem, im Grab – in the last ditch … wenn es zu spät ist. Aber wir sind immer noch hier.“

Marcus Maida: „Martin, angefangen hast du als Keyboarder in einer Free Jazz Gruppe?“

Martin Rev: „Ja, als Junge, aber es waren eher elektronische Improvisationen.“

Alan Vega: „Ich komme eben mehr aus einem Rock-Kontext. Für mich ist HipHop heute sowas wie der neue Jazz. Klar, ich liebe Free Jazz, Trane und die Jungs …“.

Marcus Maida: „Und habt IHR eine Definition von Jazz? Manche Leute sagen, es sei vor allem Freiheit“.

Martin Rev: „Musikalisch gesehen ist es amerikanische Musik, stammt vom Blues ab, wie Rock’n Roll, sehr organisch. Freiheit? Ich weiß nicht, eine Menge Musik ist Freiheit. Die alten Blueser, die da rumsaßen und rauf und runter schrammelten, fühlten sich sicher frei. Es ist eine Sprache, soviel ist sicher …“.

Marcus Maida: „Ich frage, weil Suicide vor allem sehr treibend, monoton und sequenziell ist, und man würde den Sound nicht beim ersten Hören mit Jazz verbinden.“

Martin Rev: „Vielleicht nicht, … nicht offensichtlich, sicher … aber ich habe eine Menge vom Jazz abgeleitet. Wenn wir live spielen, reproduzieren wir nie, sondern spielen immer aus dem Moment heraus.“

Alan Vega: „Und als wir die alten Nummern wieder übten, Rocket U.S.A., Ghostrider, spielte Marty die Sachen dreimal so schnell wie normal (macht Motorgeräusch). Ich kam da nicht mehr rein, also sagte ich ihm: ‚Hey, Junge, langsamer, Tempo runter! „Je älter er wird“, schüttelt sich Vega, „desto energischer wird er.“

(Jazzthetik)

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