Omri Ziegele Billiger Bauer

OKTOPUS MIT VIELEN KREATIVEN ZELLEN

Ein klares Bekenntnis zum Free-Form-Kollektiv: das ist nicht immer einfach heute und muss sein Publikum finden, aber der Findungsprozess bei diesem Zürcher Oktett ist mittlerweile in einem Stadium der Reife angelangt, das noch nicht Sättigung und auch noch nicht Aufplatzen der überreifen Früchte bedeutet. Mit seinem zweiten Album „Edges & Friends“ auf Intakt gab es letztens acht sagenhafte Stücke zwischen allermodernstem FreeJazz und Komposition heraus, die grooven, explodieren, swingen, streicheln, kitzeln und kratzen. Zeit, dieses interessante offene Klangkonglomerat einmal kompakt zu fokussieren.

Als Omri Ziegele den Billigen Bauer (der Wortsinn ergibt sich übrigens nicht im Discounter-Sinne, sondern von recht und billig, also vielmehr standhaft, ehrlich) vor 10 Jahren in Zürich gründete, war es zunächst eine Art Projektband der dortigen Werkstatt für Improvisierte Musik und schon damals ein Brennpunkt der multiaktiven Zürcher Jazz- und Improvszene (Vgl. Marcus Maida: Intakt – das offene Buch der Improv-Musik, Jazzthetik 7-8/2003). Damals sagten viele dem Bauer eine kurze Lebenszeit voraus, beim Unerhört-Festival im November 2006 zeigte sich jedoch erneut, wie sehr sich Kontinuität auszahlt – zumindest im kreativen Sinne. Der Gruppenkorpus hat sich nach unzähligen Transformationen – lang ist die Liste aller ehemaligen MitspielerInnen – zu einem festen Gefüge entwickelt, in dem namhafte und multiaktive Protagonisten der Zürcher Szene vereint aufspielen, und auch der beim Unerhört erstmal vorgestellte 14köpfige Großbauer, der fortgesetzt werden soll, überzeugt durch eine kompakte Klasse.

Das Wort ‚Projekt’ gebraucht Ziegele dafür nicht mehr: „Ich setze immer auf Langfristigkeit. Meine Hauptarbeit sind die Sachen, wo man ganz lange ineinander arbeitet, und dann wird es immer komplexer und spezifischer. Ich wollte mit dem Bauer eine Basis haben, mit der man regelmäßig spielen kann, ohne CD-, Promo- oder Erfolgszwang. Pur, nur die Musik. Nach 10 Jahren ist vor allem diese Konstanz das Schönste am Ganzen. Jeden Monat gibt es in der WIM immer noch ein öffentliches Probenkonzert, dann Intensivproben und natürlich Konzerte. Die Kontinuität ist da.“

Der Fokus für den Bauer ist einfach: er ist ein hochkomplexer und diffiziler Körper, der ungemein zupacken kann, ein multidirektionaler Oktopus mit sehr vielen kreativen Zellen, die ein sehr lebendiges und vor allem auch differenziertes musikalisches Panorama gestalten können, in dem die individuellen Stimmen hervorragend im Gesamtspiel zusammenkommen. So gibt es keinerlei Nerv-Tuttis, die man immer wieder bei großen freispielenden Ensembles zu hören bekommt, sondern vielmehr faszinierende Entwicklungen und Transformationen durch die korrespondierenden autonomen Untergruppen. Beim Bauer geht es um die lebendige Korrespondenz verschiedener fragender Stimmen in der versuchten Form einer gemeinsamen Antwort. Hier – speziell in der komponierten Grossbauer-Suite Make the Dust dance – wird einfach nicht mehr gesucht auf der Bühne. Jede Stimme hat Sinn, und die dynamische Interaktion stimmt. Der Billige Bauer ist ein bezeichnendes eindrucksvolles Beispiel für die potenzielle Kreativität und bewusste Freiheit der Schweizer Szene, die der geografischen und bisweilen geistigen Enge des Landes etwas Eigenes entgegenzusetzen hat.

Das interne Gerüst indes bietet viele Reibungspunkte: E- und Kontrabass sind eh schon schwierig, dann müssen die zwei – beim Großbauer drei! – Drums plausibel gemacht werden, es gibt die ewige Suche nach einem Cellisten, obwohl bereits drei verschlissen worden sind, und mit der für das Gesamtgefüge ungemein wichtigen Pianistin Gabriela Friedli, ohne auf Quote zu pochen, nur eine Frau im Männerbund. Wie funktioniert dieser Haufen? Ein offenes Bauer-Geheimnis ist, dass Ziegele ein integrativer Typ ist, der Leute zusammenbringt, die sonst eigentlich nicht zusammenkommen oder miteinander spielen würden. „Das konnte ich immer schon. Ich bin schnell im Denken und interessiere mich für Leute aus den unterschiedlichsten Zusammenhängen. Es gibt bei uns aber keinen Sozialschwitzzwang, wo man noch nach 10 Stunden nach dem Spielen zusammenhocken muss, obwohl es solche Beziehungen gibt.“ Der Bauer ist keine Kommune, sondern vielmehr ein starkes Kollektiv von Individualisten. Woher kommt das Integrative bei Ziegele, und wie schafft er es, diesen Korpus zu vereinigen? „Ich bin ja eigentlich ein Maniker, Fingerneurotiker, ein Wahnsinniger. Kunst muss immer an die absoluten Grenzen gehen, physisch, psychisch – sonst interessiert mich das nicht, sonst mach ich lieber Schreinerarbeiten oder bin bei meinen Kindern“, definiert Ziegele den eigenen Grund. „Der Boss zu sein, hat mich dabei nie interessiert, das find ich meistens öde. Das Spannendste passiert, wenn viele mit ihren Fähigkeiten an einem Strang ziehen, wenn es ein Konglomerat von Möglichkeiten gibt, und jeder dabei seine Person schillernd zeigen kann. Das kann der Bauer toll und das hat er immer mehr gelernt. Die absolute Freiheit wächst ja nur in Verantwortung für die anderen. Du hast stets die Verantwortung, du bist nie nur Solist. Wenn du solierst, dann führst du das Teil dahin, du hast die Verantwortung, dass du es dahin bringst. Gibt dir das Kollektiv dann Explosionsorte, oder lässt es dich im leeren Rahmen stehen? Im besten Fall ist es wie eine Schanze, über die du unheimlich weit fliegen kannst.“

Ziegele betont die große Vielschichtigkeit, Multiaktion und Konzentration, die für das Gelingen dieses Prozesses wichtig ist. Es komme nahe an Grenzüberschreitungen spiritueller Natur heran. Man spürt, dass er und die Band ihr Spiel ernst meinen und bis zur Selbstvergessenheit gehen: „Du fängst bei Null an. Das größte Glücksgefühl ist es, wenn du alles vergisst und fragst: was mach ich da? Aus dem naiven Vergessen und nicht mehr Wissen sich Hineinbegeben in das Offene. Da kann eine Fallhöhe entstehen, die einen aus dem alltäglichen Leben hinauskatapultiert.“ Ziegele vergleicht seine Spiel- und Lebensform mit dem Auftreten vieler heutiger jungen Musiker: dort gebe es oft kein Feuer, keine Existenzialität, keine Wahnsinnigkeiten. Und er ist nun mal ein Typ, der einen hohen existenziellen Anspruch an Kunst hat: „Wenn ich etwas lese, muss es mindestens Kafka sein. Ich lese keine Krimis oder funktionale Geschichten, da muss schon etwas mehr sein. Es muss etwas brennen! Ohne diesen Willen, etwas zu generieren, geht es nicht, genau so wie es Leute braucht, die an dieser Textur und Architektur bauen, an diesem Sound, der sich immer mehr erweitert und spezifiziert.“

Dass der Bauer dabei etwas aus der Zeit gefallen erscheint, ist auch Ziegele klar. „Wir sind ja alle Puritaner auf eine Art. Wir haben ja auch keine Elektronik, denn wir glauben, dass die Instrumentalmusik nicht aussterben wird. Es gibt Dinge, die man virtuell nicht ersetzen kann. Die Tradition der Freejazzkollektive jedoch, das vergessen wir, total. Vieles im Jazz kann man nur noch reminiszent hören, nicht mehr 1:1. Vieles kann ich nur noch zitieren: ein Fenster aufmachen, und dann schnell wieder zu. Im Bereich der improvisierten Musik und dem Jazz ist schon derart viel ausgelotet, dass du nur noch weiter kannst, wenn du dich auf den Weg begibst. Das tönt zwar ein bisschen esoterisch, aber so ist es. Es geht nur mit den Leuten, die Neugier haben und die Grenzerfahrungen brauchen und wollen. Auch Leute, die den archetektonischen Willen haben … und den Mut! Ein Bauer braucht Mut!“

Ziegele redet ruhig und klar, aber was er sagt, klingt nicht nur vom Inhaltlichen, sondern auch bezogen auf den bühneneigenen Gestus, ziemlich pathetisch, was er unumwunden zugibt. Sind Expression, Passion und der explizite Verzicht auf Coolheit und Zurückhaltung auch ein Stilmittel? Der Moment des Theatralischen, antwortet Ziegele nach einigem Nachdenken, ist schon groß. Zum Pathos habe er als Europäer natürlich ein gebrochenes Verhältnis, aber: „Ich verbiete mir das Pathos nicht, ich glaube, das es eine Qualität hat, die sonst keine andere Haltung so haben kann. In den USA haben die im Showbiz ein viel ungezwungeneres Verhältnis dazu. Du musst wissen, dass du auch Unterhalter bist. Auf der Bühne rede ich aus der Luft heraus. Das tollste war z.B. am Festival in Lausanne, als wir vor Archie Shepp gespielt haben. Da hab ich einfach erzählt und erzählt, und die Leute fingen an zu lachen, ich hab gemerkt: da geht ne Kiste auf! Du hast die Aufgabe, die Situation lockerer zu machen. Es braucht absurde Stimmungen und Humor, und Pathos und Ironie können sich in kürzester Zeit abwechseln. Das kann durchaus in Nonsense kippen, aber wir sind keine ironische Band, das möchte ich auch nicht.“

Billiger Bauer ist nicht zuletzt eine sehr narrative Band, die von Anfang an mit Texten gearbeitet hat, die immer konziser und bewusster in den Musikkorpus eingearbeitet worden sind. Der Bauer ist, so Ziegele, kein Statiker und Klangkünstler, es gibt immer explizite Literaturteile, die er mit klarer und oft auch pathetischer Stimme rezitiert. Woher dieser Hang zur Erzählung? Ziegeles Antwort kommt wie aus der Kanone: „Eigentlich bin ich Pfarrer, ein Country Preacher. Am liebsten würde ich den ganzen Tag auf der Kanzel stehen und den Leuten die Leviten lesen. Cannonball Adderley war auch Preacher. Ich bin ein stark moralischer, manchmal auch ein altmodischer Mensch, und ich sehe durchaus die Dinge, die da verteidigt werden müssen.“

Der zwischen Abstraktion und Konkretion changierende große US-Poet Robert Creeley, der 2005 starb, war lange Zeit ein wichtiger textlicher Bezugspunkt für Ziegele. Von Beginn an war Creeley, wie Ziegele auch, von den expressiven und emotionalen Improvisationen von Parker und Coltrane inspiriert. Creeley nahm Alben mit Steve Swallow auf, der in Yale ja nicht nur Komposition, sondern auch Literatur studiert hatte, und der bereits 1979 Verse von ihm vertont hatte. Die traditionelle und eigentlich selbstverständliche Interaktion von Jazz und Literatur, beim Billiger Bauer findet sie eine logische und expressive Resonanz. Seit zwei Jahren ist der Inhumanismus-Poet Robinson Jeffers Ziegeles Lieblingsautor, doch die Worte für die Make the Dust dance-Suite schrieb Ziegele schließlich selbst. „Die Bedeutung dieses Texts ist auch, dass einem klar ist, wie marginalisiert die eigene Musik ist, wie wenig Publikum man letztlich wirklich hat. Was für eine potente starke Kunstrichtung improvisierte Musik ist, doch wie wenig wirklicher Response da ist. Der Text ist eine Eigenmutmachung, die sagt: bleib dran! Der Staub wird immer tanzen, wenn du spielst! Es ist ein Sinnbild für die Verhältnisse.“

Dann wäre da noch Dylan Thomas, natürlich. Sein Zitat „Silence, Silence to do, when earth grew loud“ leitet Edges & Friends ein. Stille, so Ziegele, ist die Folie, der Urgrund, aus dem Musik entsteht. Und er schwärmt von John Cales Falkland Suite, der Vertonung von Thomas’ Gedichten. „Diese Platte hat’s mir immer angetan. Cale hat ja auch so ein Pathos, wunderschön, er ist auch einer meiner Lieblinge. Eine Schwingung, die mich trifft. Und sie produziert immer neuen Sinn über die Jahre.“

Omri Ziegele Billiger Bauer Edges & Friends ist auf Intakt erschienen.

Billiger Bauer 2007:

Omri Ziegele: Altosax, Voice

Jürg Wickihalder: Sopransax

Bernhard Göttert: Cello

Gabriela Friedli: Piano

Jan Schlegel: E-Bass

Herbert Kramis: Bass

Marco Käppeli: Drums

Dieter Ulrich: Drums, Bugle

(Jazzthetik)

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