Schaffhausen 17

17. Jazz Festival Schaffhauser / 10.-13.Mai 2006

Von Marcus Maida

Noch disparater, noch stimmiger, noch besser: ein äußerst guter Jahrgang in Schaffhausen. Das Referenzfestival der Schweiz ist längst zu einem der spannendsten und erfrischendsten Festivals gewachsen, auf dem sich immer noch fantastische Entdeckungen machen lassen. Der erste Abend ist immer der Schwerste. Doch einige Stimmen fragten nach dem Auftritt von Franco Ambrosetti & The Blue Mood, ob es überhaupt noch besser kommen konnte. Als der 64jährige Ambrosetti, Spross einer Tessiner Jazz-Dynastie, vor Jahren seine Fabrik verkaufte und vom Ingenieur endgültig zum Vollblutjazzer wurde, zählte er im US-Mainstream bereits viele Cracks zu Freunden, höchstes Lob von Miles inklusive. Seine Trompete ist voll, prägnant und doch weich, zieht weite Linien und besticht durch sehr klare und luzide Melodiösität. Diese einzigartige Stimme wurde durch das wunderbare Bandonenonspiel von Michael Zisman und Thierry Langs Piano in herausragendem Zusammenspiel konterkariert, Heiri Känzigs Bass machte die fantastischen Stimmungen von Tango, Fado, Saudade und Blues noch dichter. Ein traditioneller Einstieg, aber vom absoluten Weltklasseformat. Danach kompletter Szenenwechsel: Franziska Baumann im feuerroten Dress, per Sensorhandschuh Laptop verlinkt, prozessierte durch ihre Armbewegungen Sound und Stimme. Ein menschliches Theremin, ein humandigitales Xylophon, dazu das avancierte Sax und die Elektronik von Matthias Ziegler: sehr frei, ambitioniert und gut! Eher entäuschend danach das Akustik-Jazz-Quartett von Saxofonist Reto Suhner: uncharismatisches Spiel und spannungsloser Setaufbau, es plätscherte, und die Reihen lichteten sich langsam. Nach den beiden Klassekonzerten fiel dies ziemlich ab.

Dann aber der zweite Abend: Silvie Courvoisier im europäischen Uraufführungs-Duo mit Drummer Ben Perowsky. Die Lausanner Pianistin, die seit 10 Jahren in Brooklyn lebt, dominierte die ersten 10 Minuten derart prägnant, dass man sich fragte, was der El Destructo-Labelchef eigentlich noch auf der Bühne sollte: ihr perkussives, mitunter hämmerndes und rasend schnelles Riff-Spiel, von Bartok, Taylor und einem gehetzten Debussy beeinflusst, ließ kaum Platz für Akzente seitens Perowskys, der mehr oder weniger mitzog, bis er schließlich doch eigene Sachen drehte und wie Bleche in einen Ofen schob. Was für eine Spannung! Die Funken flogen nur so bei diesem intensiven und kraftvollen Duell. Da war nichts vages oder amorphes in dieser Musik! Nun verstand man: die Drums erdeten mit stoisch-lustvoller Präsenz das abstrakt-energetische wie äußerst durchdachte Powerplay Courvoisiers. Das Repetetive wurde sowohl betont als gleichsam schnell wieder aufgebrochen, so entstand ein funkensprühendes Perpetuum Mobile, das sich in einem Spielrausch in den begeisterten Ohren des Publikums wirbelte – auch wenn manchen diese harsche Energie-Abstraktion kalt ließ. Trotzdem volle Punktzahl und a gig to remember. Genauso undogmatisch und hervorragend der Auftritt von Lucas Niggli Big Zoom. Das Quintett begann mit „No Nation“ und agierte mit vollem Klangreichtum, geradezu weich und herrlich barock, ungewohnt ruhig und passagenweise nahezu romantisch gedehnt und verdreht. Herausragend Nils Wograms prägnante Posaunen-Soli. Sehr lange und angenehme Stücke mit spannungsreichen Abstraktionen, darin tolle freie Richtungswechsel von einer der besten Jazzbands der Zeit, die regelrecht abgefeiert wurde in Schaffhausen.

Der Freitag indes geriet fast noch besser, da hier noch mehr Unerwartetes zu entdecken war: Drummer Marco Käppelis Even Odds mit einer wahnsinnsspaßmachenden stilistischen Achterbahnfahrt. Die mit Spannung erwarteten Züri-Top-Cats überzeugten durch ihr komplexes wie straightes Funk-Free-Fusion-Improv-Amalgam. Jürg Wickihalders Sax war gut und forsch, Herbert Kramis herrlich warm-cooler Bass gab Kontra, und Jan Schlegels E-Bass streute launig Rock-Riffs und Elektro-Gewürze dazu. Im sehr freien, gleichsam koheränten Spiel mit herausragendem Rhythmusgefühl fanden sich auch immer wieder viele ruhige Momente, aus denen sich fix ein satter Groove entwickelte. Eine Band, die sich immer wieder neu findet und bindet, das Publikum mühelos fesselte und in kategorischer Lässigkeit mitriss. Die Uraufführung von Christoph Baumanns Large Ensemble dann als eine hochspannende wie absurd-groteske Schweizerreise. Der 52jährige Wettinger Komponist, seit 30 Jahren zwischen allen musikalischen Stuhlreihen zu finden und eine Koryphäe in Sachen Arrangement und Scoremusik, hatte neben seinen Konzepten stets jede Menge Faxen und mindestens tonnenweise komischst klingenden Jazz in der Birne. Seine 17köpfige Big-Band vertonte das Eidgenossenland mittels realimaginärer Volksmusik-Idiomen. Ländlerswing, Basler-Fasnacht-Jazz-Bolero, Free-Form-Almaufabtrieb, Alphorn-Mariacchi zwischen Varese und David Axelrod: sehr vieles ging hier. Die sehr durchdachten und vollen Arrangements kamen in langen Teilen mit weit verzweigten Spannungsbögen daher – wie groß die Schweiz auf einmal war!
Im nahen TapTab-Musikraum wurde derweil die Jugend von den alten Profis Koch-Schütz-Studer mit live-visuals und bis zu 120 Dezibel improvmässig weichgekocht, danach verdealte ihnen Lucien Dubuis, Publikumsliebling von 2004, mit einer gehörigen Portion Spaßspiel endgültig den Jazz. Humor has it –
völlig begeisterte Youngster um zwei Uhr nachts vor Jazztrio, das geht also auch noch.

Dies schöne Parallelprogramm lockte leider einige von einem wahren Festivalhöhepunkt weg: Grand Pianoramax mit dem 30jährigen Genfer Klassepianisten Leo Tardin, der zugleich mit Rhodes, Minimoog und Effekten brilliert. Sein scharf-akzentuiertes wie fantasievolles Tastenspiel, angereichert durch wenige, aber äußerst effektive Loops, setzt er mit wechselnden Drummern um, auf der CD mit Jojo Meyer und Ferenc Nemeth, hier live mit Julien Charlet, dessen Spiel so repetetiv wie pulsierend und aufpeitschend war. Absolute Höhepunkte jedoch die Gastauftritte der NYer Spoken-Word Artistin Celena Glenn – mindestens so gut wie Ursula Rucker. Die Atmo im halbvollen Saal ähnelte nun einem intimen Jazzclub, in dem die Spannung vibrierte: das druckvoll-treibende minimale Duospiel geriet durch den charismatischen wie hochartistischen Vortrag der Slampoetin zur musikalischen Sternstunde. Diese Perfomance – impulsiv, cool, urban, bodenständig, gehetzt wie gelassen – weckte wirklich alle Lebensgeister: Schreie, Pfiffe, Publikumseuphorie. Das ist Schaffhausen: eben noch professionelles Plateau für eine dekonstruierte Bigband, nun verrauchtes Forum für Newcomer. Wer hier blieb, wurde reich belohnt: Leo Tardin war mit Abstand die Entdeckung des Festivals. Gegen diesen Konzertabend verblasste der Letzte etwas: Bertrand Blessings 5köpfiges Ensemble Pitched Battle repräsentierte die junge Genfer Generation zwischen Strukturkonzept, klassischem Instrumentarium und Vorliebe für Jazz und Atmosphären. Die nächtlichen musikalischen Streifzüge durch Gegenden und Gemeinden gerieten indes etwas hüftsteif und behäbig, dann jedoch begeisterte man mit introvertierten Expressionen ala Bohren & der Club of Gore und abstrakt-auskomponiertem Madrigalform-Jazz. Diese Formation braucht noch etwas Feuer unterm Hintern, spannende Konzepte im Kopf hat sie genug. Das Sepetett Mats Up um den charismatischen Trompeter Matthias Spillmann dann spielte mit wunderbaren Retro-Tröten auf, die zum Minimoog des sich hier nahtlos ins Kollektiv einfügenden Leo Tardin passten. Mit ungestümen Swing- und Bopidiomen renovierte man Mussorskys olle Ausstellungsbilder ordentlich, und in sauguter Publikumsstimmung gab’s eine sehr dynamische Jazz-Frischzellenkur. Das Quartett Manufactur um Trompeter Werner Hasler konnte danach keine Akzente mehr setzen. Mit einer nahezu nomativen Lounge-Dub-Ästhetik und einem eindimensionalem Klangbild, das keinerlei Spannung oder gar Innovation bot, sorgte man für ein gepfegtes, aber ödes Auschillen und einen leider enttäuschenden Abschluss dieses Festivals, das doch so viele offensichtliche Höhepunkte gehabt hatte. Jedoch konnte man sich tagsüber in der Sommerlust bereits die Konzerte der afrikanisch inspirierten Welschländer Braff-Oester-Rohrer und der imaginären Filmmusiker Pagro Libre gönnen – weitere Höhepunkte hervorragender zeitgenössischer Jazzmusik aus der Schweiz.

Um dieses Thema ging es auch in den mittlerweile 3. Jazzgesprächen, die Intakt-Mastermind Patrik Landolt, wie von Beginn an vorgesehen, zum letzten Mal kuratiert hatte. Sie brachten einmal mehr Aufklärung um die Verortung der Schweizer Szene und wichtige Diskursbeiträge zum Spannungsfeld von ästhetischer Positionierung und ökonomischer Situierung. Etwas Vergleichbares fehlt leider hierzulande immer noch: die Musik über das Geniesserische und Avancierte im Material hinaus ernstzunehmen und darüber hinaus Strukturen und Ästhetik gewinnbringend reflektieren. Schriftsteller Peter Weber erstellte ein gelungenes Panorama mehrerer Kurztexten zum Zusammenhang von Wort und Musik. In der Frage nach der wichtigen und richtigen Lobby für den Jazz gab es vier kompakte Statements von Profi-Protagonisten aus Lehre, Veranstaltung, Musikersolidaritäts’gewerkschaft’ sms und Sponsoring, wobei die konsequente Umdefinition Toni J. Kreins von der Credit Suisse, die nun auch schon 150 Jahre besteht (das ist übrigens länger als der Jazz, seufz) überaus bemerkenswert war: „Welchen Jazz braucht die Lobby?“ fragte Krein als Leiter Kultursponsoring, der betonte, dass unter gebügelten Hemden auch menschliche Herzen schlagen. Aha, auch das gab es also zu lernen. Weiterhin bemerkenswert der Vortrag von Peter Rüedi, der die nationale Identitätsklammer „Schweizer Jazz“ und „swissness“ als economy brand erst recht infragestellte. Einen Tag später saß bei der Frage nach dem „Jazz-Wunderland Schweiz“ (neben u.a. meiner Wenigkeit) passenderweise Irène Schweizer als sowohl ästhetische wie auch menschlich-politische Pionierin auf dem Podium. Urs Leimgruber, in den 70ern bei den legendären OM und danach langjähriger Paris-Bewohner, betonte im Vortrag sehr richtig den immer noch potenziellen emanzipatorischen Aspekt der Jazz- und Improvmusik, der bei allen Reden über Gelderbeschaffung nicht untergehen sollte. Und Christoph Merki dekonstruierte in seinem sehr guten Vortrag erneut die irreführenden Konzepte einer nationalen musikalischen Identität und verwies entgegen allen rootsigen Ethno-Konzepten auf die potenzielle Heimatlosigkeit des Jazz.

Es bleibt zu hoffen, dass Klasse und Niveau derartiger Diskurse erhalten bleiben bzw. Anstöße nach Außen geben. Großer Respekt an die Veranstalter Urs Röllin und Hans Naef, die dieses großartige Gesamtprogramm erneut mit der Hilfe vieler guter Geister stemmen konnten. Schaffhausen überzeugt nicht zuletzt durch Vielfältigkeit und Qualität. Zwischen den Stilen der Ensembles von Ambrosetti und Niggli liegen Welten, aber sie agierten beide ganz unzweifelhaft auf Weltklasseniveau. Am Sonntag gab’s in der Innenstadt schon wieder Blasmusik mit Alphörnern, aber da hatten international avancierter Jazz und Improv in der Stadt am Rheinfall bereits überdeutlich Spuren hinterlassen.

(Jazzthetik)

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