16. Jazzfestival Schaffhausen / 18. – 21. Mai 2005
Von Marcus Maida
So soll es sein! Nach dem letzten verklungen Ton war erneut klar, dass Schaffhausen nicht nur DAS Referenzfestival für Schweizer Jazz ist, sondern sich die erweiterte improvisierte Musik in diesem spezifischem Rahmen selten wie heutzutage sonst derart lebendig, vielgestalt und sympathisch in einer hochqualitativen Bühnenpräsenz darstellen lässt. Die Kammgarn mit ihrer spezifischen Mischung aus Jazzclub und Konzerthalle bot hierfür erneut den kongenialen Rahmen, der hochkonzentrierte wie gelöste Musikerlebnisse möglich machte. Doch nicht nur musikalische Höhenflüge gab’s, auch die zum zweitenmal an drei Festivaltagen stattfindenden Jazzgespräche unterstrichen erneut und eindringlich die Ambition, Ernsthaftigkeit und Klasse dieser Veranstaltung. Zunächst zur Musik: der Mittwoch bot die Uraufführung zweier Kompositionsaufträge der Pro Helvetia. Die ehemalige Flamencotänzerin Ania Losinger tanzte auf dem exklusiv für sie gebauten Bodenxylophon Xala eine einstündige meditativ-repetetive Rythmuskomposition. Die wie Mitkomponist und -konzeptualist Don Li aus dem Berner-Tonus-Kreis stammende Künstlerin agierte in ihrer schweisstreibenden, aber extrem beherrschten Performance bei wechselndem Licht exponiert, ihr Streichquartett hingegen spielte im Dunklen auf. Der sehr einnehmende Akustik-Elektronik-Mix brachte Dichte und Fülle: unaufdringlich, aber prägnant. Posaunenwizzard Nils Wogram, als Wahlzürcher kurzerhand in die Schweiz eingemeindet, präsentierte alsdann seine Projektband Lush als eine große gelungene Überraschung zwischen Romantik und Abstraktion. Bestechend vor allem Vokalistin Simone Vollenweider, die mit melodiösen, weichen und vollen Scatts überzeugte. Ihre exzellente intensive Stimme agierte inmitten der tricky Arrangements der kompakt aufspielenden Band, die komplexe Pentatonik mit wunderschönem Flow amalgierte. War Zappa etwa doch ein Romantiker? Fragen sie Wogram, den entspannt-präzisen Freak und seine in Rotlicht gebadeten Cracks: Nils Holgersson und seine Wildgänse auf ungeahnten Höhenflügen!
Der Donnerstag begann mit dem Chris Wiesendanger Nonett: die politisch codierten Kompositionen des notorisch grenzgängerischen Improv-Kommunikators wurden in größter Freiheit live angesteuert. So fand sich manche Improv-Insel (wie z.B. das Duell Drums-Turntable) als spannendes Utopia, und gute Powermomente rissen die Spieler immer wieder aus der Gefahr der Beliebigkeit. Dann Vinz Vonlanthen solo: 2 Amps, 2 Gitarren, jede Menge Pedale und ein paar Schreie ins Mikro. Der Space-Cadet-Sufi schickte Läufe, Licks und Hall-Chöre übers Reverbdelay: sehr konsequente und eigenwillige Sendesignale vom Planet PsychedelicJazz! Stilwechsel mit Matthieu Michel: 15 Jahre brauchte es, um den begnadeten Sideman und internationalen Spitzentrompeter mit eigener Band nach Schaffhausen zu bekommen. Das souveräne und klare Spiel des Quartetts machte es sofort zum Publikumsliebling. Exzellentes Drumspiel von Alex Deutsch sorgte genauso wie Mathieus wunderschöne impressionistische Trompete, die sehr akzentuiert und klischeelos aufspielte, für Begeisterung, und die letzte Zugabe war einfach nur noch magisch. Am Freitag dann setzte sich das Ensemblespiel mit Jacques Demierres 11köpfigem Travelling Miles-Projekt fort: ein grossartiger und vor allem elektronisch akzentuierter Auftritt! Die Klangarchitektur der Risse und die Dramaturgie der Schnitte bildeten zusammen mit Fieldrecordings des Genfer Pianisten ein unkonventionelles, kontrastreiches und begeisterndes Soundscapeszenario, das lange nachwirkte. Wieder ein bewusst kompletter Stilbruch mit Adrian Mears New Orleans Hardbop-Quintet, das schnell und impulsiv auf andere akustische Erlebnisebenen führte. Rasant, stilsicher und dynamisch zeigte man Spass am Spiel, der mit Souveränität und Herzlichkeit an das begeisterte Publikum weitergereicht wurde. Den starken Freitag beschloss die Rückkehr des legendären Trios Depart: die mit Spannung erwartete Re-Fusion der Weltenwanderer Sokal, Känzi und des Zürcher Drumstickderwischs Jojo Mayer stieg sofort in die Vollen und riss das Publikum mit. Weckruf zu später Stunde – Depart’s Schärfe, Witz und Adrenalin wanderten durch alle Gehörgänge!
Am letzten Abend kam es beim Christoph Grab Quartet zu einer interessanten Reibung charismatischer Spielerpersönlichkeiten aus den Bereichen von Improv und Mainstream. Der Saxofonist fusionierte seine Leute derart, dass vom nervösen Modernjazz zwischen Coltrane-meets-Cassavetes-Vibes zu schleifenden Guitar-Drones alles drin war. Das Abschlusshighlight dann George Gruntz, der die NDR-Bigband mit Monk-Arrangements gefüttert hatte. Die Themen, teilweise sehr frei und abstrakt aufgebröselt, dann wieder extrem traditionell zusammengeleimt, wurden in einer satten Performanz gereicht – Diätkost wurde zum Abschluss nicht gehalten. Parallel im TapTab spielte sich das Zürcher Trio Wal mit u.a. Joke Lanz zu großartigen Kurzfilmen Schweizer FilmerInnen in einen hochenergetischen Spielrausch hinein, und das war teilweise so grandios, das gehört auf eine große Bühne!
Die vor den Konzerten stattfindenden Jazzgespräche setzten erneut einen Markstein in der Diskurs-Diaspora der zeitgenössischen Jazzkultur. Intakt-Labelchef Patrik Landolt als deren Initiator und Mastermind weiß, dass Jazz und Improv Kunstformen sind, deren ästhetische Energie enorm ist, die sich aber aktuell stark profilieren und behaupten müssen. Dementsprechend akzentuierten die Gespräche Rahmenbedingungen, in denen die Musik stattfindet, und damit vor allem auch die der Produktion und Ökonomie.
Martin Schütz’ sehr praxisorientierter Bericht über seine Musikarbeit in Theaterkontexten reflektierte bei aller elektronischen Avance die Suche nach einer abstrakten Urmusik, in der aus dem Unterbewussten geschöpft werden kann. Rechner im Jazz, so Schütz, sind natürlich unsinnlich, aber hier sind eben die Entwickler gefragt, den Computer zu einem performativen Instrument aufzuarbeiten. Christian Broecking nahm sich dann einer aktuellen Diskussion über Identitäten und nationale Codierungen im Jazz an. Ausgehend von Stuart Nicholsons New-York-Times-Artikel und den Statements der Marsalis-Brüder, dass es im Grunde keinen europäischen Jazz geben könne, arrangierte er mittels Originaltönen ein Szenario, das verdeutlichte, wie wichtig es ist, in diesem Diskursfeld klare (Re-)Definitionen zu finden. Fazit: man ist in den USA derzeit so sehr mit der Aufrechterhaltung der Jazztradition beschäftigt, dass man schlichtweg keine Zeit mehr für die Innovation hat. Ist der europäische Jazz, nicht zuletzt auch eine Medienkonstruktion, demnach etwa „interessanter“? Vieles spricht für eine Auflösung der definitorischen Grenzen des Genres, sowohl ästhetischer wie auch nationaler Art. Stilistik, Marktproblematik und Besitzanspruch, diese drei Eckpunkte der aktuellen Diskussion, wurden scharf konturiert und schufen eine solide Diskussionsgrundlage innerhalb eines, so Patrik Landolt abschliessend, „immensen Minenfelds zwischen Nationalismen und Rassismen“. Die Schaffhauser Autorin Isolde Schaad, die sich danach tiefstapelnd als „Stimme aus dem Volk“ sah, beschrieb Jazz mit sehr plastischer Sprache und eigenwilligem Denkstil als „Perpetuum Mobile für Körper und Geist“, das einen Menschen aus dem Sessel, und vom Arbeitsplatz aufs Parkett bringe. Jazz ist eine Instanz, die fordert, so Schaad, aber ist er auch tolerant, offen und nachdenklich? Ihre Würdigung des Jazz als Kulturleistung, ohne Pathos und Geklingel, vielmehr mit Witz, Originalität und Verständnis, war der Vitalität der Musik verwandt. Das anschließende Klavierkonzert des aus Schaffhausen stammenden Roberto Domeniconi, ruhige Poesie, die sich alsbald in harsche und atemlose Abstraktion hinausschraubte, war durchaus als eine Metapher für den vorangehenden Diskurs zu hören.
Anderntags stritt man aufgrund eines Referats des Journalisten Christian Rentsch konstruktiv um Jazz als Marke, die alle mögen, an der aber gerade die MusikerInnen nicht teilhaben können. Die sehr lebhafte und anregende Diskussion brachte mit Beatrice Graf, Lisette Spinnler und Omri Ziegele drei Jazzmusiker verschiedener Generation aufs Podium. Sie und Hämi Hämmerli, Luzerner Musikhochschulleiter, und Daniel Schneider, Künstlerischer Leiter des Zürcher Moods (das pro Jahr immerhin sagenhafte 500.000 Franken vom Kanton für seine Arbeit bekommt), sorgten dafür, dass auf dem Podium weniger um schöngeistige Inhalte als um konkrete Ökonomie geredet wurde. Fazit: kein Jazzmusiker muss hier aktuell Hunger leiden, aber professionelles Arbeiten, für die Bereiche der klassischen Musik selbstverständlich, ist immer noch ein Traum, und das gilt auch im solventen Land der Eidgenossen. Als Frage bleibt: soll Jazz eine Subventionskultur werden wie die klassische Musik, die sich dann der Gefahr nähert, sich nicht mehr ästhetisch zu erneuern, sondern vor allem Traditionspflege ohne jegliche innovative inhaltliche Impulse bietet?
Am Samstag standen folgerichtig neue Fördermodelle auf dem Prüfstand. Stellen Pro Helvetia, Migros und andere wichtige Schweizer Stiftungen jetzt die Fördergießkanne in den Keller und setzen wie allerorten auf die „Hydrokultur der Effizienz“, so Journalist Frank von Niederhäusern, der ganz akribisch und sehr gut recherchiert zunächst die aktuellen Daten aufbereitete? Auf diesem Material ließ sich hervorragend eine Diskussion bauen. Pro Helvetia, so Direktor Pius Knüsel, fördert z.B. aktuell drei prioritäre Projekte mit je 25.000 CHF pro Jahr, u.a. Lucas Niggli, der auch auf dem Podium saß. Niggli, sich selbst scherzhaft als „klassisches Kind der Giesskanne“ bezeichnend, sieht sich dadurch nicht nur gefördert, sondern vor allem auch gefordert: gerade Schwerpunkts-Subvention, so die Spielregeln, unterliegen einer strengen Rechenschafttspflicht. Nigglis Plädoyer für eine kulturelle Leuchtturmpolitik wie z.B. der Schaffung eines weithin sichtbaren Schweizer Jazzpreises, weist in die Richtung einer verstärkten und adäquaten Kommunikation der Musik. Eines fiel bei diesem Panel auf: wie wichtig auch die Arbeit der Schweizer Stiftungen für die Kulturlandschaft seien mögen, überbewerten sollte man sie nicht. Natürlich hilft auch die öffentliche Hand, ob mit einem ganzheitlichem Fördermodell in Basel, das der Kulturbeauftragte Niggi Ulrich vorstellte, wie auch bei den Festivals von Luzern, Willisau oder eben Schaffhausen, das mittlerweile als Schwerpunktförderung anerkannt ist. Doch die Zeiten, so das einstimmige Fazit, in denen man sich Kultur nicht nur leisten konnte, sondern vor allem wollte, sind, gerade im Zeitalter der grassierenden Unterhaltungskultur, zunächst einmal vorbei.
Die Jazzgespräche taten gut. Sie zeigten, wie wichtig es ist, lebendige und prägnante Figuren auf dem Podium zu erleben, die Jazzkultur gestalten und die wichtigen Fragestellungen diskutieren. Die exzellenten Moderationen sorgten dafür, dass die Panel kein gefälliges Plauderstündchen und Geplänkel wurden, und bezeugten, dass durch konzeptionelle Vorbereitung der Themen und konkretes Nachhaken immer noch die besten Diskussionen entstehen. Der stimmige Aufbau, also Stoffvorgabe durch Referat, dann Podiumsdiskussion, machte die Sachverhalte transparent und spannend, man blieb bei der Sache, verlor sich nie im Anekdotischen und wurde doch gehörig charismatisch. Die Jazzgespräche sind nicht nur ein zusätzliches Profil für Schaffhausen, sie legen auch über die Grenzen hinaus erste Grund- und Bausteine für einen erweiterten Diskurs über zeitgenössischen Jazz und improvisierte Musik. Zum Erfolg dieses rundum gelungenen Festivals trägt nicht zuletzt die herzliche Atmosphäre dieses kleinen, aber überaus starken Schaffhauser Szenarios bei, in dem die Veranstalter Urs Röllin und Hans Naef sich komplett in den Dienst ihres Festivals stellen. Das Jazzfest erschliesst sich nicht nur, aber in voller Blüte vor allem als Gesamtkonzept: wie lebendig es auch wirkt, nichts ist beliebig, alles ist sehr profiliert ausgesucht und dramaturgisch aufgebaut. Schön zu beobachten, wie sich hier auch die öffentliche Seite mit der aktuellen Jazzkultur identifiziert und die Arbeit dafür respektiert. Gerade nach dem Abgang des ‚Querkopfes’ Burkhard Hennen aus Moers braucht es lebendige Impulse auch für die hiesige Jazz- und Improvkultur. Schaffhausen und seine Jazzgespräche leisten hierfür einen hervorragenden Beitrag.
Zum Jazzfestival frisch erschienen die Jazzgespräche von 2004:
Patrik Landolt und Urs Röllin (Hg.) –
Schaffhauser Jazzgespräche. Edition 01.
Chronos Verlag, Zürich und Schaffhausen, Fr. 25,-
(Jazzthetik)