unerhört!-Festival 09

Zürich. Das 9. unerhört!-Festival / 24.11. – 29.11. 2010

Von Marcus Maida

Das unerhört! erwies sich auch in seiner 9. Auflage als gut durchdachtes, funktionierendes und im positiven Sinne überraschendes Netzwerk des zeitgenössischen und avancierten Jazz, das einmal mehr durch eine exzellente Programmierung und eine lebendige Präsentation überzeugte. Nach der erneuten Eröffnung im Museum Rietberg mit Oudvirtuose Mahmoud Turkmani im Duo mit Barry Guy als einem intensiven Austausch der Kulturen, der auch die Linien zur Avantgarde zog, präsentierte sich schon am zweiten Tag mit Matthias Spillmann, Gianluigi Trovesi und der Big Band der Hochschule Luzern in der Roten Fabrik ein sehr anregender und gehaltvoller sowie heiterer Austausch. Das Programm des Sylvie Courvoisier–Mark Feldman Quartets indes überzeugte in der kammermusikalischen Form restlos. Man spielte auf einer Höhenlinie mit präzis zurückgenommener Kraft und konzentrierter Intensität in post-seriellem Zwölftonbewusstsein voller Passion und Ausdruck, schön und durchdacht, elegisch und strukturiert zugleich. Neue Stücke wie Hotel de Noire bewiesen, wie leise, reduziert und gleichsam punktkonzentriert es geht. Ohne Phrasenwiederholung gelang hier abstrakter Impressionismus auf höchstem Niveau. Die Solo-Sprach-Performance von Daniel Mouton dagegen enttäuschte. Es gibt wirklich zig Slam- und Wortkünstler, die hier ungleich weiter, witziger und auf dem Punkt sind. Der Musiktheateraktivist und Komponist wirkte in seiner endlos erscheinenden Sprachimprovisation wie ein Klassenclown, der vor dem Pult steht – und leider kommt der Lehrer nicht. Oder war er der Joker in einem imaginären Batman-Film, und wir seine Opfer, die den Saal nicht verlassen durften? Mouton mag ein verdienter Zürcher Aktivist mit diversen Qualitäten sein, aber hier wurde es langsam klaustrophobisch. Belohnt wurde man danach durch den exzellenten (und erst 2. Zürcher) Auftritt von Der Rote Bereich. Das Berliner Trio war in Bestform, überzeugte durch Spiellaune und –fluss und markierte sich durch seine übliche Kauzigkeit. Baßlos, aber nie spaßlos, erklärte man einmal mehr dem Groove die Abstraktion, sägte ihm die drei Beine ab und brachte ihn dann zum Stolpern. Natürlich gemein, aber was soll man von Menschen, die ihre ungeliebten Balladen auf der Bühne u.a. wegen peinlichen Titeln ausmustern, auch erwarten? Mahall, mitunter bestechend – überschnappende Duck-Walks, Kurt-Krömer-Humor – und Steidler, irres Timing und rollende Kontrolle, sind die denkbar besten Exekutoren für Möbus extrem dichte und überlegte Kompositionen, die, sehr fein, relaxt und forsch, immer ein bisschen Rock-verschwippschägert sind. Tolle Band, tolles Publikum, toller Abend.

Weitere Höhepunkte am Samstag: die urlange in Zürich in der Neue-Musik-Improv-Szene aktive Pianistin Claudia Ulla Binder im Duo mit John Butcher, insgesamt seit 26 Jahren musikalisch verbandelt, jetzt via CD und unerhört! endlich im Brennglas konkreter Klangverdichtungen und expressiver Subtilität. Ganz großartig dann Carla Kihlstedt und Matthias Bossi: das komplett neue Projekt Hello Dust der Lebenspartner atmete neben Kihlstedts fragil-luzider Violine vor allem von ihren sehr eigenen und intensiven Vocals, die nur manchmal an Beth Orton erinnerten. Gesungene Gedichte von Robert Creely und E.E. Cummings, dazu Bossis Piano und Perkussion (u.a. auf dem Puppenhaus der mit auf Tour reisenden Tochter) – hier lebte die kleine wunderbare Form: klar, humorvoll, unpathetisch. Das letzte Stück, unfassbar intim, ruhig und melancholisch, war allein schon das ganze Festival wert. Gianluigi Trovesis Octet wirkte danach naturgemäß wie ein Volksfest: keiner bekommt den Mix aus Jazz, Tanz- und Folkmusik so hin wie er. Wie konnte dieser bunte, lebhafte und klangmalerische Kontrast zu den reduziert-nüchternen Mikrotonalexegesen Binder-Butchers gut gehen? Es ging, denn der dramaturgische Wechsel von Geräusch zu Song, Folk, Lyrik und Tanz war unmerklich, aber stimmig. Trovesi ließ seine Jungs an der langen Leine eine sehr farbenfrohen Palette mischen: Smoke on the Water wurde angespielt, Drum&Bass kam – inmitten dieser normal-verrückten Klangpoesie-Tarantella – vom Laptop, und alles war, bis auf diverse unnötige Soli, herrlich!

Im Altersheim Pfrundhaus dann wickelte George Gruntz sehr schwelgerisch und charmant sein Publikum um die Pianofinger, was ihm mit Wayne Shorter als Einstieg auch bestens gelang. Bevor indes die Analogie zum Kreuzfahrtschiffsalon zu ohrenfällig wurde, gesellte sich Erika Stucky zu ihrem „musikalischem Götti“ (Patenonkel) und übernahm mit einer unglaublich seltsamen aber gelungenen charismatischen Mischung aus TexMexHippieGangsterbraut und Hexe Wackelzahn den Saal. Merke: Witze über LSD im Altersheim kommen neben Walliser Volksliedern noch mal so gut. Die Gesichter der Alten waren wie die von Kindern: mal fassungslos, meist jedoch entzückt und begeistert – es ist unfassbar schön, wie das unerhört! das Altersheim als selbstverständlichen Spielort für avancierten Jazz etabliert hat. Im Moods entwickelte dann abends das Trio Wintsch-Oester-Hemingway nach wirklich bemerkenswert gut zerfahrenem zeitgenösischem Jazz die Klangpalette von superfrei bis zu eher normativer Improv-Materialgeräuschästhetik in allerdings beachtlicher Stil-, Klang- und Dynamikbreite. Man fand jedoch nicht immer den Schlusspunkt, ab dem musikalisch eigentlich alles gesagt worden war. Diese Musik, so avanciert sie ist, ist in Material und Gestus hemmungs- und wahrscheinlich auch rettungsloser Retro-Improv, da beißt die Maus keinen Faden ab. Schön – aber innovativ ist DAS nicht! Klarer Fall von expressivem E-Jazz – aber wenigstens Jazz! Eugene Chadbourne solo flogen danach natürlich alle Herzen zu. Verzerrt und verstimmt zwischen Weird-Folk, Crazy-Country und Improv-Storytelling präsentierte der „Mole in the ground“ seine grundguten Anti-Befindlichkeits-Songs: „I’m the old piano nobody can play“ – wunderbar! Die vielleicht bemerkenswerteste (Ur-)Aufführung erfolgte danach mit dem auf Ovid basierendem Stück „Narziss und Echo“, das von Autor Tim Krohn, der selbst auch die Einführung und Texte sprach, als Librettist zusammen mit Jürg Wickihalder als Komponist und dessen hervorragend aufspielendem Orchestra inkl. zwei sehr guter Sängerinnen auf die Bühne gebracht wurde. Verführerisch, verstört, wild, sanft, genussvoll, bunt – es gab das ganze Programm. Vaudeville, Brecht/Weill oder gleich Krenek, ein rotzig-normaler Knef-Chanson-Vibe, dazu Improv-Tutti und Poesie – hier steckte eine Menge Ambition und Arbeit drin. Besonders stark: die lyrische Nachtpassage. Musik fürs Theater, ganz klar, und eine definitive Bereicherung des Festivals. Eine bestechend klare und hochqualitative Arbeit mit geistiger Finesse, sinnlicher Tiefe und kompositorischer Substanz – hier kann es weitergehen. Als einstündige Suite war das schon überzeugend, nun fehlt noch die szenische Umsetzung.

Und auch der Festivalausklang im Mehrspur-Club geriet diesmal zu einer richtig runden Sache: John Butcher aktivierte eine junge 10köpfige Workshop Band der Zürcher Hochschule zu einem sehr schönen freien Konzert, das in den verschiedensten Konstellationen stets hochinteressant war. Auch in den Tutti nie bratzig und kraftlacklmässig, immer schön komplex und differenziert und doch mit dem nötigen Wumms – dagegen klang die Christoph Grab Band danach, eine ‚fertige’ junge Zürcher Band, nurmehr ok, aber lang nicht so spannend und profiliert wie die Youngster. So muss es sein: die Jungen wecken Erwartungen und lassen aufhorchen. Fazit: sehr viel Publikum beim diesjährigen unerhört! bei erneut höchster Qualität. Man muss indes stets aufpassen: der so genannte experimentell-avancierte Jazz, der sich ja gerne der Andersartig- und Widerständigkeit gegen das Normative rühmt, ist heutzutage oftmals so voller vorhersagbarer Konventionen, dass es schon mal sehr leicht fad und geradezu gefällig werden kann. Dieses latente Problemriff wurde beim Festival zumeist glorios umschifft, Ausnahmen bestätigten die Regel. Darüber hinaus ist für das unerhört! die Vernetzung und Vermittlung zwischen den Generationen am wichtigsten – man geht ja auch in die Schulen. Nächstes Jahr zum zehnjährigen soll die Zürcher Szene dann noch kompakter und gleichsam exponierter vernetzt und präsentiert werden. Man darf gespannt bleiben.

(Jazzthetik)

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