Schaffhausen 22

22. Jazzfestival Schaffhausen / 18. – 21. Mai 2011

Von Marcus Maida

„Es geht um Qualität“, sagte der Schaffhauser Stadtpräsident zur Eröffnung des Festivals, und da hat er wohl Recht. Unter dieser simplen Prämisse präsentierte sich erneut extrem ambitioniert und gleichsam wunderbar entspannt das heurige eidgenössische Jazzschaufenster, bei dem jedoch einmal mehr die unterschiedlichsten Ebenen von Qualität offenbar wurden.
Dass mit Flowing Mood eine Geige eröffnete, war für Einige ungewöhnlich – nur wieso eigentlich? Vielleicht für Jazzspießer, denn es hätte doch auch ein Theremin sein können. Muss es denn immer Blechgebläse mit Gitarrendraht sein? Das Ensemble des jungen Violinisten Tobias Preisig kam weniger fusionlastig als vielmehr akustikfolkig, bisweilen gar sehr rhythmisch und rockig daher, war aber vor allem eine veritable Balladenband. Größtes Manko: Hang zum virtuosen Schnörkeltum, klares Plus: gefühlvolle Stimmungen, kein Einheitsbrei. Danach zwei fast kongruente Saxspezis – was soll das? Donat Fisch, respektabel-authentischer Jazzhead, erklärte es mit seinem Ex-Mentor, Sax-Legende Andy Scherrer, und dem kongenialen Rhythmusrückgrat Bänz Oester und Norbert Pfammatter. Unfassbar gut und lässig, glasklar, beseelt, tight und scharf jagten die Saxes wie Hase und Igel rauf und runter zum ersten Höhepunkt. Scope mit Mastermind Hans-Peter Pfammatter, der als fixes Mitglied von Christy Dorans New Bag dessen Konzept hier transformierte, gingen gut und dynamisch los, waren bei den leisen Improv-Sketches aber weniger Punk und wild als vielmehr weich und gesetzt. Sehr ausgefeilt und gleichsam pointiert überzeugte der Klassevierer mit Musikern wie Lucien Dubuis, Urban Lienert und Lionel Friedli indes sehr bald das Publikum.

Martin Baumgartners junge Workband Spielhuus (in etwa: Kindergarten) war natürlich nix für schnöselige Improvhardies, die viel lieber Butch Morris ähnliches Konzept mit E-Musikern goutiert hätten. Warum ist klar: das 10-köpfige Ensemble ist, sic, viel zu verspielt und vor allem zu rhythmisch. Wenn Vera Kappelers Flügel vs. Vincent Membrez Analogsynth bestechende Schneisen ins vibrierende Klanggeflecht schlugen, wurde die Überraschung des Abends deutlich. Die ewigen Nörgler saßen derweil draußen und beschwerten sich, dass ja nichts Neues komme. Danke. Sehr tolles Free Concert, nicht der übergroße Wurf, aber man erkennt die Ansätze. Geben wir Ihnen Zeit!
Don Li’s Orbital Garden indes entpuppte sich trotz hoher Erwartung, Geduld und schönem Bühnenbild letztlich als enttäuschend schlechter Ethno-Trip. Quälend langsamer Vibe mit absolut austauschbaren Sax-Lines und keiner eigenen Stimme. Hier hätte es einen Wecker gebraucht! Wie’s geht mit hochspannend-aufregenden Ethno-Transformationen zeigte am nächsten Tag Lucas Niggli’s Beat Bag Bohemia: im Museumsinnenhof direkt in der Mitte des Publikums sprühten die Funken der vier Drum-Zampanos, die mit Herz, Humor und Spielfreude das Publikum mitrissen. Formidabel! Auch Neue-Musik-Linien wurden aufgenommen, rhythmisch verknotet und zum Lasso gemacht, um das Publikum zu fangen. Kein öder Trommelworkshop, sondern Weltspitzenklasse – und ein wunderbares Lied von Rolando Lamussene aus Mosambique.
Der Sechser Transit Room brachte Free Improv von sehr subtil bis Brett sowie transformiert-ausgefuchste Trad-Bob-Vibes auf die Bretter. Annehmbarer Kompo-Improv-Mix, mitunter zu verkopft-nerdig, handwerklich ok, aber (noch) ohne prägnante Handschrift. Gut, das zu bieten, aber trotz Innovationsintention leider keine neue Formensprache, eher behäbig mit der Redundanz und Grundsubstanz des Bekannten. Immerhin Youngster, aber leider nicht der begeisternde Weckruf, den es einfach braucht.

Moncef Genoud bot traditionellen Triojazz, allerdings mit hochqualitativ-kristallinem Drive und bestechenden Mitspielern. Der Genfer Pianist kam souverän wie schwelgerisch herüber und überzeugte einfach durch seine sehr eigene Klasse. Danach noch eine Koryphäe: die Schweizer Schlagzeug-Legende Daniel Humair mit seiner New Reunion: sagenhaft vital, das hatte Feuer und Klasse! Neben ‚Papa’ Humair vor allem Saxofonist Emile Parisien als unglaublicher Megawizzard: bei aller Virtuosität nie selbstgefällig, sondern berauschend. Rollendes und klangfarbigstes Freispiel ohne einmal Langeweile – wunderbar! Irre Verrenkungen und Ton-Tänze: eine Wohltat gegenüber den stocksteifen Hochschul-Absolventen! Klare Sternstunde, endlich spielte die Champions League auf!
Da Omri Ziegele wegen einem Unfall verhindert war, spielte Geburtstagskind Irène Schweizer mit Pierre Favre als Favoriten auf. Das eingespielte Team, sehr energetisch von Anfang an, bot fantasievoll abstrahierten Jazz mit Seele und Form, kongenial rhythmisch akzentuiert. Ein Genuss, herrlich klar und frisch. Hier ging es nicht um ‚spot-the-standard’-Spielchen, sondern um die Erdung des erweiterten Jazz im Hier und Jetzt.
Das siebenköpfige Miniatur Orchester um die Saxofonistin Araxi Karnusian und den Drummer Simon Fankhauser war eine sympathische Überraschung: sehr auskomponierte Stücke voller Energie und Dynamik, tolle Arrangements und Gesamtklang, superkomplex aber flüssig, dazu großartige Musiker!

Den beherzten Festivalrausschmeißer machte heuer Malcom Braffs Voltage. Das Trio des bärigen Tastenmannes lieferte sattesten Groove an den Rhein. Das mit Macbook und Effekten bearbeitete E-Piano entpuppte sich alsbald als Late-Nite-Electro-Space-Transformer. Beam me up, Malcolm – dieser Gig war die definitive Schickung! Der geilste Schaffhausen-Auschiller seit langem an diesem stärkstem Festivaltag! Ein klarer Festivalhöhepunkt übrigens auf der Kellerbühne im Haberhaus: Schneeweiss und Rosenrot, die schon letztes Jahr in Moers diverse Herzen brachen, konnten dort an zwei Abenden mit uroriginellen Jazz-Track-Songs voller Klarheit und Charisma begeistern. Die wickelten mit ihrer charmanten Eloquenz wirklich jeden um den Finger. Schade, dass die versammelte Jazzjournallie erst am zweiten Tag zum Konzert fand, da waren sie erheblich zugeknöpfter und ruhiger. Bitte demnächst Hauptbühne für den gemischten Vierer, wo diesmal außer Mrs. Schweizer eh ein fast lupenreiner Boysclub vorherrschte – und das geht gar nicht!

Für die Jazzgespräche, heuer unter dem Oberthema ‚Schweizer Jazz im Global Village’, diesmal ein Warnschuss: der nationale Schweiz-Rahmen macht’s langsam etwas fad und eng. Leute! Jazz aus der Schweiz ist spitze, aber woanders findet auch welcher statt! Und das verbindet sich und reibt sich auch mal gerne. Kann das nicht mal jemand deutlich klarstellen? Und was ist mit den Randgängen zu anderen Genres und den ökonomisch konkret drängenden Strukturfragen? Gewinnbringende Impulse kamen von Christian Broecking, der – leider mit etwas zu vielen englischen Interview-O-Tönen – bei der Jazzmusiker-Ausbildung die Generation Autodidakt vs. Generation Stipendiat gegenüberstellte. Fazit: was heute bei der Jazzausbildung oft fehlt, ist die Einbettung in Diskurse und Jazz-Grundwissen. Der (Ausbildungs-) Konservatismus, so der Berliner Publizist, hat versagt, denn was ist Jazz ohne ein Verständnis der Ästhetik des Widerstands? Besser afro-amerikanische Jazzgeschichte als ‚getting-into-business’-Konzepte.
Die folgende Diskussion war leider oft fad und ergebnislos, es fehlte, wie oft letztens, der Gegenpol eines unabhängigen kritischen Geistes, der nicht aus dem Jazz-Pfrundsystem kommt – Broecking konnte das ja nicht immer leisten. Muss ein heutiger Student Jan Garbarek kennen, wie Musiker Sha, der sich eine Rückkehr zum Instrument wünscht, forderte? Pianist und Dozent Hans Feigenwinter blieb cool: es braucht keine (Wissens-)Uniformierung und keinen Kanon. Bestimmte ignorante Punkte können auch mal die Kreativität fördern, Nichtwissen sei zwar keine Leistung, aber mitunter eine kreative Provokation.

Bisweilen stoben erkenntnisbringende Funken auf, aber das große Diskurs-Feuer wurde einfach nicht entfacht. Müssen Schweizer ins Ausland, um Erfolg zu haben? Was für eine fade Fragestellung, dazu ein behäbiger und schwerfälliger Einstieg – hier hätten Blicke über den CH-Tellerrand definitiv gut getan. So unterstrich man meistens nur die vielbeschworene Schweizer Enge und verteilte wenig ergiebige Hülsen àla ‚Jeder ist seines Glückes Schmied’. Hallo wach: anderswo müssen Musiker nun mal auch mobil sein, und der Begriff ‚Flucht aus der Schweiz’ ist angesichts von Migrantenströmen nach Europa auch etwas pathetisch und unangemessen. Der Tenor der Schweizer Musiker auf dem Podium war: wir brauchen keine Förderung, wir nehmen aber gerne. Na Bumm. Violinist Tobias Preisig dann später: „Die internationalen Musiker sind alle so viel frischer und aufgeweckter als hier.“ Replik des Moderators: „Ist ein Brotjob eine Alternative?“ Spätestens hier gab es Kopfpacken bei nicht Wenigen. Thematisch war dieser Tag ein Rückschritt, denn ähnliches hatte man in Schaffhausen schon vor Jahren besprochen. Auch die Frage nach der Zukunft der CD war definitiv ein alter Hut, trotz toller Gäste wie (auch-) Labelbetreiber Nils Wogram, der völlig frei und erfrischend erzählte, oder Jazzagentin und –Verlegerin Judith Kobus, die taff, klar und offen die CH-Verhältnisse beurteilte. Die Frage, soviel wurde bald klar, hätte eigentlich lauten müssen: „Wird die CH-CD-Förderung bald abgeschafft – und welche Konsequenzen hätte das?“ Gut: in Deutschland nehmen wir angesichts der Schweizer Künstler-, Struktur- und Exportförderung oft nur die vermeintlichen eidgenössischen Paradies-Zustände wahr, aber es regnet auch dort bald kein Geld mehr. So stellte sich letztlich die Frage: wo ist Jazz aus der Schweiz in 10 Jahren? Vielleicht da, wo andere Länder heute schon sind? Grinsen im Publikum.

Auch bei dieser Diskussion bekam man einige Jazzgespräche-Deja-Vus, und obwohl es diverse gewinnbringende Erkenntnisse gab, musste sich das Publikum die Fäden doch oft selbst zusammen spinnen. Fazit: die Jazzgespräche müssen aufpassen, dass sie nicht belanglos werden. Die Themen stimmten teilweise nicht, die Podiumsbesetzungen dito, und kein Kontrapunkt und Störenfried, der nicht aus dem Jazz-Business stammt. Das Gebot der Stunde für die Gespräche ist, sich breiter aufzustellen und über den nationalen Tellerrand hinauszublicken.
Schaffhausen ist nach wie vor spitze und ein formidables Fest, in dem es immer noch funkelnde Überraschungen gibt, aber es hat wenig Sinn, das Gesamtfest als Wohlfühlprogramm hochzujazzen. Zu qualitativ unterschiedlich sind die Musiken, zu undramaturgisiert wirkte es bisweilen diesmal. Schweizer Jazz als Main-Brand – das reicht einfach nicht mehr. Es braucht langsam wachsende Innovationen und intelligente Pflege des Neuen. Bei der jungen Generation wird klar: interessante Talente zuhauf, aber viele Fleißarbeiter, die Charakterköpfe fehlen oft. Nach wie vor ist Schaffhausen ein unzweifelhafter und ungemein großer Gewinn in Sachen Jazz-Präsentation und Diskurs, aber man darf sich auch hier als Schaufenstergestalter – leider – nicht ausruhen.

(Jazzthetik)

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