Intakt Records

SWISS MOVEMENT ENCORE

Xavier Garcia / Gianni Gebbia / Nils Wogram

Pronto!

Xavier Garcia: Sampler / Gianni Gebbia: alt und sopransax / Nils Wogram: tb

Aufnahme: Direkt auf digitale Zweispur, Februar 2001, Miao Studio, Palermo, Italien von Natale Lopes

Executive Production: Patrik Landolt

13 Stücke

Spieldauer: 45:05

Intakt CD 076 / 2002

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Omri Ziegele

Billiger Bauer

Omri Ziegele: sax / badlyrics / Peter Landis: sax / Christoph Gantert: tp / Hans Anliker: tb / Gabriela Friedli: p / Herbert Kramis: double-bass / Jan Schlegel: e-bass / Marco Käppeli: dr / Dieter Ulrich: dr / bugle

Aufnahme: 31.5. und 1./2. Juni 2001 Radio Studio DRS, Zürich

Produzent: Martin Pearson

Executive Production: Patrik Landolt

Vier Teilstücke der Komposition „The silence behind each cry“

Spieldauer: 45:45

Intakt CD 077 / 2002

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Co Streiff Sextett

Qattara

Co Streiff: alt und sopransax, perc / Tommy Meier: tenorsax, bcl, pipe / Christoph Gantert: tp, perc / Ben Jeger: p, clav, farfisa, acc / Christian Weber: double-bass / Fred Flükiger: dr

Aufnahme: 2./3. Juli 2002 Radio Studio DRS, Zürich

Produzent: Co Streiff und Intakt

Engineer und Mix: Hanspeter Ehrsam

Produktionsassistenz: Tom Varner (auch Horn auf Stück 4 und 7)

Radioproduzent: Peter Bürli

Executive Production: Patrik Landolt

11 Stücke

Spieldauer: 56:17

Intakt CD 078 / 2003

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Bauer – Kowald – Sommer

Between Heaven and Earth

Conrad Bauer: tb / Peter Kowald: b / Günter Sommer: d, perc

Aufnahme: 30.11. und 1.12. 2001 Radio Studio DRS, Zürich

Produzent: Martin Pearson und Intakt

Executive Production: Patrik Landolt

11 Stücke

Spieldauer: 52:02

Intakt CD 079 / 2003

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Hier ein paar Ausblicke auf wahrhaftige musikalische Entdeckungsreisen, wie sie uns das Züricher INTAKT-Label ja nun schon seit geraumer Zeit mit regelmäßiger Höchstqualität wärmstens an die Ohren legt: außergewöhnliche Platten, die sowohl herausfordern wie Spaß machen und bei denen die Begeisterung für die freie Improvisation stets maßgeblich ist – und hörbar in der besten denkbaren Studioqualität.

Nils Wogram, einer der arriviertesten hiesigen jungen Posaunisten, und „Samplerist“ Xavier Garcia, der in Lyon mit der Musikervereinigung ARFI, der „Association à la Recherche d’ un Folklore Imaginaire“, mittels Live-Electronics komponiert und improvisiert, nahmen mit dem sizilianischem Saxofonisten Gianni Gebbia in dessen Heimatstadt Palermo diese 13 hochkomplexen wie –konzentrierten Stücke unterschiedlichster Coleur auf. Das ist freie Improvisation, wie sie sein muss: hochenergetisch auch in der allergrößten Zurückhaltung, und mit einer Brisanz und Klasse, die Differenz – gerade in diesen Zeiten! – mit gelassener Energie als eine schlagkräftige Tugend erscheinen lässt. Sagten sie Waffe? Die zu jederzeit potenziell mögliche hochenergetische Konzentrationsmöglichkeiten des Trioformats, wo weg- und weiterweisende Lücken und Schneisen viel klarer ergo besser hörbar, ja erlebbar sind, erfährt hier selbst in der allergrößten Dezenz des Zusammenspiels eine beachtliche Schärfe, ja nahezu Wildheit. Wobei diese Musik, als wolle sie selbst in ihrer allergrößten Abstraktion dem sizilianischen Klischee entsprechen, in ihrer Gesamtheit vor allem eines ausstrahlt: Sinnlichkeit. Neben den hymnischen Momenten der atonalen Expression finden sich um die nächste Ecke geschaut gleich wieder Humor und gelassener Wohlklang. Bezeichnend ist jedoch bei aller konzentriert-lustvollen Forschung nach den nächsten Türen und Toren des Gemeinklangs auch die absolute strukturelle Äquivalenz der Instrumente: keines spielt sich in wissend in den Vordergrund, sondern tastet sich vorsichtig zum Potenzial der Gewissheit hin, in dem dann ein fließendes und nach kurzem Erreichen wieder abrupt gebrochenes Unisono die utopischen Möglichkeiten spontan komponierter Musik jedes Mal noch kraftvoller und klarer aufscheinen lässt. Zusätzlich nimmt Garcias Elektronik hier keineswegs das klischeebehaftete Moment des Avancierten oder Unkonventionellen ein, dafür wissen beide Bläser ein unerhörtes Spektrum aus Tradition und daraus abgeleiteter Innovation auszuschöpfen. Gianni Gebbia, der maßgeblich in Siziliens Hauptstadt Palermo die improvisierte Musikszene belebt und dort auch als Festivalveranstalter aktiv ist, dürfte wohl als eine offene Klammer dieses wundervollen Projektes bezeichnet werden, das dem Anspruch einer freien Musik nach Spannung, Unmittelbarkeit, Sinnlichkeit – und Intelligenz gerecht wird.

Grundsätzlich anders die musikalische Strukturkonsistenz bei Omri Ziegeles Ensemble, aber nicht minder ereignisreich und mitreissend im musikalischen Ergebnis. Ziegeles neunköpfige Jazzband „Billiger Bauer“ ist ein Zusammenschluss und Konglomerat von einigen der besten ImprovisatorInnen der Schweiz, die nun seit mittlerweile sieben Jahren in wechselnder Besetzung einmal im Monat zusammenspielen, meist in der als temporäre Heimstatt anerkannte WIM (Werkstatt für Improvisierte Musik) in Zürich. Hier konnte sich in aller Ruhe, ohne Druck und Flirrendes und Anheischiges aus der „Allerwelt“, so Ziegele, das filigrane wie temperamentvolle Zusammenspiel dieses Gruppenkorpus finden und in allen Nuancen und Dynamisierungen immer mehr in die Tiefe ausloten, um dann gelassen, beseelt und voller Energie wieder in die Höhe zu fliegen. Die als Suite angelegte Komposition „The silence behind each cry“ nun ist eine Art Requiem, und zwar für Ziegeles verstorbenen Musikerkollegen und vor allem engen Freund Urs Voerkel. Dementsprechend inspiriert wie ambitioniert geht man zu Werke, doch der Hauptgestus dieses ungemein vitalen Requiems zeichnet sich eher durch einen kompakt gefühlten und überaus lebendigen Dialog mit dem Verstorbenen aus, der in seiner Transformation deutlich macht, dass die Grenzen zwischen Tod und Leben zwar in der biologischen Existenz endgültige sind, es in der ästhetischen aber keineswegs sein müssen. Die kongenialen Linernotes von Ruth Schweikert geben darüber hinaus wertvolle Anregungen, die zur Reflektion anregen, ohne sich allzu tief in musikalisches Terrain begeben zu müssen. Nach den gesprächigen und schließlich atonalen Verlautbarungen, welche die Platte eröffnen, ziehen sich alsbald klassische Swing- und Bop-Elemente in den Spielgestus des Ensembles, das innerhalb stringenter Rhythmik seinen mitunter isolierten, aber stets integrierten Stimmen ein Klanggebäude baut, welches sich durch eine nahezu geschmeidige wie kraftvolle Big-Band-Kohärenz auszeichnet, und in dem sich trotz festem Plan stets neue Räume öffnen. Wie dem dann wieder entgleiten und Neuland gewinnen? Town Hall Concert revisited: die punktgenauen Arrangements dieses wahrhaft musikarchitektonischen Kollektivs, in dem jedeR Einzelne für die Dramaturgie mitverantwortlich ist, öffnen stets neue Fenster, aus denen die freie und inspirierte Energie, aus dem sich dies letztlich alles bildete, sich im Spielprozess verdichtet und schließlich entweichen kann, ohne dass je irgendetwas verpufft. So entsteht eine musikalisch logische fortschreitende Bewegung, in welcher der Billige Bauer es schafft, die druckvoll konzentrierte Summe des Ganzen mehr als seine einzelnen Teile klingen zu lassen. Inmitten dessen Omri Ziegeles Stimme mit Texten des US-amerikanischen Dichters Robert Creely. „What was love…and how did one get there?“ Das Auditorium ist geladen, diese Frage in all ihrer existenziellen Tiefe klar mitzuempfinden und in die Jetztzeit zu transzendieren.

Co Streiff sammelte Spielpraxis und Erfahrungen beim Circus Theater Federlos, bei Kadash und nicht zuletzt beim Vienna Art Orchestra. Erst letztens legte sie auf Intakt das mit Irene Schweizer aufgenommene „Twin Lines“-Album vor, und mit „Qattara“ wird erneut deutlich, dass das grenzüberschreitende, farbenfrohe wie facettenreiche Spiel ihr Ding ist. Das Album ist das erste ihrer eigenen Band, und was hier an lebensfrohem wie bewegtem Gestus aus den Lautsprechern klingt, ist von der zwingenden Intensität und Spielfreude, die sich bisweilen zu einem immer dichter werdenden Groove verdichtet, einfach nur umwerfend zu nennen. Musik wie die heißen Winde der nordafrikanischen Wüste – die Qattara ist eine Senke in der lybischen Wüste, deren Niveau unter dem Meeresspiegel liegt und in der sich heute versteinerte Meerestiere befinden -, dazwischen die kalten und klaren Nächte: die Saxofonistin Co Streiff hat eine Vorliebe für diese Landschaft, und ein Trip dorthinein wurde ihr und ihrem Weg- und Bandgefährten Tommy Meier letztens fast zum Verhängnis. Auch dies ist Teil dieser Musik und wird genauso gespiegelt wie das kompakte und zugleich sehr offene und visionäre Ensemblespiel von Sun Ra oder dem Vienna Art Orchestra, dem sich Streiffs Musik sehr verbunden fühlt. Diese määndernden Tonschleifen schlängeln sich durch das Gehör wie ein sich nach nomadisierendem Tanz auf der Erde sehnendes Wolkentier. Wenn orientalisches oder verwandtes Instrumentarium miteinbezogen wird, atmet es in den besten Fällen den Geist des Zusammenspiels von Archie Shepp mit arabischen Musikern oder Coltranes Transformation spanisch-arabischer Metrik auf „Olè“. Flirrende Hitze entsteht, und stets vorwärtstreibende Reisebewegungen, in denen ein plötzlicher Schwenk nach Grönland keine Überraschung mehr ist. Auf „Qattara“ ist eine epische Musik hörbar, die weit über impressionistische Klangbilder hinausgeht, ebenso wie (in der Wüste) überraschend farbige lyrische Elemente, deren Wurzeln miterlebt und nicht nachempfunden sind. Das Streiff-Sextett vermeidet dabei jegliches pittoreske Klischee, indem stets auch die freien europäischen Jazzwurzeln freigelegt werden. Doch auch die Klangfarben von Roma-Musik oder schamanistischen Zeremonien scheinen durch diese großartigen Verschmelzungen, die sich niemals sperrig oder kantig geben, sondern vielmehr eine lustvolle Aufforderung zur kompromisslosen Überschreitung sind. Grosse Nomadenmusik.

Bei der letzten hier vorgestellten Platte lassen sich drei willkürlich herausgegriffene Aspekte der vorangehenden mit einem ganz spezifischem Sinn zusammenbinden: es ist Triomusik, eine unfreiwillige Art von Requiem, und schließlich auch ein Zeugnis des großen Nomaden und Heimkehrers Peter Kowald, dem im letzten Jahr viel zu früh Verstorbenem. Kowald spannte von Wuppertal aus sein weitreichendes Netzwerk von Verbindungen, er lud gerne ein und wurde ebenso gerne eingeladen, und seine Rastlosigkeit und Umtriebigkeit war sprichwörtlich. Mit Günther Sommer und Conny Bauer pflegte er eine konstante Fortsetzung der Trioformation: vor über zwanzig Jahren mit Leo Smith, für den zehn Jahre später wiederum Bauers Bass kam. Aus dem 1991er Liveauftritt zum Festival in Victoriaville/Canada erwuchs dieser äußerst kraftvoll-bewusste Dreier heraus, der sich in vielen Konzerten profilierte, und mit dem man im Dezember 2001 in Zürich mit vorliegender CD anknüpfen konnte. Die Studiosituation bot Anlass, zwischen Himmel und Erde die „Ad-Hoc-Inspiration der live-Konzerte“, so Sommer in den lesenswerten Linernotes, „in eine determinierte Struktur zu setzen“. Die mit menschlichen Tätigkeiten wie „Waiting for“, „Fighting“, „Travelling“, „Loving“, „Suffering“ oder schlicht „Playing“ betitelten Stücke atmen eine großartige gemeinsame Sprache ein und aus, die zwischen Erdung und Spiritualität hin und her flüchtet, und decken mit dem dabei in aller Kargheit entstehenden intensiven Klangreichtum ein existenzielles Spektrum ab, das zwischen zen-artiger Gelassenheit und hyperventiliertem Flehen changiert. Dieses nachzuverfolgen, ist ein Erlebnis, und bietet eine brillante Dokumentation dieses packenden Live-Trio-Spiels, für die man dankbar sein kann. Wer wird an diese scheinbar selbstverständliche Intensität der drei alten Herren anknüpfen? Für Kowald holte Sommer schweren Herzens dessen ehemaligen Lehrer, Freund und Spiritus Rector Barre Phillips in die Formation. Die letzten drei Stücke dieses Albums zelebrieren einen kompakt-gemeinsamen Jazzdrive, der Anfang jedoch gibt sich überraschenderweise gedehnt und gezogen, ja: die Zeit streckend. Zeit – das ist es. Die Zeit für Peter Kowald ist abgelaufen, und „Between Heaven and Earth“ erscheint auf einmal als ein Requiem – nicht für ihn, sondern für die abgelaufene Lebenszeit.

(Jazzthetik)

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