FAHRSTUHL ZUM KOMPLOTT
Kein Hype, bitte: „Electric Avenue Tapes“ ist der lapidare Titel des neuen Albums der 6- bzw. 7-köpfigen Band aus dem Komplex „Weilheim“. Zeit für eine Momentaufnahme, vor allem an diesem Orte, da das Tied + Tickled Trio bereits seit Jahren eine unspektakulär arbeitende Schnittstelle für Jazz und Elektronik ist, die ihre grossartigen Ergebnisse tatsächlich in einer klassischen Bandform produziert und vorstellt. Das Projekt ist jedoch nicht so einfach greifbar: sämtliche Mitglieder spielen und produzieren in anderen Ensembles und Projekten (u.a. The Notwist, Console), und es gibt auch keine der üblichen Promotouren, um das neue Produkt anzupreisen. So macht man sich auf den Weg nach Köln, wo das „Tio“ inmitten der Indie-Pop-Acts Raz O Hara und Escobar einen seiner seltenen Live-Gigs spielt. Eine denkbar ungünstige Situation für ein Gespräch: Interviewer und Band sind im Totalstress, ein Treffen ist nur zwischen den Orten möglich, zudem erst nach dem Auftritt. Mein erstes Gespräch mit der Band liegt Jahre zurück. Auf der Hinfahrt denke ich über Werdung, Zusammensetzung und Status dieser Band nach, ihr Interesse für Elektronik und Dub, ihre partielle Herkunft aus dem Indie/Crossoverbereich, und ihre suchenden Bewegungen ausserhalb des „Jazzghettos“, wie es Drummer und Pianist Markus Achert einmal nannte, das es so vielen jungen Musikern so schwer mache, sich darin zu verorten und zu entwickeln. Und dass Jazz auf unerklärliche Weise eine Wendung hin zu Rechtsanwälten und Zahnärzten vollzogen habe, die die Musik einfach nicht verdient habe. Vielmehr solle Jazz wie Punk-Rock sein. Ein Blick aus dem Fenster. In der Zeitung lese ich eine Hommage von Manfred Lahnstein an Klaus Doldinger, der exakt heute 65. Geburtstag hat: „Er wird immer wieder seine Kanne nehmen“. Lahnstein spielte als Jazzposaunist in Doldingers Band „Feetwarmers“, war 1982 SPD-Bundesfinanzminister und später unter anderem Managementberater.
Ein Blick aus dem Fenster. Where are the cool cats?
Köln, Gebäude 9. Tied + Tickled Trio auf der Bühne, ungemein tight und konzentriert. Neben Markus Acher noch sein Bruder Micha an E-Bass und Trompete, Ulrich Wangenheim am Tenorsax, Andreas Gerth an der Elektronik, Christoph Brandner an den E-Drums, am Kontrabass Eva Kruse (auf der Platte basst Robert Klinger), und, eine grosse und gute Überraschung, Johannes Enders am Saxophon, der bereits auf frühen Aufnahmen des „Trios“ mitspielte und dem Sound durch sein fantastisches Spiel einen stilsicheren klassischen Jazztouch verlieh. Enders, ein temporäres, aber im Grund festes Mitglied, gehört zum „Trio“ einfach dazu! Der Grundgestus des Konzerts ist sehr entspannt, groovy und tight, nichts daddelt oder tüddelt hier achtlos in der Ecke, und keine Endlosimprovisationen määndern auf sinnloser Suche nach Korrespondenz in den Ohren des tatsächlich aufmerksam und gespannt lauschenden Publikums herum. Stattdessen bauen einzelne Spieler die Architektur der Stücke nach, andere verziehen sich derweil an den Bühnenrand, mal dominiert die Elektronik, mal die Instrumente, meistens fliesst alles ineinander über und erschafft innerhalb eines sehr monoton-perkussiven, aber ungemein zwingenden Rythmusgerüsts atmosphärische Klangfarben, deren gespannte Atmosphäre in den besten Momenten gar an Miles‘ „Ascenseur pour l‘ échafaud“ erinnert – kann es da Zufall sein, dass der erste Track des Albums „United World Elevator“ heisst? Die globalisierte Welt auf dem Fahrstuhl zum Schaffott, eine neue Interpretation, die mir aber erst nach dem Gespräch in den Sinn kommt. Dort galt es vielmehr, Produktionsbedingungen und Grundsätze dieses aussergewöhnlichen Kollektivs zu klären, das weniger durch hypendes plakatives Propagieren eines neuen Stils als durch unspektakuläres Praktizieren von ebendiesem auf sich Aufmerksam macht. Dieser Stil ist weniger neutönerisch, als man vermuten könnte, als das er vielmehr bestimmte ausser-jazzige Elemente komplett selbstverständlich in einen Bandkosmos überführt, der dann letztenendes einfach verdammt nach Jazz klingt!
Aufgenommen wurde die Platte im Juni letzten Jahres live im Hamburger Westwerk, doch gerade dann gingen beim Konzert wichtige technische Details schief, so dass man tags darauf einfach das Material nochmal aufnahm: live, nur ohne Publikum, aber genauso dicht und druckvoll, bis zur kollektiven Erschöpfung, bis man endlich zufrieden war. Der Mixdown geschah dann im darunterliegenden „Electric Avenue“-Studio von Tobias Levin, mit dem man schon länger zusammenarbeiten wollte. Levin übernahm die Produzentenrolle und organisierte den gesamten Aufnahmeprozess. Die eigentliche Idee, so Markus Acher, war die Livesituation und ihre Unterschiedlichkeit zum Studio zu dokumentieren, also nicht mit dieser filigran-subtilen Arbeitsweise, die dort möglich ist. Die statische und kontrollierte Arbeitsweise des „Trios“ wandelt sich live zu einer Reduktion auf das nötigste Grundgerüst einer Komposition, die allerdings varriert und weiter aufgebaut werden kann. „Intensitäten hochschaukeln“ nennt die Band das, einfacher, aber intensiver und freier. Wie ist die grundsätzliche Arbeits- bzw. Spielweise dieser Band, gibt es erst die Phase des Experimentierens und dann des konzeptuellen Findens, geht dies Hand in Hand, oder spiegelt sich das – auch hinsichtlich der Hardcore-Vergangenheit einiger Mitglieder – und kippt irgendwann ineinander um? Das Tied + Tickled Trio betont stets, trotz der Einordnung in „Jazz“ fern von allen prätentiösen Muckeruntugenden zu stehen. Man sammelt Fragmente und Grundlagen, so Markus Acher, die mit Soli weiterverarbeitet und arrangiert werden. So entsteht die grundsätzliche Idee eines Stückes, das sich dann über die Zeit wandelt. „Ich glaube ein Vorteil dieser Band ist, auch in der Arbeitsweise“, so Andreas Gerth, „dass es zur Hälfte akademische Musiker sind und zur Hälfte Dilettanten, also Leute, die sich intuitiv einen Zugang zur Musik machen. Und diese beiden Hälften arbeiten gut zusammen, daraus kommt eine bestimmte Freiheit auf. Viele von uns sind tatsächlich durch andere Musiken zum Jazz gekommen.“ Johannes Enders erklärt, dass die Improvisationen hier auf durchweg strukturiertere Formen treffen als vielleicht sonst im Jazz üblich, so habe gerade die Elektronik einen ganz gewissen Reiz, so dass auch die Jazzkomponente etwas samplemässiges bekommt – die Instrumentalisten spielen Phrasen öfter und halten sich etwas zurück, wodurch ihre Wiederholungen etwas tranceartiges und zwingendes bekommen. So funktioniert die Atmosphärik dieser Band: der Gesamtklang wird flächiger und tatsächlich filmmusikähnlicher. Bezeichnend sei auch der radikale Umgang mit den einzelnen musikalischen Komponenten, ergänzt Christoph Brandner, keine Idee sei zu abwegig, als dass sie für die Musik nicht in Betracht gezogen werden könnte. „Für mich spiegelt das im übertragenen Sinne einen abstrakten Punk-Geist wieder.“ Gerth hingegen betont, dass diese Aussage vielleicht zu sehr diesen Aspekt betone, nicht zu vergessen sei aber vor allem, dass man es hier ja mit Leuten zu tun habe, die eben wahnsinnig gut spielen können. Viele Versuche im Independentbereich würden sich auf Jazz beziehen, aber da ist dann oft das Spielerische und, ja, Virtuose, einfach nicht da. Beim „Trio“ sei man in der glücklichen Lage, Konventionen aufzubrechen, ohne sich in plakativem purem Dilettantismus zu ergötzen. Die Band ist tatsächlich ein Glücksfall, in dem beide Seiten so gut funktionieren. Die Collagenmusik, die dabei entsteht, ist auch für versierte Spieler wie Enders etwas völlig neues und spannendes. Zuviel Abgleiten in Freejazz, bei dem heute oft Energien etwas schlampig behandelt werden und „abfliessen“, wie er sagt, verhindere hier die strukturierte Elektronik, Bezüge auf den Grundpuls von eher monoton gewichteten Jazzimpulsen wie auch auf die weichen tiefen Rythmuskammern von Dub und Reggae hingegen werden gesucht. Und die Bläser werden nicht etwa leicht und Acid-Jazz-groovy darübergelegt, sondern starten subtil harmonisch-komplexe Energielevel. Klarheit und Monotonie als Stilmittel und Urkonzept, seit die Band einst als Schlagzeugduo mit E-Bass 1996 anfing, elektronischen Klangcharakter mit echten Instrumenten zu suchen. Heute sind die Erweiterungen ungleich weiter aufgeblüht, als sich dies damals vorstellen liess, aber die Basis ist noch gegeben. Man arbeitet interessiert und offen, die Musik ist der einzige Bezugspunkt, Hypes sind nicht gefragt. Die Titel der Stücke, so Markus Acher, seien ja auch so Sachen, die dem „Trio“ gefallen: überhaupt nicht cool, sondern einfach nur seltsam und unhip – das entspricht Arbeitsweise und Erscheinungsbild dieser Band, die einfach nur unspektakulär gute Musik mit einer ganz bestimmten Intensität und Direktheit macht. „Unser Stil ist nie in eine selbstgefällige Virtuosität ausgeartet, kein Gedudel, kein Checkertum, kein Fusion-Virus“, so Acher abschliessend. Ein Komplott der unterschiedlichsten Einflüsse, um den Jazz aus dem Ghetto zu evakuieren.
* Johannes Enders hat soeben zwei Alben mit dem Schlagzeuger Billy Hart aufgenommen und arbeitet zur Zeit an einer Soloplatte, die sehr viel durch Elektronik geprägt sein wird.
* Markus und Micha Acher haben soeben die neue Notwist-Platte fertiggestellt, die am 24. September erscheint, zudem arbeitet Markus Acher derzeit noch mit Christoph Brandner am neuen Album ihres Projekts „Lalipuna“, das im November erscheint.
* Andreas Gerth’s letztes Projekt war seine Zusammenarbeit mit Ted Milton’s „Loopspoor“ auf der Platte „Sublime“. Er tourt häufig mit Milton, der nach wie vor viel live spielt – allerdings weniger Saxofon.
* Christoph Brandner bereitet mit Martin Gretschmann – letzterer ist auch bei „The Notwist“ dabei – das neue Album von „Console“ vor, dass Anfang 2002 erscheinen soll.
* Eva Kruse spielt als Kontrabassistin in einer Berliner Jazzformation.
* Tied + Tickled Trio’s „Electric Avenue Tapes“ ist auf Clearspot / EFA erschienen.
(Jazzthetik)