Amon Tobin – St. Germain: Jazz-Electronic-Crossover Essay

AN DER ÄSTHETIK KRATZEN ODER DEN GEIST TRANSFORMIEREN?

EINE ZWISCHENBILANZ ANHAND VON ZWEI AKTUELLEN MODELLEN

„Es wird eine Zeit kommen, wenn die Mächte, die uns die Dinge geben, sagen werden: ‚Sie wollen also nichts Tolles haben? Na gut – dann sollen sie etwas Schlechtes haben.“ Sun Ra

SPEAKING NEW TONGUES

Die in letzter Zeit hier und auch anderswo diskutierten Ansätz zu Transformationen von Jazz in und durch Stile, die vor allem auf der computerunterstützten Programmierung von Musik basieren, zeichnen sich vor allem durch eine selten konkretisierte Unschärfenrelation aus. Einerseits wird Jazz nach wie vor als Prinzip deklariert, dass sich durch Freiheit, Spontanität, Energie via Liveumsetzung und nicht selten genug „Beherrschung des Instruments“ auszeichnen soll, andererseits werden hauptsächlich auf Programmierung gründende Techniken der Klangerzeugung und -strukturierung allzuoft unter dem amorphen Universalismus „Elektronik“ subsummiert. Mischformen aus beiden Wegen oder unterstützende Elemente von einem Feld ins andere sind seit langem bekannt, neue Tendenzen wurden vor allem durch die Einbindung von Protagonisten der DJ-Culture in improvisierende Ensembles und Projekte konturiert, doch seit geraumer Zeit schon ist vor allem der Sampler in zunehmender Weise zu einem unverzichtbarem Instrument der Jazzavantgarde geworden. Das Vokabular des Prinzip Jazz erweitert und transformiert sich erneut, wichtige Visionen, Versionen und Parametererweiterungen finden auch schon seit langem im HipHop statt, wo neben den durch die sattsam bekannten Images einer auf permanenten Warenausstoss fixierten Kulturindustrie nicht wenige avancierte Crews ihre Aktivitäten völlig selbstverständlich und unprätentiös in den besten Traditionen des Jazz begreifen. Dieser hochinteressante Strang soll an dieser Stelle jedoch nicht Thema sein, vielmehr geht es hier um eine bescheidene Zwischenbilanz von sogenanntem „Sample-Jazz“, der sich an zwei paradigmatischen aktuellen Modellen festmachen lässt, die aus einem eher popmusikalisch definiertem Kontext stammen und die derzeit mit neuen Alben den Horizont der traditionellen JazzhörerInnen erweitern könnten: Amon Tobin und Ludovic Navarre, der sich St. Germain nennt.

MYTHS OF THE NEAR PAST

Im vergangenen Jahr war es vor allem der durch seine Detroit-Techno-Vergangenheit bekanntgewordene Carl Craig, der mit seinem Innerzone Orchestra und dem Album „Programmed“ die Jazz-Community herausforderte. Craig, der sich definitiv nicht als Jazzmusiker, jedoch ín der Rolle eines Arrangeurs, Komponisten und Dirigenten für sein vielköpfiges Ensemble, zu dem auch der ehemalige Sun-Ra-Drummer Francesco Mora gehört, sieht, bezeichnete das offensive Konzept seines Versuches ironisch als „Anti-Jazz“, da er sich zum einen der Grundlagen der Programmierung seiner Version, die durch das Ensemble improvisiert und modifiziert wurde, bewusst war, zum anderen aber auch, da er Jazz wegen eines medial oft vorherrschen Paradigmas von möglichst perfekt gespielter Dekorationsmusik, die aber auch noch swingende Energie haben soll, derzeit in seinem „düstersten Zeitalter“ sieht. Experimente und Parametererweiterunegn sind da wenig gefragt, und Jazzkitschimages passen gut zum neoliberalen Goldrausch. Durch eine bewusste Referenz an den Free Jazz wollte Craig nun den sowohl in die Jahre gekommenen und mittlerweile komplett ausdifferenzierten Techno inspirieren, als auch bewusst zu den Wurzeln totaler Freiheit und offener Spiritualität eines erweiterten Jazzbegriffes zurückgehen. Das auch in Montreaux aufgeführte Projekt war nicht der Jazz-Weisheit letzter Schluss, aber ein wichtiger Impuls für das Genre, der bezeichnenderweise aus einer ganzen anderen Ecke kam. Die Echos aus den Chips der Sample-Jazz-Produzenten, von vielen Puristen einst als anmassende Unzulänglichkeit gegenüber den traditionellen Werten von Livespiel, Liveimprovisation und Liveenergie empfunden, öffnen heutzutage jedoch zunehmend mehr Ohren für ein erweitertes Vokabular des Jazz. Die in den 70er Jahren vollzogene Fusion des Jazz mit Elementen des Rock brauchte auch lange Zeit und enervierende Kontroversen, bis sich bestimmte Momente in einem langem Zeitraum durchgesetzt hatten. Die Fusion „Jazz und Elektronik“ – bei aller zu Beginn vermerkten Unschärferelation dieser Begriffe – ist seit langem schon in Gange, obschon der Vergleich mit Fusion gleich wieder zu dekonstruieren ist. Denn in der „Elektronik“ gibt es wenig bis gar keine „Live“-Elemente, die sich in einer echtzeitlichen Improvisation vermischen könnten. Viele Produzenten betonen dies oft und gerne, bezeichnen ihren Stil entweder als Jazz-inspiriert oder schöpfen schlimmstenfalls nurmehr die Ästhetik ab. Viele Drum & Bass-Tracks der letzten Jahre versuchten sich, durch das „amtliche“ jazzige Sample sowohl geschmacklich als auch historisch-kontextuell aufzuwerten. Mehr als eine Referenz blieb dies jedoch oft nicht. „Musikalische“ Drum & Bass-Produzenten wie LTJ Bukem oder die Forces Of Nature, die bewusst und offensiv geschätzte Jazz- und Fusiongeschichte in ihren Tracks transformieren, stehen dem natürlich genauso entgegen wie Roni Sizes „Reprazent“-Modell, das – „it’s a jazzy thing“ – in der Liveumsetzung die vorprogrammierten Grundgerüste der Tracks mit einer kompletten Bandriege insklusive Kontrabass, Drums und Sängerin vollzog. Diese Modelle sind nahezu wieder Geschichte geworden, da sie bereitwillig den geliebten Mythos vom Livespiel, der Referenz erweisen sollte und letztlich doch die Grundlage der Musik sein soll, nährten, die livehaftige Umsetzung bei aller Qualität jedoch oft sehr hinter den Erwartungen zurückblieb und weder die eine, noch die andere Seite wirklich befriedigte. Von daher wundert es nicht, dass Produzenten, die zb. aus dem für seine eklektizistischen Vorlieben bekannten Umfeld des Londoner „Ninja Tunes“-Label stammen, wie die Begründer Coldcut selbst, das Produzentenduo DJ Food oder eben Amon Tobin ihr „Livespiel“ mit ihrem DJing gleichsetzen. Alles andere wäre für sie eine anmassende Lüge, da ihre Tracks komplett am Rechner entstehen, und diese Arbeit auf einem Showevent allenfalls durch das Abspielen, Mischen und Cutten auf den Plattentellern repräsentiert werden kann. Auf jegliche Liveelemente verzichten diese Produzenten bis auf wenige Ausnahmen: DJ Food kollaborierten mit dem Ex-Tortoise-Mitglied Bundy K. Brown und holten sich mit dem legendären Jazzpoeten Ken Nordine genauso wie Amon Tobin mit dem Medienterroristen Chris Morris allenfalls einen charismatischen „Geschichtenerzähler“ in ihre Tracks. Das Modell St. Germain dagegen steht für eine komplett im Heimstudio programmierte Musik, der dann von verschiedenen Spielern improvisatorische Elemente hinzugefügt werden. Vorhang auf für zwei heimarbeitende Sampler mit explizitem Jazzbezug, deren Output unterschiedlicher nicht sein könnte.

AMON TOBIN lebt in Brighton und wurde in Brasilien geboren. Erste Releases unter dem Pseudonym Cujo wie das Album „Adventures In Foam“ für Ninebar Records fielen nur einigen Spezialisten auf, dafür aber Jonathan Moore und Matt Black, den Coldcut- und Ninja Tune-Machern, die ihn sofort unter Vertrag nahmen. Das 97er Album „Bricolage“, auf dem Tobin bereits mit vielen veränderten Jazzsamples arbeitete, sowie das ungleich düster geratenere 98er Meisterwerk „Permutation“, das in Punkto der cinematografisch exakten wie auch äusserst phantasievollen Klangschichtungen und Strukturen sogar an die Filmworks von Ennio Morricone erinnerte, brachten Tobin viel Beachtung und Renomee ein. Er spielte seine Tracks auf dem Montreaux-Festival wie auch in der Knitting Factory, und „Permutation“ entwickelte sich ausgerechnet in den USA als regelrechter Indiependent-Verkaufsrenner. Den Vielreisenden, der seine Tracks mittlerweile in der ganzen Welt vorstellt und immer wieder erstaunliche Publikumsreaktionen verzeichnen kann, wundert das gar nicht, da gerade das USA-Publikum wegen der grossen Jazz- und HipHop-Vergangenheit sehr aufnahmefähig für seinen letztlich doch sehr avancierten Klang sei. Sampeln ist für Tobin wie eine Fotografie eines musikalischen Ereignisses. Die Energie und die Momente werden von ihm festgehalten, bearbeitet und neu zusammengesetzt, und diese kombinierte neue Energie ist es, die ihn interessiert. „Die kleinen Snapshots haben teilweise sehr verschiedene Richtungen, ich setze sie neu zusammen und erhalte meine eigene Richtung. Du musst deinen eigenen Fokus damit erschaffen, du musst die Teile strecken, formen, schnitzen, was auch immer. Was du mit den Elementen auch machst, es beinhaltet immer noch ein Element von dem, wo es herkommt – und genau das erzeugt die neue Form von Spannung.“ So entsteht eine Evolution des Klanges: es ist ein Reprozessieren von bereits existierendem aufgenommenem Material. Einzelne Elemente werden dekodiert und in Tobins ureigenen Kontext übertragen. Er mag Sounds und Samples, die unerwartete Qualitäten bekommen, wenn man sie digital bearbeitet. Der Klang eines Einzelinstrumentes ist ihm viel zu „rein“. Stattdessen bevorzugt er es, Klänge zu korrumpieren. Tobin liebt Free Jazz und improvisierte Musik, aber sagt ganz bestimmt, dass es unmöglich für ihn ist, Musik zu machen, die spontan auf dem Punkt entsteht. An seinem neuen Album „Supermodified“ arbeitete er neun Monate lang. Die Melodien, deren dunkle Schichtungen ihn auf „Permutation“ noch interessierten, sollten diesmal wie Rythmik und Perkussion klingen, eine typische Jazzpraxis also. Es ging darum, verschiedenen Dingen in einem Track ihren Lauf zu lassen, so dass sich zur selben Zeit verschiedene Richtungen ausbreiten konnten. „Ich machte Bässe aus Motorrad- und Tubasamples und Breaks aus Fürzen und Spuckgeräuschen.“ Selten sampelt er selber Klänge, dafür aber treibt er während seiner Tourneen die erstaunlichsten Platten als Quellen auf. Dieses Sample-Searching ist ein fester kreativer Teil des Musikmachens. Und wieder verschiebt sich ein traditioneller kreativer Wert. Die Jazz-Community hört dies trotzdem mit Wohlwollen. „Die ganzen Jazz-Hardliner, die ich zb. auch in Montreaux traf, wo ich – ich weiss nicht wie oft schon – spielte: sie waren wirklich sehr supportive – weil sie es verstehen, dass ich Jazz mag, aber nicht versuche, welchen zu machen. Ich dachte, sie lehnen mich ab, ich würde ihre Musik bastardisieren, aber sie stehen auf diese Freiheit und das Mixen von Stilen.“

ST. GERMAIN lebt unter dem Namen Ludovic Navarre in Paris und produzierte seit Anfang der 90er Jahre seine spezielle Version von House und Techno, die er schon früh mit Jazz, Blues, Dub und Ambientstilen verband. Ursprünglich wollte er Sportler werden, doch seit einem schweren Unfall erübrigte sich das, und er entwickelte sich zu einem typischen Musik-Heimarbeiter. Sein 1995er Album „Boulevard“ erlangte die relativ hohe Verkaufszahl von 200.000 Kopien weltweit, wurde in England zur Platte des Jahres gekürt und neben Sellern wie Goldie, d’Angelo und Michael Jackson gar für den Dance Award nominiert. Navarres neue Platte nun heisst „Tourist“ und unlängst auf Blue Note erschienen, was nahezu eine kleine Revolution bedeutet. Zwar entwickelte sich das Traditionslabel bisweilen schon öfter in publikumswirksame Gefilde hinein, aber eine derart genreüberkreuzende Platte, die die Sample-Jazz und Deep-House-Melange, zu dem St. Germains „Band“ im Studio improvisiert, so effektvoll präsentiert, verwundert letztendlich doch. „Die Platte ist nicht Jazz und nicht Techno“, weiss Navarre, und es ist schwer vorzustellen, ob dieses genreunabhängige Album auf breiten Konsens oder differente geschmäcklerische Ablehnung stossen wird. Kategorien sind für diesen Jazz-Dance-Pop-Crossover jedenfalls schwerlich zu finden, und Navarre weiss dies auch, es amüsiert ihn natürlich und kümmert ihn wenig. Denn bei allen äusserst gelungenen Changierungen zwischen Tiefe und Leichtigkeit von „Tourist“ steht zu keiner Zeit ausser Frage, dass er ein bewusstes Verständnis von Jazz hat, dies jedoch nicht in einer avancierten und genresprengenden, sondern sehr integrativen Weise. Ein klassisches Instrument hat Navarre, wie auch Amon Tobin, nie gelernt. Sein Instrument ist die Maus. Er hat Ideen zu seinen Tracks, die er in den Grundzügen am Rechner produziert, und dann seinen vier Musikern, die er sehr gut kennt, nicht etwa vorspielt, aber ihnen die Atmosphäre der Stücke beschreibt. Dann lässt er sie jeweils einzeln etwa 20 Minuten dazu spielen, und arrangiert die aufgenommenen Skizzen nocheinmal neu. Oft sei die erste Version die Beste, sagt er. Als Dirigent sieht er sich nicht und ist keineswegs autoritär in seinen Vorstellungen. Die Freiheit, die er den Musikern lässt, ist das Prinzip Jazz für ihn. Den Kontakt zu Blue Note wie auch die Reaktion auf seine Musik hat er sich viel schwieriger vorgestellt. Vor zwei Jahren veranstaltete das Label einen DJ-Contest, und Navarre sass in der Jury. Der Kontakt wurde dann aufrechterhalten. „Es hat sich enorm viel verändert in den Strukturen, sowohl verwaltungstechnisch, als auch von der künstlerischen Bandbreite her. Eine Öffnung auch im Hinblick auf veränderte Hörgewohnheiten, und zu dem Zeitpunkt hatte sich schon soviel entwickelt, dass es realisierbar war.“ Eine unspektakuläre Revolution. Wie beurteilt er die Jazzpuristen, die bisweilen allergisch auf jede Form von programmierten Beats reagieren? Navarre lächelt und nickt, das Wort „allergisch“ treffe es genau. Aber: er war ungemein überrascht, dass er derart mit offenen Armen aufgenommen wurde. Generell will er die Strukturen aufbrechen, so dass die Gesamtstimmung des Genres toleranter und lockerer wird. Künstler müssen aus Kontexten ausbrechen können, sagt er, ohne dass ihnen gleich Verrat vorgeworfen werden sollte. Mit seiner bisherigen Version sieht er sich ziemlich alleine, allenfalls der verehrte und ebenfalls auf Blue Note veröffentlichende Eric Truffaz, der mit Jazz angefangen hat und sich dann zur neuen Musik weiterentwickelt hat, ist für Navarre, der auch schon Pierre Henri zu einer House-beeinflussten Version zurechtremixte (mit der er übrigens nur leidlich zufrieden ist, zu schnell musste es damals gehen), ein vergleichbarer Bezugspunkt, was Arbeitshaltung und Grundintention angeht. Die Musik von St. Germain ist auf alle Fälle bei aller „Sleeper“-Kompabilität (Sleeper = unentschiedene musikalischer Passivkonsumenten mit hoher Kaufkraft) ein sehr populistisches Experiment, das auf hohem produktivem Qualitätsniveau jegliche radikale Innovation gezielt vermeidet. Und kein Jazz-Fan wird ein Stück wie „Pont Des Arts“ lieben, wenn er nicht wenigstens einmal in seinem Leben von der Housemuse tief in sein Herz geküsst worden ist. St. Germain transformiert Jazz weniger, als seine Idiome geschmackssicher, aber auch geschmäcklerisch nachzubauen und mit juvenilen Beats zu verbinden, Amon Tobin hingegen reisst die Musik respektvoll in Fetzen und schiebt das Prinzip Jazz mit jedem neuen Album auf ein neues Paralell-Level. Zwei Modelle mit populärem Anspruch als Tester, wie aufnahmefähig und tolerant Jazz 2000 derzeit ist. Gut oder schlecht, zukünftige Produktionen werden weitere Wege formulieren.

(Jazzthetik)

Schreibe einen Kommentar