Year of the Blues

Jetzt, nachdem wir erfahren haben, dass der US-Senat 2003 zum “Year Of The Blues” erklärt hat, wird uns so einiges klar in diesem Jahr. Jetzt kapieren wir, dass es weh tun muss, wenn man in der Früh morgens aufsteht und die Rüstungskammer wieder leer ist, dass es schmerzt, Baby, wenn die undankbaren Verbündeten einen verlassen haben, und dass man sich unten und aus fühlt, wenn die ganze Welt einen billigen Kaspar aus einem macht….da möchte man rambeln die ganze Nacht, und schnell noch mal die ganze Welt mitumgebracht…

Wer bringt Musik und Politik noch mal wie zusammen? Anmerkungen und Skizzen zur Konkretisierung eines Gefühls in der Popkultur im Jahr 2003.

Field Holler

Thema des Jahres war der Angriffskrieg der USA und ihrer Verbündeten gegen den Irak. Und alle Tönchen, die uns 2003 als essentiell und existenzerhaltend angepriesen wurden, mussten da erst mal hintenanstehen. Denn es lässt sich nicht einfach so tun, als sei die Welt im Musikladen in Ordnung, wenn draußen vor der Tür die Fetzen fliegen und eine entfesselte New-World-Order sich weltweit die Bahn pflügt. Dazu der tägliche Talking-Blues vom immer vehementer betriebenem globalem Abbau sozialer Errungenschaften, die einer kaltschnäuzig-kapitalistischen Herrenlogik geopfert werden, und wir haben schon mal erste Ansätze für ein prima Konzeptalbum, das gute Chancen hat, Album des Jahres zu werden. Denn mit von Oben behaupteten ökonomischen Sachzwängen und eiskalten Erlassen von Verfügungen werden die schon lange sedierten Untertanen des auf ungerechter Verteilung basierenden Wirtschaftssystems hinreißend gefügig gemacht. Und dazu spielt, und darum geht es hier ja auch noch, wie immer: die Musik.

Baby, please wait!

Letztens im Nahverkehrs-Bahnhof einer europäischen Großstadt: eine entnervte und ziemlich alltagsausgepowerte Menschenmenge wartet auf Verbindungen, die offensichtlich nicht kommen und, die Ahnung setzt sich langsam bei den meisten durch, auch nie mehr kommen werden. Zur Krönung dieser Szenerie spielt über allen Köpfen ein nervtötender Endlos-Loop immerzu „Bitte warten…Bitte warten…Bitte warten…“, bis manche schließlich irgendeine Bahn nehmen, um einfach zu entkommen. Im Zug dann trösten sich ungewöhnlich Viele mit Kabeln, die aus ihren Ohren hängen…was hören die denn da alle? Man wird die Idee nicht los, dass sie den Bitte-Warten-Loop einfach weiterhören.

Woke up new in an old surrounding

Vielleicht hörten sie aber auch “Woke up this morning and saw pop dead”, denn das war schon ein Hit in 2003. Der seit Jahren kursierende Avant-Folk mutierte per Feuilleton endgültig zum mediokren Blues-Schlager. Der Niedergang von Pop wie wir ihn liebten und hassten war 2003 überbeliebtes und geherztes Kulturthema. Da halten wir noch mal kurz die Taschenlampe drauf: wir sehen viel Lamento über Poptod durch Download, zunehmende Schablonen-Kommerzialisierung und seitenlange Exegesen über die internationale „Starsearch“-Mania aka die Jugend von heute will sich ja nur kollektiv zum Superstar casten lassen. Letztlich sehen wir aber nur einen weißen Schimmel traben, denn wer nicht sieht, dass Pop und Kommerz schon immer untrennbar miteinander verbunden waren, der hatte von Anfang an keine Ahnung davon. Vielleicht reicht es zusammenfassend zu sagen, dass der früher von fahrlässigen Fantasien spätpubertierender – übrigens meist männlicher – Akademiker genährte Popbegriff der Subversion dieses Jahr wieder ein gutes und korrektes Stückchen mehr implodiert ist. Viele erzählen jedoch auch im Jahr des Blues noch fleißig die Märchen vom „guten“ Pop weiter, einem sagenumwobenem Aufrege-und-Nicht-Einverstanden-Pop, der so gar nichts mit den flächendeckenden Saccharin-Überdosen der Post-Bohlen-Generation und der Volkstheorie von mitunter völkisch anmutendem Tech-Hop-Beats gemein haben soll. Dass dieser Ur-Pop – wie einst apostrophiert – links, tapfer, clever und strategisch gewitzt den erfolgreichen Marsch durch die Institutionen sprich in diesem Falle die Charts und dann die Herzen absolvieren wird, das ist nicht erst seit 2003 endgültig durchgeschossene Geschichte geworden. Stattdessen ist der Ur-Pop, der gute Onkel Pop, nun erkennbare Märchenfigur geworden. Mit der bringt man hyperaktive Kinder in dunkler Nacht zum Einschlafen. Selten sieht man den guten Onkel Pop hingegen in der realen taghellen Welt, denn er lebt ja dort, wo es sich mitunter am spannendsten leben lässt: in den Nischen.

Turnaround

2003 ist nicht das Jahr, in dem dies besonders deutlich geworden ist. Aber angesichts der ökonomischen Einbrüche und intellektuellen Verschiebungen im Bereich Popkultur bietet es eine sehr gute Gelegenheit zur Bestandsaufnahme eines Gefühls, das primär aus dem flächendeckenden Verlust von Pop als einer allgemein anerkannter gegenkulturpolitischen Projektionsfläche resultiert. Sicher gibt es derzeit Popmusik, unzähliger Art sogar, die sich auch in sozialen Ritualen und Bezugsräumen konstituiert, ergo phänomenologisch existiert. Aber dies hauptsächlich als ein inflationärer Aktivismus von Produkten, Projektionen und den dazugehörigen Ritualen, durch die „das Soziale“ im Sinne einer bewegten kollektiven interkommunikativen politischen Bewusstmachung, die sich letztlich in eine reale politische Praxis transformiert, längst medial absorbiert und indifferent gemacht geworden ist. Trotzdem generieren diese Prozesse Wichtigkeit, die real jedoch nie eingelöst werden. Angesichts dessen verwundert im Popbereich nicht diese eigentümliche Mischung aus übersättigter Müdigkeit, abgeklärtem Zynismus und dem mit Leidenschaft codiertem Begehren nach Glamour mit sozialer Erdung. Diese Mixtur ist das eigentliche Merkmal des Year of the Blues. Und werden via Subkulturindustrie auch die vermeintlich besseren Modelle zur Bewältigung der schnöden Realität ausgestellt, an die Wirklichkeit des globalen Field Holler können sie einfach nicht heranreichen. Die gültigen Funktionen von Pop bestehen heute vielmehr darin: trotzige Illustration des gefühlten gesellschaftlichen Ist-Zustands, soziale Identifikations- und Motorikhilfe und, zum Aus-Chillen, aufblasbares Kissen für schwere Köpfe, wo „Bewusstsein“ drauf steht. Mehr geht einfach nicht. Und das geht gerade noch durch, aber sämtliche hochgejazzten Polit-Projektionen auf Pop mithilfe der comicartig knatternden Wertemaschine der Subkulturindustrie sind ab 2003 bitte endgültig zum Teufel zu jagen. In diesem Sinne kann dieses Jahr eine unspektakuläre Chance zum längst fälligen Nullpunkt und Neustart in der Pop-Bewertung sein.

Go ahead, Buddy!

Und natürlich gab es auch 2003 noch interessante Beispiele für Popmusik, die sich mithilfe verschiedener Strategien am Komplex der Politik versuchten. Das Konzept der Matthew Herbert Bigband war so ein unspektakuläres Angebot an die Hörer, sich den politischen Subtext der Musik durch die Quellen der Samples und die reflektorischen Hintergründe selbst zu erarbeiten. Ein expliziter Verzicht auf Polit-Pop-Slogans, verpackt in scheinbar reaktionäres Swing-Musikmaterial, das an eine Mischung aus Glenn Miller und Hanns Eisler erinnerte. Ganz anders die aggressiven Raps von Paris: auf dem Cover seines Albums „Sonic Jihad“ rast ein Düsenjet auf das weiße Haus zu. Die expliziten unzensierten Angriffe auf das Bush-Regime, unterstützt von Public Enemy und Dead Prez, verloren jedoch eindeutig durch das eher altbackene HipHop-Material und eine mitunter pornografisch wirkende Direktheit in der Gesamtdarstellung an nachhaltiger Kraft. Komplett andere Baustelle: das KunstPolitKollektiv „Ultra Red“ aus Los Angeles zimmerte auf der 12“ „Amnistia!“ mit bewusst sprödem Minimal-House ein dichtes Gerüst und baute darin O-Töne vom MayDay 2000 in NY ein. Begleitet von einem Essay im Booklet ergibt diese Musik einen Subtext zur Situation illegaler ArbeiterInnen in den USA und im erweiterten Sinne Impulse zum Kampf um öffentliche Räume. Auf der 12“ „Imperial Beach“ wurde dieses Konzept variiert, hier sind die Protestsounds der Demo gegen den Kongress der Freihandelszone der amerikanischen Staaten im April 2001 in Quebec das Ausgangsmaterial. Nicht zuletzt der Hinweis auf die wohl unspektakulärste Musik, die mit dem Oberbegriff Pop nur noch vage bezeichnet werden kann: Improv-Kollektive wie „Jackie-O Motherfucker“, die mit 20 routierenden MusikerInnen aus Portland, New York und Baltimore spielen, oder das Brooklyner „Animal Collective“, traten dieses Jahr mit neuen Alben hervor, auf denen sich musikalische Kommunemodelle mitverfolgen lassen, die tatsächlich noch Wege begehen. Randplatten, unspektakuläre Entwürfe, ohne Mastertheorie, durchschlagender Medien-Präsenz oder von oben verordnetem Pop-Überbau, denn die Präsenz und die Praxis muss nicht in den Medien, sondern im realen Leben gesucht und aktiv umgesetzt werden.

Walking Bass

? Bevor der Boogie ausrollt, noch ein paar blue notes für Pop-Opfer: Weg von der „Kenn ich schon, hab ich schon“-Checker-Logik. Immer wichtiger: gutgelaunte Spielverderberanalysen, welche die amtliche Hype-Logik der Subkulturindustrie kompromisslos gegen den Strich bürsten. Undogmatische, aber klare Positionierungen. Keine Meinungen des Tagesgeschäfts. Inmitten eines Segments, das auf medialer Präsenz und Hysterie beruht, nicht müde werden darauf hinzuweisen, dass alles darin am Ende des Tages Geschäft ist. Gerade das, was hier am kritischsten und nächsten erscheint, zur Disposition stellen. Die Projektionen verdunkeln. Differenzieren, um sich noch stärker zu sammeln.

Politische Popmusik äußert sich mitunter in Formen, denen schwer zu folgen ist. Das Miterleben des Weges kann aber neue Schneisen ins Dickicht schlagen. Das kann House genauso erreichen wie Free-Jazz, daher: Musik, die eine Tür aufreißt zu den wirklichen Problemen…und dann über die Mauer springen. Und über das Feld laufen.

(WOZ)

Schreibe einen Kommentar