Rheinischer Kapitalismus und Subkulturindustrie

Grundlagen zu einer Theorie der Subkulturindustrie anhand einer regionalen Fokussierung.

Einfach levve un levve loße

dennd mr sitze he all em selve Boot.

Nit nur nemme – och jünne künne,

dann köm keiner von uns he je ze koot!

(Einfach leben und Leben lassen

denn wir sitzen hier alle im selben Boot.

nicht nur nehmen – auch gönnen können

dann kommt niemand von uns hier je zu kurz!)

Leeve un leeve losse“,

De Höhner

Als mir der geschätzte Marcus S. Kleiner im Herbst 2006 vom Plan zu dieser Tagung erzählte, stieß ich mich zuerst einmal an dem lokalen Bezug: Rhein und Pop? Wozu eine regionale Eingrenzung, wozu eine Ethnographie des rheinischen Pop-Alltags? Zum einen ist die Popkultur eine internationale und vernetzte Kultur, die sich stärker durch globale mediale Information, Interaktion und Transformation verbreitet und definiert als durch lokale Ausprägungen, und zum anderen bin ich der Ansicht, dass es beim Reden und Schreiben über Popkultur aktuell vor allem nötig ist, die bisher verwendeten Makrobegriffe und –strukturen zu sichten und neu zu definieren, wofür der Mikrobereich, also die jeweiligen regionalen – ich sage lieber ‚kontextuellen’, sonst rückt es mir zu sehr in die Nähe der Volks- und Heimatkunde – Phänomene und Strukturen natürlich den unverzichtbaren faktischen Unterbau liefern. Auf diese, da gehe ich d’accord, lassen sich dann als Beleg und zur Untermauerung von übergreifenden Theorien zurückkommen.

Pop ist darüber hinaus, so meine Ansicht, heute in vielerlei Hinsicht nur noch als kulturelles Strukturphänomen, nicht mehr als ästhetisches Phänomen interessant, erst recht nicht in Bezug auf die ästhetische Form von Einzelphänomenen. Als Beispiel: Eine Popgruppe wie Franz Ferdinand – oder ein weniger hippes Beispiel: H-Block-X – ist weniger als ästhetisches Format denn als soziologisches und ökonomisches – wir können auch sagen: gnadenlos vorhersehbares – Strukturphänomen der Popkultur erwähnenswert. Singuläre ‚Werkanalyen’ im Sinne der bürgerlichen ästhetischen Wissenschaft wären hier verfehlt und – wenn überhaupt – besser der Fan- und Kulturpresse zu überlassen. Die Rezeptionsanalyse ist für die Popkultur unter diesen Umständen und aktuell erst recht bedeutender als eine oftmals unreflektierte und kontextungebundene Materialanalyse. Die bisweilen notwendige Sicht auf die ästhetische Einzelform ist demnach nur mehr der Mörtel für die Architektur der Gesamtanalyse. Dass ich hier als Kulturwissenschaftler und nicht etwa als Fan rede, sollte klar sein.

Hat man sich aber erst einmal auf eine ethnografische regionale Spurensuche am Rhein eingelassen, lässt sich schnell erkennen, wie viel brauchbares Material die Region in Bezug auf die Popkultur und ihre Strukturen hergibt und wie brauchbar und gelungen demnach der Ansatz dieser Tagung ist, nämlich Popkultur zunächst einmal als spezifische, individuelle, lebensweltlich geprägte und vor allem kontextgebundene Kulturform zu betrachten.

Hier gelten die Kategorien ‚Universal- vs. Differenzästhetik’ als dialektischer Zunder für eine weiterführende ästhetische Diskussion und Analyse. Pop ist im wissenschaftlichen Sinne – wie jede Ästhetik – zunächst tatsächlich vor allem kontextuell versteh- und analysierbar. Madonna in Riad bedeutet nämlich etwas anderes als in den USA, und in den USA wieder etwas anderes als in New York oder im Mittleren Westen – ein ganz simples Beispiel, wie sehr der jeweilige Kontext die Rezeption einer ästhetischen Form prägt.

Wie aber dann eine spezifische regionale Popkultur-Spurensuche im Rheinland angehen? Zum x-sten mal die Ecken des – mittlerweile im Gronauer ‚rock’npopmuseum’ wiederaufgerichteten – Can-Studios in Weilerswist1 ausleuchten, zum y-sten mal den Kraftwerk-Maschinenpark in der Mintropstrasse umweihräuchern, die Altglasscherben auf der Ratinger Strasse zusammenklauben, um das einstige Troja der NDW, von dem schon Mitte der 80er Jahre nicht mehr viel zu sehen war, in einer Museumsvitrine wiederauferstehen zu lassen? Oder schließlich, zum z-sten, mal mit einem schimpfenden Rolf-Dieter Brinkmann durch die Loddl-Gegenden von Köln ziehen – von denen übrigens heute auch fast nichts mehr zu erkennen ist -, und ihm am besten gleich ein Eisenerz-Denkmal mit Kölschglas und Tonbandgerät am Rheinufer errichten? Rheinische Pop-Nostalgia a gogo? Und am Ende vielleicht auch noch Lobeshymen auf die störrische, aber letztlich logisch doch immer wieder schön innovative und damit natürlich vor allem wunderbar standortfestigende Kreativkraft der rheinischen Popkultur schmettern?

Daher war meine erste Reaktion: Höhner? Ist das nicht rheinischer Pop? ‚Die Höhner’, eine feste, klare, feierwütig-kompromisslos-gemütliche und damit ergo auch repräsentative rheinische Pop-Grösse? Auch ihre Vorgänger, die ‚Bläck Föös’, sollen nicht unerwähnt bleiben, aber hier nicht weiter interessieren – interessant ist dagegen tatsächlich, warum meine geschätzte ehemalige Heimatstadt Düsseldorf in der Tat kein wirklich dauerhaftes massenkompatibles, also popkulturelles Modell einer Karnevalsband hervorgebracht hat. ‚Die Höhner’ aber, latente, oft nurmehr saisonale rheinische Popkultur-Superstars, deren Charts-Erfolg durch die Handball-WM im Spätsommer 2006 noch nicht ansatzweise abzusehen war. Kann man so machen. Da diese Band essentieller Rhein-Pop ist, möchte ich einige ‚Höhner’-Titel als sinnige Subtitel in meinen Vortragstext einbauen.2

Im Rheinland ließ und lässt sich Popkultur also besonders gut beobachten, so der implizite Subtext dieser Tagung. Na schön. Lassen wir das mal so stehen und uns darauf ein?.

ERSTENS: Nehmen wir diese Hypothese als Grundlage, liessen und lassen sich demzufolge im Rheinland ergo auch besonders gut Strukturen, Funktionen und Phänomene der Kulturindustrie und in diesem Zuge der Subkulturindustrie beobachten. Dazu gleich etwas mehr.

ZWEITENS jedoch: meine hypothetische Frage und Annahme: gibt es hier neben der immer etwas fragwürdige und amorph bleibenden Konstruktion eines ‚Regionalcharakters’ noch etwas spezifisch Rheinisches, etwas Rheinisch-Strukturelles gar? Gibt es: den rheinischen Kapitalismus. Diese spezifische Wirtschaftsform steht als Synonym für die alte Bonner Republik, jetzt aufgelöst zugunsten des Neoliberalismus und der Globalisierungstendenzen der Berliner Republik.

Da der Zusammenhang von Ökonomie und Ästhetik für die Kulturwissenschaften oft besonders interessant und ergiebig ist – die These hierzu lautet verkürzt ‚Ökonomie bildet Hegemonie bildet Ästhetik bildet Ökonomie bildet Hegemonie’ – die Reihenfolge ist bekanntlich eine philosophische Huhn-und-Ei-Frage, nach Marx et al beginnt der Reigen ebenso bekanntlich mit der Ökonomie -, probiere ich hier einen hypothetischen Zusammenhang aus, um einen bemerkenswerten Sachverhalt, nämlich den der sich im Rheinland konstant und konsequent konstituierenden Subkulturindustrie, zu skizzieren und zu verdeutlichen.

Warum diese Verbindung?

  1. Ist sie ein theoretisches Gedankenspiel, eine imaginäre Verbindung und eine dialektische Ineinanderkonstruktion zweier realer Einzelstrukturen, die zu weiterführenden Aussagen führen kann, die mehr als die Summe der einzelnen Teile sind.

  2. Soll sie den generellen Zusammenhang von Popkultur und Kapitalismus bzw. Ästhetik und Ökonomie herausheben und markieren, der diskursiv aufgrund der tollen ästhetischen Phänomene schon mal gerne unter den Tisch zu fallen beliebt. Gerade übrigens, wenn es um die so genannte Subkultur geht. Und

  3. soll sie darauf verweisen, dass auch ethnographisch-regionale Spurensuchen in den Kulturwissenschaften immer in einem übergreifenden Strukturkontext geschehen sollten.

Ich möchte in meinem Beitrag den regionalen Bezug dazu klar vermerken, jedoch nicht überstrapazieren. Die Verbindung der Parameter dieser regionalen Felder ‚Rheinischer Kapitalismus’ und ‚Subkulturindustrie’ soll weniger als 100%ig exakte historisch-politologische Faktizität, sondern vielmehr als sozialästhetisches Panorama und damit als Anregung zu genereller kulturwissenschaftlicher Reflektion und Analyse verstanden werden. Grundsätzlich ist bei allem gebotenem Regionalbezug – der ‚Höhner’-Bezug ist schließlich klar markiert – also letztlich natürlich keine Lokalästhetik die Intention, sondern die Skizzierung kompakter Grundlagen für eine übergreifende Analyse des Systems der Subkulturindustrie.

Der zweite – hier nicht abgedruckte – Teil dieser Analyse enthält eine sehr kurze und kompakte – teils persönlich erlebte, und das gibt mir die Berechtigung, mich derart explizit und klar darüber zu äußern – Geschichte der Entwicklung von Medien, hauptsächlich Popkulturmagazinen, und Strukturen der Subkulturindustrie im Rheinland der 80er und 90er Jahre. Dieser sehr verdichtete Strang korrespondiert sowohl mit einer Intention im Sinne von Rolf Dieter Brinkmann, der ja offensichtlich mit dem Verlangen nach einer ‚konkreten Sinnlichkeit’ auch für das ‚Rhein-Pop’-Tagungskonzept ein wenig der Stichwortgeber war3, ebenso bezieht er sich konkret auf spezifische Entwicklungen im Rheinland, die jedoch auch – logischerweise partiell unter anderer Gewichtung – in der Ausstellung „Pop in R(h)einkultur“ im Kölnischen Stadtmuseum bzw. dem dazugehörigen Katalog bereits hinreichend thematisiert wurden.

Der hier vorliegende erste Teil der Analyse jedoch, der auch auf der Tagung „Pop in R(h)einkultur“ am 19. Oktober 2007 in Düsseldorf vorgetragen wurde, enthält meine wesentlichen Grundannahmen zum System der Subkulturindustrie und dessen Gemeinsamkeiten mit dem rheinischen Kapitalismus.

1. „Jetzt geht’s los“ – Grundsätzliches zur Kultur – und Subkulturindustrie

A.Kulturindustrie

Das Kapitel über Kulturindustrie mit dem Untertitel „Aufklärung als Massenbetrug“ erschien in Horkheimer / Adornos „Dialektik der Aufklärung“4 von 1944 bzw. 1947. Die intensive Rezeption in Studentenkreisen führte schließlich zu der einflussreichen deutschsprachigen Re-Edition von 1969.

Seitdem wird es immer wieder in der neueren Kulturwissenschaft zitiert und erlebte auch im Zuge der jüngeren Auseinandersetzung mit Popkultur und Politik eine Renaissance.5 Horkheimer / Adorno lieferten ihre Kulturindustrie-These als Teil einer soziophilosophischen Analyse des Spätkapitalismus, die aber letztlich kulturalistischer war als manche heute zugeben möchten. Die Kulturindustrie-These ist nicht zuletzt die Kritik einer bestimmten Ästhetik, nämlich der Ästhetik der Warenform von Kultur im Spätkapitalismus. Die Grundannahmen bzw. die philosophischen Reflexionen setze ich als bekannt voraus. Ihr Erbe, auch für den akademischen Diskurs natürlich, ist nicht zuletzt, dass Kultur in ästhetischen Analysen nicht mehr so einfach präventiv auratisiert werden kann, sondern grundsätzlich auch als ein Massenprodukt betrachtet wird, als ein kommerzielle Ware, die hergestellt, vertrieben und verkauft wird. Ob Buch, Musiktonträger, Film oder TV-Sendung – die massenhafte Herstellung aufgrund ständiger Kulturproduktion rückt die Prozesse der kulturellen Fabrikation und eine damit einhergehende Rezeptionsanalyse in den Mittelpunkt einer sich neu orientierenden ästhetischen Wissenschaft, die vormals oft auf eine singuläre Werkanalyse fixiert war.

Die Warenförmigkeit von Kultur im Spätkapitalismus erfährt in diesem Text, ausgehend von den Frühformen der us-amerikanischen Unterhaltungsindustrie, eine erste zuspitzende Reflexion.

Popkultur und den Jargon ablehnend, hat sich die Rede von der Kulturindustrie mittlerweile in vielen derzeitigen Kulturprozessen sowie im Diskurs über Popkultur oft selbst zu einer Art Jargon verfestigt, was im popkulturellen Sinne durchaus einer Sloganisierung gleichkommt. Dies ist keine Bewertung, sondern nur eine Beobachtung: die Konstatierung einer Kulturindustrie ist oft selbst Teil derselben geworden, ganz nach Marcuses Theorie der Repressiven Toleranz wird oft versucht, mit einer Erwähnung und dem Eingeständnis dieser Zustände dieselben und sich selbst in gewisser Weise zu immunisieren, frei nach dem Motto: Wir wissen ja, dass wir im falschen Leben leben, aber wir leben ja richtig darin, denn wir wissen es. Zumindest haben wir die richtigen Schuhe an, hören die richtige Musik und kennen die richtigen Leute.

Was die Reflexion betrifft, können diese Prozesse auch als eine prototypische zeitgenössische Form der theoretischen Transformation interpretiert werden: (bürgerliche) Wissenschaft wird zu zeitgenössischer Pop-Theorie und darüber hinaus zu einer Art Publikumstheorie. Parallel und ergänzend zum akademischen Diskurs sind für eine adäquate kulturwissenschaftliche Analyse noch weitere Diskurse, die das Feld der Ästhetik grundlegend mitbestimmen und die interaktiv aufeinander einwirken, zu beachten, so z.B. der ökonomische Diskurs, der Kritikerdiskurs und der Publikumsdiskurs. Die Transformation der Kulturindustriethese zu einem Populärdiskurs ist nicht zuletzt auch Teil von letzteren beiden Diskursen.

Die grundlegenden Erkenntnisse der 1947er-Kulturindustrie-These jedoch sind auch heute noch bei allen historischen Progressen und Mutationen, die das System der Kultur bis dato ausprägte, sehr bemerkenswert und zutreffend. So findet sich in der ‚Dialektik’ sogar ein Phänomen wie das heute zum Popkultur-Paradigma gewordenen Castingsystem vorweg beschrieben.6

Nehmen wir Horkheimer / Adorno heute noch an, kann die Popkultur demzufolge als direkter Ausdruck der Kulturindustrie bzw. als eine ihrer Entwicklungsstufen interpretiert werden, oft auch als deren Synonym. Heute, wo sich der Begriff der Popkultur als ein maßgebliches kulturelles globales Paradigma durchgesetzt hat, ist es interessant und erkenntnisreich, den Begriff der ‚Kulturindustrie’ in der ‚Dialektik der Aufklärung’ in experimenteller Intention durch ‚Popkultur’ zu ersetzen, um mit dem Wissen von Heute über popkulturelle Prozesse diesen Schritt auf seine Aktualität, Stichhaltigkeit und Relevanz zu überprüfen. Auch hier gilt: die Ergebnisse sind oft frappant und bestechend.7 Dabei ist vor allem hervorzuheben, dass Horkheimer und Adornos Arbeit, wie die meisten kulturwissenschaftlichen Klassiker, als eine Anregung und als ein zu bearbeitender Grundstein auch für aktuelle Analysen betrachtet werden kann, weniger als ideologische Maßnahme, deren eherne Regeln auch heute noch gelten müssen.

B. „Dat künne mer och“: Subkulturindustrie

Für die aktuelle Beschreibung der Popkultur unter Beibehaltung des Blickwinkels als einer Kulturindustrie rückt die Subkulturindustrie (SKI) immer mehr in den Fokus der Analyse. Größere Untersuchungen zur Subkulturindustrie sind selten, und eine maßgebliche und erschöpfende Beschreibung innerhalb eines größeren Strukturrahmens fehlt diesbezüglich immer noch, sowohl im deutschsprachigen wie auch überraschenderweise im angloamerikanischen Raum. Im angloamerikanischen Raum ist der Begriff in der Vergangenheit zwar nicht allzu häufig, aber durchaus im selbstverständlichen Diskursgebrauch zu finden, und dies sowohl in akademischen wie auch Alltagsdiskursen.8 Auch bei der Beschreibung des US-Independetfilmes als ‚Indiewood’ wird – z.B. angesichts von Phänomenen wie dem Sundance-Filmfestival – der Begriff der ‚subculture industry’ verwendet9. Eine große erschließende akademische Aufarbeitung scheint jedoch bislang zu fehlen, in Deutschland erst recht, und das ist definitiv ein Manko.

Dieses Manko bezeichnet weniger die Erbringung bahnbrechender, neuartiger oder investigativ ermittelter Erkenntnisse, vielmehr geht es mir um eine längst überfällige Überführung dieses Diskurse in Bereiche der Kulturwissenschaften sowie um eine selbstverständliche schlüssige Systematisierung und kompakte wissenschaftliche Definition und Beschreibung dessen, was sich Subkulturindustrie nennen lässt. Im kulturwissenschaftlichen Diskurs ist in der Regel oft nur universal von ‚Kulturindustrie’ wie auch von ‚Pop’ die Rede, ohne dass hier bereits im Ansatz notwendigerweise differenziert und definiert wird.

Da wir uns hier auf dieser Tagung mit konkreteren Phänomenen der Popkultur im Rheinland beschäftigen, möchte ich mich hier zunächst auf das Grundlegendste und Kompakteste bezüglich einer Definition der Subkulturindustrie konzentrieren.

Wie definiere ich Subkulturindustrie? Die Popkultur hat sich seit ihren Anfängen in stilistische Subgenres mit unterschiedlichster Publikumsrezeption differenziert. Einige Stilarten agierten prioritär und absichtlich innerhalb, oft nahezu hermetisch abgeschlossener Interessengruppen / Peer Groups, unterhalb der medial sichtbaren Phänomene der Popkultur. Diese Stilarten lassen sich demgemäß klassisch als Subkultur, also unterhalb der normativen Mainstream-Kultur, und auch als Underground bezeichnen. Andy Warhol definierte letzteren Begriff in seinem bekannten TV-Interview mit David Bailey als eine Kultur, für die man in den Keller gehen muss – dies traf es für lange Zeit sehr gut.

Wenn jedoch im Laufe der Zeit der Underground nicht nur aus dem Keller steigt, sondern gleich in den oberen Etagen Platz nimmt bzw. sogar dort geboren wird, und wenn einzelne Phänomene und Ausformungen subkultureller Genres zunehmend zu einer professionellen Struktur werden, die sich vor allem auch ökonomisch äußert, lässt sich von einer Subkulturindustrie reden.

Eine Kulturindustrie der Subkultur und des Undergrounds lässt sich infolgedessen durch eine stetige

  • Ökonomisierung

  • Professionalisierung

  • Funktionalisierung

  • Institutionalisierung

ihrer Systeme definieren, und zwar in dieser Reihenfolge.

Eine noch immer allgemein verbreitete Definition der Subkultur und des Undergrounds ist: hier entsteht Kultur ohne den ästhetischen und ökonomischen Druck des Mainstreams. Die hier entstehenden ästhetischen Subgenres können sich abseits des medialen Mainstreams entwickeln, bis irgendwann die ersten massenkompatiblen Modelle bereitstehen, die eine kommerzielle Vermarktung im großen Stil ermöglichen.

Dies war bei allen historischen popkulturellen Stilen wie z.B. auch den sog. ‚authentischen’ Ur-Pop-Stilen Folk, Blues, Gospel oder Jazz der Fall.10

Im neuen Jahrtausend hat sich die Popkultur demgegenüber endgültig derart stark in Genres und Genreverbindungen ausdifferenziert, dass kaum mehr von großen stilistischen Hauptströmungen, die auch kommerziellen Erfolg und Massenrezeption bedeuten und garantieren, die Rede sein kann. Die Minderheiten selbst sind der neue Mainstream. In der Popmusik haben die 90er Jahre gezeigt, dass die Gewinnmargen zunehmend auch in den Nischen und Sparten hinsichtlich bestimmter Zielgruppen gemacht werden, die vor allem als Summe ökonomisch beachtlich geworden ist und als eine Art Mischkalkulation bisweilen mehr einfuhren als die Konzentration auf einen Hauptstrang.11 Damit einher ging eine ästhetische Umcodierung. Der Begriff der ‚Independent’-Musik12 wurde – auch im Bezug auf das Genre Film – in den 90er Jahren definitiv zu ‚Indie’ als einer subkulturellen ökonomischen Marke umgeprägt. Dieser Prozess bezeichnet ein ‚cultural’ oder ‚aesthetic branding’, das zunehmend mithilfe einer zunächst semiprofessionell arbeitenden sozialästhetischen Wertemaschine gleichsam codiert wie auch mythisiert wurde. Die Professionalisierung von ‚Indie’, die in den 1980ern beispielsweise mit Musiklabels wie dem 1976 gegründeten Label ‚Rough Trade’ begann, wurde in den 90ern perfektioniert und ist heute nahezu abgeschlossen.13 Heute wird ‚Indie’ massenhaft nach identifizierbaren Schemen produziert und von der Stange konsumiert. Der Begriff ist im Wertekanon des ästhetischen Mainstreams angekommen und wird als ökonomisches Branding für eine alternative Kultur verwendet.14 ‚Indie’ ist heute einer der wichtigsten ästhetischen Identifikations-, Definitions- und Markierungsbegriffe für eine Subkulturindustrie, für deren Beschreibung er unumgänglich ist.15

Et jeiht immer öm et jeld“

Der ‚Indie’-Komplex, der historisch zunächst aus ökonomischen Sachzwängen aka ökonomischer und ästhetischer Marginalität entsprang, hat sich entwickelt. Aktuell entspringt er nicht zuletzt immer noch dem unbedingten Willen zur sozialästhetischen Distinktion und der damit verbundenen Identität- und Zielgruppenfindung. In den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden Subkultur und Underground noch oft mit politischer, zumindest sozialer Devianz verbunden und gleichgesetzt. Auch hier jedoch existierten bereits eine professionelle Bereitschaft, diese Prozesse zu funktionalisieren und zu kommerzialisieren, sowie eine dazugehörige Kritik an diesen Prozessen.16

Die Strukturalisierung zu einer Subkulturindustrie ist also keineswegs ein neuartiges Phänomen, sondern kann schon in Frühformen der Popkultur beobachtet werden.

Ist Devianz vom Mainstream in der Popkultur heutzutage oft schon selbst der Mainstream selbst geworden – dies folgt der Logik einer ästhetischen Erneuerung im System der Moden -, ist Dissidenz oder eine Bezugnahme auf Politik ein ganz normales Nischenbusiness innerhalb der Popkultur geworden. Die Professionalisierung dessen lässt sich als DISSIDENZ-MARKETING bezeichnen. Es besagt ganz simpel, dass politisch codierte und konnotierte Bands – gleich, ob sie sich tatsächlich als politisch verstehen oder ob sie in diesem Rahmen überhaupt agieren oder nicht – sich, wenn sie einen bestimmten musikalischen Massengeschmack-Konsens zu bedienen bereit sind, besonders gut verkaufen.

Die Subkulturindustrie, die sich ja geradezu aus der Dissidenz her bildete und darüber identifizierte, war und ist im Bereich des Dissidenz-Marketing stilprägend.

Am besten und problemlosesten jedoch funktioniert der Indie-Komplex, wenn eine irgendwie geartete Konnotation des Sozialen damit verbunden ist, gleich wie amorph diese Codierung auch letztlich sein mag.17 Die sozialästhetischen Distinktionswerte der Subkulturindustrie bildeten sich jedoch nicht allein über eine politische, sondern vor allem über eine ästhetische, eine stilistische Dissidenz heraus18. Der Begriff der Stilpolitik dürfte bekannt und auch heute immer noch viel gebräuchlich sein, möglicherweise auch der diskursive Gestus, der sich in vielen Medien der Subkulturindustrie daraus ableitete: Stil und Politik gehen zusammen bzw. ohne Stil keine Politik, so ein häufiger Gestus. Heute wird jedoch auch zunehmend deutlich, dass Stil vor allem eine neoliberale Lifestyle-Kategorie geworden ist. Stil und Politik gehen im Kapitalismus nicht wirklich relevant zusammen: sichtbar und übrig bleibt oft nur der Stil – also die in Mode verwandelte Politik. Angesichts vieler aktueller subkultureller Phänomene wird zunehmend deutlich, dass die ‚Stil’-Kategorie dort zunehmend an tatsächlichem Devianz- und Dissidenzpotenzial verliert, wo sie sich einer Erscheinungs- und Verwertungslogik im kulturindustriellen Sinne unterordnet und in diesen Prozessen zu einem gewöhnlichen Novelty-Branding im Sinne des Systems der Mode geworden ist.

Die Trennung oder auch Vivisektion der Begriffe ‚Politik’ und ‚Stil’ bzw. Geschmack ist im kulturwissenschaftlichen Sinne in Bezug auf die Funktionsmechanismen der Subkulturindustrie notwendig, um zu erkennen, wie sehr das eine das andere mitunter ersetzt, wie austauschbar die Kategorien mitunter geworden sind, und wie sehr dort zunehmend mit Werten und deren medialen Images gewirtschaftet wird.

Zunehmend definierte sich ‚Indie’ daher bei seinen Rezipienten vornehmlich als eine ästhetische Stilkultur der Distinktion. Geschmack und Stil sind hierbei die maßgeblichen sozialästhetischen Kategorien der Popkultur, die in der Geschichte ihrer Subgenres und Bewegungen immer stärker zum Tragen kamen.19 Die Dissidenz-Marke ‚Indie’ beruht auf dem Glauben an einen guten, geschmackvollen und möglicherweise auch politischen Pop als Subkultur. Diese Distinktionswerte sind der Kitt einer amorphen und unidentifizierten Minderheiten-Massenbewegung. Die praktische Folge dieser Überzeugung ist, wie bei jedem Glauben, eine zunehmende Professionalisierung und Institutionalisierung – dass, was ich als Fundament der Subkulturindustrie bezeichne.

Die Subkulturindustrie bildet ihre eigenen Wertigkeiten heraus: eine politische sowie eine ästhetische Dissidenz bzw. nur mehr eine Distinktion zur ‚großen bösen’ Kulturindustrie – selbst wenn diese Distinktion mittlerweile, auch aus Selbstschutz, manchmal ironisch gebrochen thematisiert wird. Innerhalb des Gesamtkomplexes der Kulturindustrie funktioniert die Subkulturindustrie jedoch nur mehr operational, in dem sie eine Zuträgerfunktion innehat: sie bringt Stile in Form von Novitäten im Sinne von Modezyklen oder als Revitalisierung von alten, abgenutzten, verbrauchten, retrospektiv erneuerten Stilen. Im System ‚Indie’ werden diese Stile zum ersten Mal ausprobiert und marktgetestet. Das System der Mode ist sehr gut geeignet, dieses auf normative Regelbrechung ausgelegte System von Kulturindustrie und Subkulturindustrie zu beschreiben – besser auf jeden Fall als ein ästhetisches Wertesystem, welches auf einer traditionellen Auratik und dem Fetisch einer messbaren Qualität von Kunstmaterial basiert.

Derzeit ist es – es dauerte sehr lange – fast schon hip geworden, Indie zu dissen, doch immer tauchen noch neue Modell als Zombies der Zombies auf. Der österreichische KURIER – ein klar markiertes Mainstream-Medium des Landes – schrieb am 2.9.2007 zum Album ‚Once upon a time in the West’ auf ‚Warner’ von der Band HARD-FI:

Nur, könnte man fragen, reicht’s jetzt nicht irgendwann wieder mit britischem Indie-Rock? Wer nicht und nicht genug bekommen kann, ist hier wieder gut bedient.“

Solch ein Seufzer in einem Mainstream-Medium ist schon bemerkenswert, er belegt aber auch die These, dass das meiste an der aktuellen Popkultur vor allem als Strukturphänomen und nicht als ästhetisches Phänomen beachtenswert ist. Das Beispiel markiert zusätzlich: der Ausstoß geht einfach weiter, Pop macht einfach weiter, aber nicht in dem Sinne eines quasi-idealistischen ‚Weiter’ der Popkultur, das Diedrich Diederichsen in ‚Sexbeat’ noch hinsichtlich eines quasihegelianischen Progress im Sinne hatte. Stattdessen ist es einfach die Redundanz, die Tautologie bzw. die Strukturtautologie, die in der aktuellen Popkultur zählt.

Im ökonomischen Sinne ist die Subkulturindustrie ein Subsystem der Kulturindustrie. Sie codiert die dissidenten und geschmacksdifferenten Waren genauer und bringt sie dadurch effizienter an die Zielgruppe. Durch die Konstruktion sozialer Wertegemeinschaften via Popkultur ergibt sich dadurch oft das Bild einer autarken und kohärenten Gemeinschaft, die mitunter vor allem medialen Images folgt.20

Bereits bei Horkheimer /Adornos Analyse lassen sich erste Hinweise auf eine derartige mehr oder weniger opake Arbeitsteilung finden, hier jedoch noch unter das große Substrat der Kulturindustrie subsummiert. Die Grundfunktion der pseudoqualitativen Segmentierungen der Kulturindustrie jedoch wird klar und in aller Komplexität bezeichnet:

Emphatische Differenzierungen wie die von A- und B-Filmen oder von Geschichten in Magazinen verschiedener Preislagen gehen nicht sowohl aus der Sache hervor, als dass sie der Klassifikation, Organisation und Erfassung der Konsumenten dienen. Für alle ist etwas vorgesehen, damit keiner ausweichen kann, die Unterschiede werden eingeschliffen und propagiert. Die Belieferung des Publikums mit einer Hierarchie von Serienqualitäten dient nur der umso lückenloseren Quantifizierung. Jeder soll sich gleichsam spontan seinem vorweg durch Indizien bestimmten ‚level’ gemäß verhalten und nach der Kategorie des Massenprodukts greifen, die für seinen Typ fabriziert ist. Die Konsumenten werden als statistisches Material auf der Landkarte der Forschungsstellen, die von denen der Propaganda nicht mehr zu unterscheiden sind, in Einkommensgruppen, in rote, grüne und blaue Felder, aufgeteilt.“ 21

Heute lässt sich angesichts der historischen Entwicklung der Popkultur klar eine Subkulturindustrie konstatieren, obwohl dieser Begriff noch immer nicht selbstverständlicher Diskursgebrauch geworden ist. Eine erste scharfe Konturierung erfuhr er im Laufe eines linken Diskurses zwischen radikallinken und kulturlinken Positionen vor allem ab Mitte der 1990er Jahre, hier vor allem durch die Positionen von Günther Jacob und Oliver Marchart, die dem kulturlinken Konsens über das Subversionskonzept der Popkultur äußerst kritisch gegenübertraten.22 Nach dem Abflauen dieser Auseinandersetzungen machte sich zunehmend eine Abwendung von der Bezeichnung der Subkulturindustrie bemerkbar, in vielen kulturwissenschaftlichen Diskursen, die der Popkultur prä-affirmativ gegenüberstanden, taucht er folgerichtig überhaupt nicht mehr auf.

Gleichsam ist zu vermerken, dass der Begriff immer noch auf viele Phänomene des derzeitigen Systems der Popkultur zutreffend ist, sich seine Relevanz diesbezüglich sogar noch verschärft hat.

Bei allen funktionsbedingten Verschiebungen und Neukonstruktionen, die sich im System der Popkultur und der sie verbreitenden Kulturindustrie seitdem ergeben haben, lässt sich feststellen, dass die Subkulturindustrie in Abgrenzung zur Kulturindustrie dieser letztlich als Subsystem zuarbeitet, auch wenn sie sich als differentes System apostrophiert.

Kumm erin“

Wie geschieht dies? Subkulturindustrie bedeutet die Vermarktung des Sozialen aufgrund und mittels ästhetischer, geschmacklicher und letztlich vor allem auch moralischer Differenz. Die Subkulturindustrie produziert vor allem Sozialästhetiken, wobei das Soziale dabei zunehmend das Politische ersetzt, ein mittlerweile klares Zeichen postmoderner Transformation.23 Das Soziale ist nicht wirklich, wie Baudrillard oft konstatierte, mit dem Verlust der großen humanistischen Utopien als Kernprojektion untergegangen, vielmehr – um in seinem Duktus zu bleiben – lässt es sich durch rückhaltlose und indifferente metastatische Wucherungen skizzieren. In vielen aktuellen Kulturprodukten ist ‚das Soziale’ mittlerweile vor allem ein Branding zur Zielgruppencodierung und zur Marketingoptimierung – Stichwort ‚Social Marketing’ – geworden. ‚Das Soziale’ ist, um noch mal bei Baudrillard zu bleiben, ein Zombie: es ist nach dem Verlust der großen Utopien zunächst beerdigt worden, ist dann aber anders und ziemlich furchtbar durch die Hintertür wiedergekommen und tippt uns nun vor allem in medialen und ästhetischen Prozessen ständig auf die Schulter. ‚Das Soziale’ als kulturindustrieller Zombie begegnet heute in fast allen Kulturdiskursen. Es generiert sich aus der Überhöhung und Projektion durch Kritiker- und Publikumsdiskurse und ist in der Regel ein vages inhaltliches Versprechen, welches durch das Produkt letztlich gar nicht mehr eingelöst werden muss.24

Die Subkulturindustrie war auch hier eine Avantgarde, da sie diese ästhetische Psychologisierung intensivierte. Sie wirkte hier mit ihren mannigfaltigen Produkten der Dissidenz und des Sozialen wie ein Katalysator auf andere Strukturen. Auch heute ist die Distinktion durch die geschmackszentrierte Markendissidenz, die als sozialer Katalysator im postmodernen Ego-Building wichtig ist, nach wie vor einer der Kernpunkte der Identitätsfindung und –konsolidierung innerhalb aller Teilbereiche der Subkulturindustrie, von denen lange Zeit an erster Stelle die Popmusik kam.25

Do kammer dran föhle“

Ich verweise hier auf meinen Text „Alles muss raus!“ von 2006, in dem bereits einige psychoästhetische Strukturen und Mechanismen der Subkulturindustrie skizziert wurden.

Hier einige zentrale Samples und Kompressionen zum Thema daraus:

Das Verhältnis der Subkulturindustrie zu den Majors, also der ‚großen bösen’ Musik- und Kulturindustrie, ist das, was sich als den ‚guten Onkel Pop und den Schurkenpop’ bezeichnen lässt. Die Subkulturindustrie braucht die Majors und die Negativfolie eines Kommerz-, -Casting und Schurkenstaaten-Pop, um sich demgegenüber als das bessere Modell profilieren und distinktionieren zu können und in Sachen Popkultur hegemoniale Ansprüche an Authentizität und Definitionsvermögen zu stellen. Infolgedessen unterscheide ich in POP, das ist Massenpop, also das, was wirklich massenmedial gesendet und auch rezipiert wird, und POPPOP, das ist spezifischer Zielgruppenpop, der mitunter durchaus elitär und traditionell erscheint und erscheinen will.26

Meine Intention ist hierbei weniger das strukturelle ‚Außensystem’ des jeweiligen kulturellen Subsystems, in diesem Falle Pop – dieses ist vielmehr Grundlage seiner Beschreibung, der faktische Unterbau der Theorie sozusagen27 -, als vielmehr die psychologische Interaktionsstruktur seiner Protagonisten.

Die Subkulturindustrie beschreibe ich in Kapitel 3 unter dem Titel „Furcht und Schrecken der Subkulturindustrie“ folgendermaßen:

Die Subkulturindustrie ist eine einzige Wertemaschine, sie produziert laufend Werte und handelt mit Moral. Ob in Gefühligkeiten oder Abstraktionen ist egal, denn in ihr wird opak mit moralischen Werten gewirtschaftet.“ 28

In den Rezeptionsmaschinen der Subkulturindustrie werden vor allem Gefühligkeiten als inhaltliche Köder ausgelegt. Emotionale Codierungen treten in Häufung auf, und laut Horkheimer / Adorno gilt es immer gerade dann, bei den HERZTÖNEN der Kulturindustrie, aufzuhorchen und wachzubleiben.

Meine provokant formulierte Kompakthese zur Subkulturindustrie aus diesem Text war:

Die Subkulturindustrie ist viel schlimmer als die Mainstreamkulturindustrie, denn sie tut stets so, als wäre sie etwas anderes oder besseres. Und das ist nicht wahr.“ 29

Die meisten, fast alle Kunstformen sind auf eine Publikumsrezeption sowie eine ökonomische Struktur angewiesen. Innerhalb der Subkulturindustrie jedoch werden der Umgang mit der Ökonomie und das Agieren in einem kapitalistischen System gerne relativiert oder auch ironisiert, nicht selten aus strategischen Gründen. Stattdessen werden gerne publicitytauglichere Anlässe wie ‚Dringlichkeit’ oder ‚Leidenschaft’ als wahre Beweggründe angegeben, meistens jedoch ist es eine mehr oder minder sublimierte Form von Moral, mit der in der Subkulturindustrie gewirtschaftet wird. Nicht wenige Subkulturindustrie-Protagonisten wollen sich darüber gerade vom Geiste der Kommerzialisierung abgrenzen und tun dabei so, als haben sie das bessere, aufrichtigere Modell. Dies ist das sublimierte Erbe des Geistes von 1968, der bei der Vermarktung von dissidenten Kulturprodukten irgendwie noch nicht ganz ausgetrieben ist. Nicht nur die Leute und die Musik, so der Subtext, sollen besser sein, sondern dementsprechend auch die Strukturen selbst sollen demzufolge anders sein. Wie aber ist dies möglich, wenn mittels eines kleinkapitalistischen Systems innerhalb eines großkapitalistischen Strukturrahmens gewirtschaftet wird und das sozialästhetische Produkt an eine Zielgruppe vermarktet werden muss?30 Eine Distinktion kann hier meiner Ansicht nach nur über sozialästhetische Wertzuschreibungen erfolgen.

Dies führt zu meiner nächsten These:

In der Subkulturindustrie wird vornehmlich mit Werten und Wertekonstruktionen gewirtschaftet, letztlich lässt sich behaupten: mit Moral. Die Subkulturindustrie ist ihrem Wesen her eine klassische Moralwirtschaft. Sie will sich von der vermeintlichen Indifferenz der großen Kulturindustrie unterscheiden und tut so, als ob sie innerhalb des Systems ein eigenes autarkes System mit einem Warenkreislauf ‚mit Hirn und Herz’ – ganz wie die beliebten Partnerschaftskontaktanzeigen – ausbilden kann.

Der Titel einer Compilation des Labels ‚What’s so funny about’ von Alfred Hilsberg, einem klassischen hiesigen Dissidenz-Marketing-Indie-Impressario, brachte 1992 diesen Gedanken auf den Punkt: „Eine eigene Gesellschaft mit eigener Moral“. Abgesehen, dass dieser Spruch auch auf die Mafia passt, was aber den gewollt-dissidenten Unterton des Unternehmens noch unterstreicht, formuliert sich hier treffenderweise der Kern des Indie-Mythos.

In der Subkulturindustrie werden oftmals bestimmte moralische Werte, Verhaltensweisen, Psychologien und nicht zuletzt Emotionen als Münzwerte der Glaubwürdigkeit benutzt. Beispiele für ein derartiges Wertevokabular lassen sich in den Promotions- und Presseerzeugnissen, die sich bei nicht vorhandener Quellenangabe oft nicht mehr unterscheiden lassen, der Subkulturindustrie zuhauf finden.

Hier die wichtigsten und häufigsten Werte, mit denen gewirtschaftet wird:

  • REBELLION (in den 1960ern: REVOLUTION)

  • SUBVERSION

  • DISSIDENZ

Dies sind die drei großen kategorialen Klassiker des Subkulturmythos. Sie sind das Erbe der popkulturellen Underground- und Subkultur der 1960er Jahre. Hier einige weitere wichtige Wertigkeiten der Subkultur, die aktuell virulent sind und immer wieder mehr oder weniger strategisch eingesetzt werden:

  • LEIDENSCHAFT, GEFÜHLIGKEIT und vor allem: HERZBLUT. Alles ganz große klassische emotionale Münzwerte der Kulturindustrie, und dementsprechend immer wieder und verstärkt in den Medien der Subkulturindustrie zu finden.31 In der kapitalistischen Werbe- und Kulturindustrie sind dies ganz normale emotionale Wertzuschreibungen – Leidenschaft hat z.B. auch die ‚Deutsche Bank’, sie ist laut ihres Werbeslogans der Grund, weshalb sie etwas leistet -, aber in der Subkulturindustrie wird demgegenüber der Mythos der authentischeren und tieferen Gefühligkeit und Herzigkeit gepflegt.32

  • DRINGLICHKEIT. Ein relativ neuer Klassiker, in den Medien der Subkulturindustrie sowie von deren Vertretern inflationär gebraucht ab dem Wiederaufkommen von Indie- / Bandmusikmodellen ab Ende der 1990er Jahre, nach dem medialen Abflauten von Techno, House und Elektro.33 Ziel ist, mit diesem Wert ein moralisches Anliegen amorph und konkret zugleich auszudrücken. Die Analogie zum Gestus eines ästhetischen ‚Sturm und Drang’ ist frappant. Dringlichkeit konnotiert in der Subkulturindustrie in der Regel ein vages politisches Anliegen, dass aber nicht konkret formuliert wird – aus Unfähigkeit oder aus postmodernen Theoriegründen.34

  • TIEFE / DEEPNESS: Subkulturindustrie-Protagonisten sind ‚deeper’ in der Materie drin als Andere, erst recht als z.B. Vertreter der großen Major-Plattenfirmen. ‚Deepness into the music’ ist eine Wertzuschreibung der Subkulturindustrie, die letztlich aus der Fanzine-Kultur kommt. Sie bedeutet zum einen Fach- bzw. Nerdwissen, zum anderen unbedingte Affirmation zum Thema und Identifikation damit. Fanziner und Fans identifizieren sich mit ihren Stars und deren Musik, um ihrem Wirken so näher zu sein, um sich durch einen ähnlichen oder gleichen Lebensstil anzunähern und darüber eine mitunter familiäre Wertegemeinschaft zu bilden. Deepness hat in der Subkultur nicht unbedingt etwas mit dem klassischen ästhetischen Fachwissen zu tun, es entspringt vielmehr dem Willen zur Distinktion und Überidentifikation mit Pop und dessen Wissen, was dem Oberflächencharakter von Popkultur ja zunächst einmal widerspricht.35 Etwas anderes dagegen ist ‚Hipness’, ein wesentlicher Wert der ‚alten’ Subkultur und deren Industrie. Früher war das Konzept Hipness wichtiger als die neue subkulturindustrielle Tiefe. Hipness basierte auf der Dialektik von Schnelligkeit und Oberflächenwahrnehmung, um mittels der – notfalls theoretisch – erfahrenen Synthese (man erinnere sich an Diedrich Diederichsens frühe Unterscheidung zwischen Hipster und Hip-Intellektuellen in ‚Sex Beat’) in der Subkultur ‚weiterzukommen’.

  • AMTLICHKEIT: die ästhetische Soziografie der Subkultur hat sich immer schon früh und gerne um amtliche Verlautbarungen und Konventionen gekümmert. Seltsam, aber aufgrund der mitunter an die Hermetik einer Partei oder eines Geheimordens erinnernde Struktur mancher Subkulturen auch nicht wirklich überraschend. Die Mechanismen von In- und Exklusion sind Grundstrukturen fast jeder Subkultur. Seltsam trotzdem, dass gerade in den angeblich ästhetisch offensten Systemen der größte Hang zum Diktatorischen und zu den rigidesten Unterscheidungen und Definitionen herrscht, beispielsweise zu den richtigen und falschen Stellen / Freunden / Leuten / Orten / Musikgenres etc. – Stilpolitik halt.

Angesichts dieser kurzen Listung können wir leicht erkennen, dass die Kernpunkte eines subkulturellen Wertenetzes und einer subkulturellen Strategie sich nicht zuletzt aus den Mythosklassikern der juvenilen Popkultur speisen: Deepness, Dringlichkeit, Rebellion – die klassischen Versprechungen von einem anderen, aufregenderen und wahreren Leben, die heuer allerdings nur noch zur Vermarktung taugen und in ebendiesem Sinne mit massiver Standardisierung eingesetzt werden.36

Dieser von mir hier sehr kompakt verdichtete psychologische Kanon ist vor allem ein Gestus, der Distinktion und damit Werte und Inhalte binden soll.37 Die Subkulturindustrie ist nicht zuletzt eine Wertemaschine. Ihre Produkte, die Werte, sind zum einen Projektion, die auf die Formate der Subkulturindustrie und ihre Vertreter durch die Medien gemacht wird, zum anderen jedoch sind sie von den AktivistInnen oft mehr oder weniger tatsächlich internalisiert worden. Diejenigen Protagonisten innerhalb der Subkulturindustrie, die relativ nüchtern und wertindifferent ihren Part in der Kulturindustrie spielen und sich als deren klares, noch nicht ganz so ökonomisch erfolgreiches Subsystem, das aber auf dem Weg zum Erfolg ist, begreifen, profitieren immerhin noch vom Gestus der Differenz und Dissidenz, den die Struktur eines warenförmigen Idealismus im allgemeinen verbreitet.

Die hohe Schule der PR besteht darin, ein Produkt aus der Welt des Konsums in die höhere Sphäre der Moral zu transportieren“ 38,

schreibt WAECHTER in der SZ über die aktuellen Versuche multinationaler Globalkonzerne wie Daimler, Airbus oder Vattenfall, ihren Aktivitäten einen ökologischen Anstrich zu geben. Von der Subkulturindustrie könnten sie hier viel lernen, denn deren Moralwirtschaft ist immer schon ein effizientes und nachhaltiges ethisches Investment gewesen.

Kumm los mr uns verdrage“

Soviel zu Psychologie und Ästhetik der Subkulturindustrie. Bezüglich der Struktur ist vor allem auf die Ausbildung eigener Medien und Plattformen der Subkulturindustrie zu verweisen, die sich untereinander vernetzen und darüber hinaus auch mit den Strukturen der Mainstream-Kulturindustrie vernetzen und austauschen. Dieses Modell nennt sich auch im Branchenjargon ‚Medienpartnerschaft’ und ist ein völlig normaler und professioneller Teil des Kulturverwertungs- und Marketingprozesses. Es geht hinsichtlich der auch für einen akademischen Diskurs notwendigen Analyse nun vor allem darum, die nüchterne Selbstverständlichkeit, Objektivität und professionelle Funktionalität dieser Prozesse anzuerkennen, in die ästhetische Analyse zu übernehmen, sie dort herauszustellen und zu beschreiben, um jegliche Projektion und Auratik in der ästhetischen Rezeption von vorneherein zu vermeiden.

Genau wie beispielsweise im System der Literatur Bestseller und deren Autoren ‚gemacht’ werden können, ist dies im System der Subkulturindustrie selbstverständlich auch möglich und wird laufend praktiziert.

Die normative Existenz und Struktur einer Subkulturindustrie sollte im Kontext der Kulturwissenschaften sachlicher betrachtet und anerkannt werden. Hinsichtlich ihrer Strukturen gilt jedoch, leider auch bei einigen Kulturwissenschaftlern, der latente Konsens: bei ihr ist’s doch irgendwie edler im Gemüt. Das stimmt jedoch leider nicht: Indie und Major, Subkulturindustrie und Kulturindustrie sind nur mehr zwei Seiten einer Münze, zwei aufeinander bezogene Systeme. Diese Dialektik sollte bei der kulturwissenschaftlichen Untersuchung zeitgenössischer ästhetischer Systeme Konsens sein, ein Konsens zwar, der gerne kontrovers und differenziert diskutiert werden kann und sollte, der aber zunächst einmal eine diskursive Basis bilden sollte.

Wie sehr sich die Subkulturindustrie mit ihren ökonomischen Partnern verträgt, weil sie sich logisch vertragen muss, ist offensichtlich. In der Popmusikkultur haben sich aktuell die Prozesse der Medienpartnerschaft sehr eingeschliffen. Sie werden von den Beteiligten öfters gerne ironisiert – und dadurch versuchsweise auch gegen substanzielle Kritik immunisiert – oder auch mythologisiert – so durch eine Art Subkulturindustrie-Glamourfaktor – und natürlich mehr oder weniger opak ökonomisch perfektioniert, nämlich durch Sozialpartnerschaften und mediale Netzwerke. Das Prinzip des ‚Payola’, also die gezielte Bestechung von Medienvertretern, in den 1950er Jahren in Mode gekommen, früher noch gerügt und investigativ aufgedeckt, ist in der gesamten Kulturindustrie schon lange nicht mehr nötig. Titelblätter wurden und werden in der Presse der Subkulturindustrie gekauft, Themen durch Anzeigen platziert. Fließband-Promos, massige Gästelistenplätze, schöne, von den Plattenfirmen gesponsorte ‚Dienstreisen’ in ferne Länder für fleißige Popkulturreporter39 und vor allem Teilhabeversprechen an den sozialästhetischen Prozessen via Part-Time-Glam intensivierten zudem das Selbstbild der Subkulturindustrie, und dies noch kurz bevor der ökonomische Einbruch durch die Audioverbreitung via Internet erfolgte. Heute sind die ökonomischen Strukturen durch die Segmentierung und die Digitalisierung der Musikindustrie merklich geschrumpft, dafür aber funktionieren die Prozesse noch geölter und vor allem immer noch im Rahmen einer Industrie. Was die Subkulturindustrie dabei aktuell vor allem auszeichnet, ist eine

sozialökonomisch verträgliche Partnerschaft

zwischen Journalismus und Musikindustrie sowie auch zunehmend der Mode-, Produkt- und Lifestyleindustrie.

Substanzielle oder radikale Strukturkritik an den Prozessen wird innerhalb der Subkulturindustrie abgelehnt oder findet extrem selten statt, allerhöchstens findet eine joviale Ironisierung über die Eingebundenheit in die Verhältnisse statt. Eine ‚Kritik’, z.B. eine Plattenkritik, bedeutet – genau wie in anderen Kultursparten – in der Regel immer eine Affirmation und Anpreisung. Ein Konsens unter der Maxime ‚Wir sitzen ja doch alle in einem Boot’ wird immer wieder mehr oder minder latenter beschworen.

2. „Echte Fründe“ – Rheinischer Kapitalismus und Subkulturindustrie

Das gemeinsame Boot ist genau der richtige Ansatzpunkt, um auf das ‚Rheinische’ in diesen Prozessen zu kommen. Im Rheinland lässt sich die Entwicklung einer SKI sehr gut beobachten. Neben Hamburg war und ist das Rheinland und hier vor allem das Städteduo Köln-Düsseldorf ein hervorragendes Zentrum für Phänomene, Strukturen und eine Sozioästhetik der Subkulturindustrie. Vor allem Köln bietet sich als eine der wichtigsten Zentren der Popkultur in Deutschland an.

Noch im September 2007 schreibt die SZ in einem Bericht über die besten deutschen Weblogs:

Köln ist die Indie-Hauptstadt Deutschlands.“ 40

SPEX, INTRO, POPKOMM, VIVA – das sind nur vier klassische mediale Brands und maßgebliche Initiatoren und Verstärker einer rheinischen Pop- und Subkulturindustrie. Bemerkenswert ist, dass hiervon nur noch ein Brand – nämlich INTRO – mittlerweile in Köln ansässig ist, der Rest ist nach Berlin abgewandert. Bereits durch diese Tatsachen deutet sich ein Strukturwandel an, den ich an dieser Stelle noch unkommentiert lasse. Ebenso bemerkenswert sind die immer noch vergleichsweise große und vielfältige Musikszene, die Club- und Labelkultur der Stadt sowie die popkulturellen Strukturen von Düsseldorf und auch anderen Städten der Rhein-Region.

Das Rheinland wirkt im retrospektiven Blick geradezu wie ein Biotop für eine entstehende Popkultur und Subkulturindustrie. Das Städteduo Köln-Düsseldorf bietet nicht nur reichhaltiges Material zur Historisierung und Genealogie von Popdefinitionen, sondern vor allem Image, Gestus und Ästhetik der Subkulturindustrie entwickelten sich im Rheinischen besonders. Wieso?

Meine These ist: Das Rheinland und der (im erweiterten Sinne Rheinische) Kapitalismus boten der ab den 1960er Jahren prosperierenden Popkultur nicht nur ein besonders angenehmes Klima, sondern über die ersten Initiations- und Verbreitungsorte der Popkultur hinaus nahezu ein Treibhausklima für die Popkultur und die daraus entstehende hiesige Subkulturindustrie.

Ich möchte mich hier trotz aller Höhnerei nicht auf ziemlich vage und auch höchst strittige und individuell unterschiedlich erfahrbare Begriffe wie z.B. ‚Regionalcharakter’ einlassen, obschon sich hierbei sehr interessante Punkte zeigen können. Dies liefe jedoch auf die zu universalistische und letztlich vor allem zu poppige These hinaus: ‚Der rheinische Mensch ist ein Mensch der Popkultur’. Da hätte Rolf Dieter Brinkmann wahrscheinlich etwas anders zu gesagt. Lassen wir das mal an dieser Stelle.

Viel interessanter im Sinne meiner vorherigen Ausführungen ist eine hypothetische Verbindung zwischen Popkultur und dem Rheinischen Kapitalismus. Was bedeutet das?

Der ‚Rheinische Kapitalismus’ gilt als das Wirtschaftsmodell der alten ‚Bonner Republik’: ein sozialliberaler, gemäßigter, sozialverträglicher, ein bisweilen regelrecht gemütlicher, gemächlich die Kanten abschleifender, eben ein rheinischer Kapitalismus. Die Bezeichnung ‚Rheinischer Kapitalismus’ ist noch relativ jung und zielt zum einen auf die definitorische Heraushebung eines kapitalistischen Sonderweges ab sowie zum anderen auf eine generelle korrekte volkswirtschaftliche Differenzierung im globalen Sinne. Zwar wird mit dem Rheinischen Kapitalismus in einigen Modellen auch mitunter generell das kontinentaleuropäische Wirtschaftsmodell der jüngeren Geschichte bezeichnet, mal hinsichtlich der Sozialstaaten Skandinaviens, mal gar bis zum Wirtschaftskorporatismus Japans, aber generell bezeichnet der Rheinische Kapitalismus tatsächlich das von der Regierung Adenauer in Bonn – daher der Name – favorisierte und mittels Ludwig Erhards Ordoliberalismus unter dem Namen ‚Soziale Marktwirtschaft’41 fest installierte Modell. Der Rheinische Kapitalismus ist das Ideal und die Propagierung eines gerechten Teilhabe-Kapitalismus als einer sozialverträglichen Partnerschaft zwischen Arbeitenden und Besitzenden. Die sozialästhetische Projektion des Rheinischen Kapitalismus ist im wahrhaft rheinischen Sinne die des Wahlspruches:

Mr stonn all zosamme!“

Was sind die generellen Kategorien des Rheinischen Kapitalismus?

  • Marktregulierung und eine korporative Lenkung der Wirtschaft durch den Sozialstaat.

  • Die Anerkennung einer sozialen Verantwortlichkeit für die Lohnabhängigen durch den Staat.

  • Die Teilhabe der Lohnabhängigen (früher: des Proletariats) an der prosperierenden wirtschaftlichen Entwicklung.

  • Die daraus resultierende anvisierte Identifikation der Lohnabhängigen mit dem System, auch intensiviert durch soziale Aufstiegsmöglichkeiten und ein allgemeines Herabsenken der Sozialschranken.

  • Darüber hinaus die Notwendigkeit einer Freizeitausfüllenden Kulturindustrie für die Lohnabhängigen. Nicht zuletzt, um zum einen die Identifikation mit dem System auch im Freizeitbereich zu erleichtern, zum anderen, um geregelte Nischen für eine Sub-Individualität zu schaffen. Ein Nebeneffekt ist nicht zuletzt die Sedierung und Auflösung von politischen Klassenbewusstsein und politischen Ansprüchen seitens der Lohnabhängigen. Dies ist kein explizites Merkmal des Rheinischen Kapitalismus, aber eine prosperierende Popkultur hilft bei der Sedierung der Lohnabhängigen und Minderbeschäftigten – das heutige Wort dafür ist ‚Prekariat’ – ungemein.

Mittels solcher Interventionen und Rahmenbedingungen versucht das Modell des Rheinischen Kapitalismus einen sozialen Frieden zu schaffen.

Letztlich zeigt sich der Rheinische Kapitalismus als ein MORALKAPITALISMUS.

Aber ist er das wirklich?

Leider ist Moral in der gesellschaftlichen Realität nicht wirklich als Grundlage geeignet, einen Staat zu lenken, dies ist tatsächlich eher durch wirtschaftliche Prosperität möglich. Sogar Thomas Morus und diverse katholische Soziallehren kommen ohne Moral aus, um ihre Utopien zu skizzieren. Letztlich ist der Rheinische Kapitalismus als moralischer Kapitalismus ein überaus pragmatisches System: es wirtschaftet mit Moral und dem Prinzip der gerechten Teilhabe, um soziale Stabilität und ökonomische Prosperität zu erzielen. Durch die Teilhabe der Arbeitnehmer in der jungen Bundesrepublik wollten sowohl die westlichen alliierten Besatzungsbehörden wie auch die ersten demokratischen Regierungen sowohl eine Hinwendung zum Staatskommunismus des Ostblocks wie auch einen Rückfall in einen NS-Staat verhindern. Der Wiederaufbau Westdeutschlands funktionierte nur durch Teilhabe der Lohnabhängigen. Doch auch diese Analyse ist bitter, aber wahr: der Nazismus schlief in Deutschland nur solange, wie im Kapitalismus die Wirtschaft prosperierte.

Der Rheinische Kapitalismus wirtschaftete also letztlich mit Moral. Er verbarg jedoch seine restaurativen Tendenzen hinter einer Fassade aus Fortschritt, sozialer Gerechtigkeit und Teilhabe an den Prozessen.

Letztlich funktionierte er nur deshalb so effizient, weil er seine Untergebenen als Partizipanten behandelte und sie überzeugen konnte, dass sie aus moralischer Einsicht des Systems Teilhabe an seiner gesellschaftlichen Entwicklung hätten.

Die wirtschaftliche Prosperität wurde mit moralischer Identifikation erworben.

Der moralische Impetus, die Verbindung mit und die Tarnung des ökonomischen Handelns mittels Moral, verbindet den Rheinischen Kapitalismus mit der Subkulturindustrie. Der Rheinische Kapitalismus propagiert Teilhabe der Ausgebeuteten am System, und erhält es dadurch aufrecht, die Subkulturindustrie hingegen propagiert Distinktion vom System und erhält es ebenso aufrecht. Durch Distinktion wird Definitionsmacht, Teilhabe und wirtschaftliche Prosperität angestrebt.

Beide Systeme arbeiten daher letztlich mittels eines moralisch-sozialen Impetus, um mehr oder weniger absichtlich ein ökonomisches System aufrechtzuerhalten. Letztlich jedoch ist das Ergebnis ein variierter Status Quo, eine Variation und Re-Organisation eines fixen wie gleichsam flexiblen Systems innerhalb dessen Toleranzgrenzen.

Der Rheinische Kapitalismus stellt hierbei das Modell einer Sozialpartnerschaft bereit, die politische Antagonismen aufweicht und nivelliert. Die Subkulturindustrie ist hingegen eine auf Distinktion gegründete Wertegemeinschaft mit eigener Moralwirtschaft, die dasselbe mit anderen Mitteln tut: durch eine versprochene Teilnahme an sozialästhetischen Prozessen bindet und ortet sie politische Dissidenz im Kapitalismus und macht sie durch ästhetische Prozesse sozialverträglich.

Durch die versprochene Teilhabe an den Prozessen – ‚Verfolge den Prozess!’, so ein alter Sozialpopslogan aus den Hamburger Tagen der frühen bis mittleren 90er Jahre – wird den Popkulturkonsumenten eine aktive Teilnahme an der Änderung des kapitalistischen Systems suggeriert, letztlich jedoch geht es um dessen Variation und zeitgemäße Transformation. Binsenweisheiten sind oft am schwersten vermittelbar: Wir befinden uns immer noch im System des Kapitalismus, eine Subkulturindustrie ist immer und vor allem noch Teil einer kapitalistischen Kulturindustrie und Pop ist die genuine Kultur des Kapitalismus.

Noch kurz ein bemerkenswerter historischer Vergleich: Die erste okzidentale organisierte Industrie-Kapitalismusvariante war der Manchester-Kapitalismus, ein harter, ausbeuterischer und auf die stetige Effizienz der maschinellen Produktion ausgerichteter Kapitalismus. Es ist im Zusammenhang unseres rheinischen Themas nicht uninteressant, dass die erste maschinelle Baumwollspinnerei auf dem europäischen Festland, also außerhalb Englands, wo die Baumwollindustrie den Manchester-Kapitalismus einleitete, nicht unweit von Düsseldorf existierte und heute noch als Museum zu sehen ist: es ist die Fabrikanlage Cromford in Ratingen. Cromford hatte mit einem sozialverträglichen rheinischen Kapitalismus nichts zu tun: die maschinellen Produktionsweisen wurden in England ausspioniert, das Modell wurde danach in Ratingen kopiert, die Ausbeutung war effizient und autokratisch. Das Rheinland, ja ganz Europa, fand in Cromford einen frühen Vertreter des Manchesterkapitalismus als einen lupenreinen Ausbeuterkapitalismus. Nach dem zweiten Weltkrieg setzte sich hier der Rheinische Kapitalismus als alternatives sozialverträgliches Teilhabemodell durch, und im Rheinland wurde abermals ein britisches Modell, diesmal ein ästhetisches, kopiert und eingeführt: die angloamerikanische Popkultur. Im Rheinland entstanden Jazzclubs und Beat-Keller, und spätestens ab den 1960ern, als das Konzept des Hipstertums sich in der Subkultur etabliert hatte, wurde eifrig spioniert und kopiert, was aus England kam. War der Manchesterkapitalismus noch das Synonym zu einer gesichtslosen Tin-Pan-Alley-artigen Popkulturindustrie, die ihre Produkte im leidenschaftslosen Fließbandtakt herstellte, gewesen, erhielt er im Hipstertum der Subkultur eine bizarre Reprise und Analogie. Hier ging es nun um die gnadenlose Selbstausbeutung des Selbst und der Szene, um stets der Schnellste und Informierteste zu sein. Auch das Modell der subkulturellen Selbstausbeutung in der Popkultur begann hier. Diverse Pop-Szenen definierten sich um die Idee eines stilistischen, ästhetischen und informativen Vorsprungs. Der Hipstergedanke und das Hip-Bewusstsein wandelten sich schließlich kollektiv in eine Struktur um: in das gemütliche Indieland, in dem alle ihr Plätzchen je nach Gusto finden. Der Rheinische Kapitalismus hatte sich auch in der Subkulturindustrie vom Manchesterkapitalismus emanzipiert.

Aktuell wird der Rheinische Kapitalismus oft als historisches und abgeschlossenes Wirtschaftsmodell betrachtet, so z.B. im neoliberalen Diskurspapier von Norbert WALTER42, Chefvolkswirt der Deutschen Bank, aber auch bei KEIL in den Frankfurter Heften. KEIL beruft sich auf Franz Müntefering, der den Kapitalismus so benenne und eben nicht mehr Marktwirtschaft nennt, und stellt dezidiert einen sozialen Klimawandel in Deutschland fest:

Die menschliche Betriebstemperatur ist merklich gesunken. Mit der Dominanz des Finanzkapitals hat der Kapitalismus seinen letzten Rest an rheinischer Gemütlichkeit eingebüßt.“ 43

Allgemein wird festgestellt, dass der Korporatismus, gleich, ob er noch funktioniert oder nicht, den sozioökonomischen Strukturwandel nicht mehr verhindern kann. Der Rheinische Kapitalismus ist durch die globale Öffnung der Märkte ein nostalgisches Modell geworden. Nostalgie zeichnet sich in der Regel nicht zuletzt dadurch aus, dass mit ihr Sachverhalte erinnert und verklärt werden, die so nie stattgefunden haben.

Mit der ‚alten’ Kultur- bzw. Subkulturindustrie verhält es sich möglicherweise ebenso: ihr gemütliches Modell funktioniert nicht mehr. Logisch liegt schon lange nicht mehr ein feierlich verpacktes und lang angekündigtes Vinyl auf dem Schreibtisch der Musikmagazinredaktion. Heute diskutieren die Fan-Blogs mitunter wochenlang über ein Album bevor es offiziell veröffentlicht wird. Oder sie kreieren den neuen Popmusik-Hype gleich selbst – wer braucht denn bald noch eine vermittelnde Industrie und deren Anzeigen, klugscheissernde Goldherz-Fanzine-Schreiberlinge oder einen cool-hyperventilierenden und vor allen Dingen extrem störenden Laber-Moderator im Musik-TV? Was wir, die Pop-Sozialisierten 30 bis 40-Jährigen heute in der scheinbaren Coolness des Wissens über Popästhetik für selbstverständlich halten, darüber lachen die Youngster nur noch, oder es ist ihnen komplett fern oder gleichgültig.

Die SZ schreibt zur aktuellen Situation der Musikindustrie:

Die Branche befindet sich endgültig im freien Fall. Die Plattenfirmen haben die Kontrolle über die Radiosender verloren, große CD-Einzelhändler wie Tower Records gibt es nicht mehr, und MTV sendet Musikvideos nur noch nachts und am frühen Morgen. Der einst so lukrative Album-Markt ist völlig zusammengebrochen. Im Netz werden Singles heruntergeladen, und davon profitiert vor allem der Computerkonzern Apple, der mit dem ‚iTunes Musicstore’ den erfolgreichsten Online-Musicshop betreibt.“ 44

Und doch transformiert sich die personalisierte Struktur der alten Subkulturindustrie, ihre obsessive Fanzine-Basis und ihr Geek- und Nerdtum aktuell in das Internet und kommt dort, auch mittels sich gerade ausdifferenzierender neuer medialer Möglichkeiten der Distribution und Konsumption, zu neuen Blüten. Gerade weil die siechenden Plattenfirmen und ihre schwerfälligen Strukturen oft an Dinosaurier erinnern, bekommt die Subkulturindustrie und Indie als der definitiv neue Mainstream kulturelles wie ästhetisches Gewicht.45 Und gerade weil Indie und Major zwei Seiten einer Münze sind, werden sich die Spieler als Sieger erweisen, die beim Coin-Flipping die schnellste Hand haben, also jene, die schon seit Jahren an einer Zielgruppen-Fan-Base über Internet, Streetcredibility und Mundpropaganda arbeiten. Die Majors jedenfalls, soviel lässt sich bei aller gebotenen Distanz sagen, sind nicht per se blöd, auch wenn das die Indie-Propaganda oft gerne so darstellt. Sie besitzen mittlerweile oft genug Erfahrung in der Lancierung und Vermarktung des ‚Unabhängigen’, Professionalität, Kontakte und Kapazitäten eh, und zudem auch immer noch einiges an Kapital, um diverse Projektballons relativ risikofrei starten zu können.

Die Karawane zieht weiter“

Der Rheinische Kapitalismus stellte das mittlerweile historisch gewordenen Modell einer Sozialpartnerschaft, die politische Antagonismen aufweicht und nivelliert, bereit – die Subkulturindustrie ist eine auf Distinktion gegründete Wertegemeinschaft mit eigener Moralwirtschaft, die dasselbe mit anderen Mitteln tut: durch eine versprochene Teilnahme an sozialästhetischen Prozessen bindet, ortet und transformiert sie politische Dissidenz im Kapitalismus und stellt dadurch einen weiteren Prozessabschnitt der Funktionalisierung einer zunehmend indifferenter werdenden Popkultur dar.

Die von mir beschriebenen ästhetischen Entwicklungen, Verschiebungen und Interdependenzen sind regionale Ausprägungen eines internationalen Phänomens der Popkultur, nämlich der Subkultur. Sie sind Teil einer Indie-Haltung, einer demokratisierten Elite- oder Devianz-Distinktion, die es in England und den USA auch immer noch gibt, die aber in Deutschland im Rheinland maßgebliche eigene Ausprägungen fanden. Die Medien der Subkulturindustrie in Deutschland waren und sind stets sehr in Abhängigkeit von angloamerikanischen Vorgaben gewesen, und auch die rheinischen Subkulturindustriemodelle orientierten sich sehr häufig am britischen medialen Hype-System. Im Deutschland der 90er Jahren zeigte sich dagegen in vielen Bereichen der Popmusik – gerade in Genres wie Diskurspop, HipHop und Techno/House/ Elektronika – Entwicklungen und Varianten an, die, genau wie frühe spezifische regionale Pop-Modelle wie ‚Krautrock’ oder ‚Kraut-Elektronik’, eine spezifische Eigenart besaßen und die auch für die weitere Entwicklung und Konsolidierung einer hiesigen Subkulturindustrie taugten.46

International gesehen ist das Prinzip des Subversions- und Dissidenzpop durch die Strukturen der jeweiligen Subkulturindustrien und der darin vorgehenden Prozesse aktuell immer stärker vereinheitlicht, professionalisiert, institutionalisiert und ergo dadurch auch vor allem vorhersehbar geworden. Und doch existiert in jüngster Vergangenheit und auch derzeit subversives und dissidentes Potenzial in diversen Spielarten der Popmusik, die jedoch mit den klassischen kulturlinken Hipness-Strategien und Projektionen der 1980er wenig gemeinsam haben. Die Rede ist von Produktionen aus beispielsweise den Genres Rechts- und Nazirock, Turbo-Folk oder Dschihad-Pop. Als letzter Stand in dieser Diskussion über Popkultur kann gelten, dass Pop in den westlichen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften, dort also, wo er ab Ende des 2. Weltkriegs am virulentesten war, kein subversives oder dissidentes Potenzial mehr haben kann.

Hier ist er nur mehr: traditionell-demographisches Distinktionsmittel sowie kapitalistische Werte- und Identitätsbindung, in diesem Sinne ergo Verkaufshilfe und –argument in sozioökonomischen Prozessen sowie sozialer Lack. Als Exportgut aber in traditionelle oder atavistische Gesellschaften kann er die Qualitäten der Subversion und Dissidenz jedoch durchaus noch halten. Hier birgt Pop, z.B. in radikal-islamistischen Gesellschaften, durchaus ein Potenzial, nach wie vor eine Art soziale ‚Waffe’ bzw. ein Mittel zum Aufbrechen atavistischer Strukturen zu sein.

Für eine aufgeklärte Kulturwissenschaft, die sich mit Popkultur beschäftigt, sind hinsichtlich des gegenwärtigen Zustands der westlichen Industrie- und Dienstleistergesellschaften vor allem die Ausbildungen von professionellen subkulturellen Identitäten und Strukturen von Interesse. Die Strukturanalyse kann diesbezüglich nicht radikal genug sein. Es geht dabei nicht etwa darum, Ideologiekritik zu betreiben und die Produzenten, Labelbetreiber oder Protagonisten der Subkultur generell als kapitalistische Partizipianten oder Ausbeuter zu diffamieren – obwohl einige von ihnen, soviel sei schon mal gewiss, dies durchaus gerne sind -, sondern das Ziel sollte vielmehr sein, ihre generelle Eingebundenheit in die Verhältnisse eines bestimmten ästhetischen und ökonomischen Systems zu markieren und mit der gebotenen wissenschaftlichen Distanz beschreibbar zu machen.

Über eine Beschreibung dieser Systeme lassen sich dann rückwirkend Aussagen für eine Beschreibung ihrer Ästhetik treffen.

Es geht mir hierbei einmal mehr nicht um eine – oftmals mythisierende – Produktionsanalyse im Sinne einer bürgerlichen Ästhetik, die auf Werkanalysen mittels qualitativer Wertungszuschreibungen abzielt, sondern um eine radikal indifferente ästhetische Kontext-, Rezeptions- und Strukturanalyse.

Die Skizzierung einer soziopsychologischen Ästhetik sowie der ökonomischen Zusammenhänge und der Rezeption durch Medien, Diskurse und Publikum sind die wichtigsten Parameter hierfür.

Das Rheinland bietet bezüglich der Analyse von Pop- und Subkultur sowie der daraus entstehenden industrieartigen Professionalisierung bzw. der darauf bezogenen neuartigen arbeitsteiligen Dienstleistungsstrukturen reichhaltiges Material. Das Modell des Rheinischen Kapitalismus, das ich hier für die diesbezügliche soziopsychologische Analyse herangezogen habe, ist in diesem Rahmen eine klar markierte theoretische Hilfskonstruktion. Unter veränderten ästhetischen wie ökonomischen Rahmenbedingungen müssen die Parameter jeweils anders abgesteckt und die Spurensuche neu angegangen werden.

Fest steht dabei nur eines:

Heim jommer nit.

(Vortrag Tagung „Pop in R(h)einkultur“, Wissenschaftszentrum NRW / Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf 10-2007, Text in: Matejovski / Kleiner / Stahl (Hg.): „Pop in R(h)einkultur. Oberflächenästhetik und Alltagskultur in der Region“, Essen 2008)

1 Das seit 1978 vom Produzenten und Studiotechniker René Tinner betriebene und immer noch voll funktionsfähige Probe- und Aufnahmestudio, das Probe- und Aufnahmeraum von CAN war, wurde am 9.11.2007 von Tinner im rock’npopmuseum Gronau ‚eröffnet’.

2 Die Kölner Band bietet auf ihrer Homepage seit 2007 übrigens den ‚Kölschen Pass’ an, zu dem sie ein ebenso betiteltes Stück schrieb. Dieses einem Reisepass ziemlich ähnlich nachgebildete Dokument, einseh- und bestellbar unter www.koelschpass.de , zeichnet den Besitzer als Kölner – gleich, ob von geografischer Herkunft oder von Geist und Gefühl, aus. Eine ähnliche ‚subversive’ Aktion ist in der Geschichte der Popkultur bislang nur durch das slowenische Künstlerkollektiv NSK (Neue Slowenische Kunst), das u.a. die Band LAIBACH beinhaltet, bekannt. Siehe hierzu http://www.nskstate.com/state/passport.php .

3 Come to Daddy: „Die verdammten Akademikker (Mickertypen) fummeln alle doof rum mit ihren Interpretationen. Dagegen setz mal Deine eigene Lebendigkeit, wenn du die Arbeit über und zu AL machst. Immer hübsch konkret, sinnlich, ohne Schwulst, ohne viel, keine! Akademische Terminologie.“ BRINKMANN, Rolf Dieter: Briefe an Hartmut, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 19.

4 HORKHEIMER, Max / ADORNO, Theodor W.: „Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente“, Kapitel „Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug“, FfM 1998 (Orig. Amsterdam 1947, Re-Edition FfM 1969).

5 In Deutschland z.B. in Diskursen des seit Mitte der 90er in Mainz erscheinenden Buchmagazins ‚Testcard’, in den USA sorgte vor allem JAMESON für eine weiterreichende Rezeption der Kulturindustriethese. Vgl. hierzu JAMESON, Fredric: “Late Marxism: Adorno or: The Persistence of the Dialectic”, London und New York 1990.

6 Hier nur ein Beispiel aus dem Text: „Jede Spur von Spontaneität des Publikums im Rahmen des offiziellen Rundfunks aber wird von Talentjägern, Wettbewerben vorm Mikrophon, protegierten Veranstaltungen aller Art in fachmännischer Auswahl gesteuert und absorbiert. Die Talente gehören dem Betrieb, längst ehe er sie präsentiert: sonst würden sie nicht so eifrig sich einfügen. Die Verfassung des Publikums, die vorgeblich und tatsächlich das System der Kulturindustrie begünstigt, ist ein Teil des Systems, nicht dessen Entschuldigung.“ (S.130) – publiziert 1947, und nicht 2005 angesichts eines der aktuell wichtigsten Paradigmas der Pop-Kultur, dem System der Casting-Shows. HORKHEIMER, Max / ADORNO, Theodor W., a.a.O., S.130.

Das Prinzip der Popstars-Casting-Show wird mittlerweile innerhalb vieler Popmusik- und Popkulturdiskursmodelle als Negativ-Folie verwendet, um sich von diesem Prinzip der ‚bösen’ und ‚schlechten’ Popmusik distinktionieren zu können. Interessant und besonders schön ist dann natürlich, wenn altgestandene Recken der Popmusik-Kulturindustrie diesen Mechanismen selbst im Sinne einer Kritik an der Kulturindustrie äußern. So sagte der Autor und Regisseur Ben Elton, der zusammen mit der Rockgruppe ‚Queen’ den Musical-Welterfolg ‚We Will Rock You’ kreierte zur Situation der heutigen Popmusik: „Musik wird heute fabriksmäßig gemacht. Entertainment wird geplant. So etwa sagt man uns sechs Monate vorher, was der große Kinohit des Sommers sein wird. Früher wussten wir das erst nachher.“ Der Mann hat recht – nur dass Popmusik immer schon geplant wurde, und zwar nicht nur in Fabriken, sondern eben auch in Manufakturen und kleinen mittelständischen Unternehmen. Dass dem so war und ist, vergisst oder verschweigt er hier. ELTON, Ben, aus: Kleine Zeitung, Graz, 23-11-2007, S.95.

7 Und das, obwohl sich mittlerweile – auch in akademischen Kreisen – als ein heimlicher Konsens oft die Ansicht durchgesetzt hat, dass Adorno Pop letztlich nicht ‚verstanden’ habe, da er diesem System gegenüber nicht prä-affirmativ eingestellt war, er das angebliche subversive Potenzial von Pop nicht ansatzweise erkannt hat und er Pop logischerweise auch nicht ‚gelebt hat’. Auch wenn die Frankfurter Schule ihren eigenen blinden Fleck der bildungsbürgerlichen Voreingenommenheit in ästhetischen Fragen nicht sah und sie der Pop- und Massenkultur gegenüber definitiv zu negativistisch eingestellt war, lässt sich gegenüber derartigen Aussagen behaupten: gerade weil sich Adorno, Horkheimer und die Frankfurter Schule so von Pop und der kommerziellen Massenkultur distanzierten, konnten sie überhaupt zu diesen dezidierten und klaren Erkenntnissen über Massenkultur im Spätkapitalismus kommen. Alles, was darüber hinausgeht, muss im erweiterten Kontext einer Analyse einer stets neu ausformulierenden Populär- und Massenkultur erarbeitet werden, die weder präventiv Anti- noch Pro-Pop vorgeht. „Eine Sicht, die nicht vom Pop-Virus verseucht ist und welche die gesammelten Mythen, Projektionen und Funktionen des Kulturparadigmas Pop ohne affirmative Vorurteile bearbeitet, kann wahrscheinlich erst eine zukünftige Generation leisten, wie eine sachliche Interpretation und Dekonstruktion historischer Ästhetiken auch heute erst annähernd möglich ist. Eine in den 60er Jahren im Zuge neomarxistischer Kritik entstandene Popkritik blieb häufig zu sehr in ideologischen Grundannahmen stecken, die das System Pop und seine spezifischen Wirkungsweisen extrem verkannten. Diese Kritik hat sich über die Jahre in eine Art von ‚kritischer Affirmation’ verwandelt, die ihre eigenen Aussagekriterien und deren Sitz in der aktuellen gesellschaftlichen Realität schon längst nicht mehr reflektiert. Insofern lässt sich grundsätzlich die These aufstellen, dass sich in der Poptheorie potenzielle Kritik grundsätzlich in präventive Affirmation verwandelt hat.

Die Ideologiekritik der Frankfurter Schule und die darin verhandelten Widersprüche konnten damals nur in dieser Schärfe und Konsequenz verfasst werden, da sie nicht vom Pop-Virus befallen waren. Dafür sahen sie ihren eigenen blinden Fleck nicht, ihre Zugehörigkeit zum bürgerlichen Kulturdenken – auch in dessen Antithetik -, ihre Befangenheit in einem Ideal von Ideologie und der bewussten Ablehnung jedweder gesellschaftlichen ‚Nutzbarkeit’. Heute ist dies nur mehr Grundlage, die schnell überschritten werden muss, denn: Pop macht einfach weiter.“ MAIDA, Marcus: „Alles muss raus!“, in: „Elend. Zur Frage der Relevanz von Pop in Kunst, Leben und öffentlichen Badeanstalten“, Hg. von Boggasch / Sittig, Nürnberg 2006, S.53-54.

8 So z.B. in einem Leserbrief an die New York Times vom 27.10.1996, in dem es um die zunehmenden Gefahren der Übertragung von AIDS und Hepatitis durch Tätowierungen geht. Die Autorin schreibt darin: „Tattoo and body-piercing parlors constitute a growing subculture industry.” Quelle: http://query.nytimes.com/gst/fullpage.html?res=940DE6DF1E30F934A15753C1A960958260

9 Vgl. MATTSON, K.: ‚Young intellectuals making movies’, Dissent Magazine Summer 2006, http://dissentmagazine.org/article/?article=665 Der Begriff ‘subculture industry’ wird im angloamerikanischen Raum nicht nur in kritisch-analytischen Diskursen verwendet, sondern auch in affirmativer Selbst-Identifizierung durch Trendbüros und Kulturökonomie, z.B. den Web-Finder ‚Go Figure’. Selbstzitat auf der Net-Werbesite: „TheGofigure.com is a definitive source on the net for almost anything street-culture related, whether it’s street-wear, sneakers, toys, art, design, tech or events.
In a little over a year, TheGofigure has grown from a small blog site, with a few hundred hits per day, to an online magazine giant boasting over 25,000 unique visitors daily. We cover the newest exciting trends and products from the biggest name brands to the smallest independent labels, giving TheGofigure
a major role in the Subculture industry by defining street style for all in this forever-changing culture.” Quelle: http://www.thegofigure.com/advertise.htm

10 Blues transformierte sich im kommerziellen Sinne zu Rythm’n Blues und Rock’n Roll, Jazz zu Swing und Gospel zu Soul, Folk zu Country und später zu ‚Songwriting’, bevor sich aus den Genres jeweils wieder neue Abzweigungen und Kontrapunkte bildeten.

11 Vgl. hierzu auch ANDERSON, Chris: „The Long Tail. Der lange Schwanz. Nischenprodukte statt Massenmarkt. Das Geschäft der Zukunft“, München 2007. Anderson beschreibt plausibel, wie und warum die bisherigen Massenmärkte in zahlreiche Nischenmärkte zerfallen, wofür er vor allem die Internetökonomie als Initiator und Motor sieht. Der Zerfall des Massenmarktes lässt sich aber anhand des Popmusik- und auch Filmmarktes bereits viel früher beschreiben, nämlich als dort der Brand ‚Indie’ flächendeckend in vielen kleinen Marktsegmenten ungleich effizienter und mitunter auch ökonomisch ergiebiger war als der so genannte ‚Mainstream’ oder ‚Massenmarkt’. Zumindest was das kulturelle Kapital betrifft, also das ästhetische Branding aufgrund von Distinktion, hatte die Indie-Ökonomie das Mainstreamsegment schon längst oft überholt, was sich beispielsweise durch zahlreiche feuilletonistische Zuschreibung auf die Indie-Kultur belegen lässt, die diese in die Nähe der bürgerlichen E-Kultur rücken oder generell als das ‚bessere’ ästhetische Modell deklarieren.

12 Schon in der Frühzeit der Popkultur gab es Independent-Labels, insbesondere im Blues- und Jazzbereich, der Begriff einer ‚Independent-Culture’ begleitet die Geschichte der Popkultur latent, ohne jedoch durch einheitliche feste Strukturen auf bestimmte historische Zeiten fixiert gewesen zu sein. Als ästhetischer Wert ist ‚Independent’ eine Dialektik aus Widerstand und Anpassung: Nicht-Anpassung oder Dissidenz gegen den kommerziellen Massengeschmack und Verkauf dieser Wertigkeiten durch ein Subsystem der Popkultur, dass diesem – auch in seiner Abgrenzung – unbedingt verbunden ist.

13 ‚Indie’ konnotiert in diesem Sinne vornehmlich Rockmusik, zumindest Bandmusik. Bereits in den 1960ern und 70er existierten hierfür Labels, eines der bekanntesten Prä-Indie-Labels der 70er war das britische Label ‚Stiff’. Das Aufkommen von Punk intensivierte die Ausformulierung von ‚Indie’. Heute bezeichnet ‚Indie’ differente Musikstile wie z.B. auch elektronische Subgenres oder auch Disco, ein Genre, das in den 70ern oft als Gegenpol zu Punk verstanden wurde, ohne dabei freilich den Identitätsfaktor des Genres zur homosexuellen Subkultur mitzudenken.

14 Sehr schön sichtbar z.B. bei der Bewerbung des Webportals ‚Suicide Girls’, einer Plattform für Indie-Pin-Ups. Das Portal wirbt mit folgenden Medienzitaten: „Post modern Pin-Up Girls for the Alternative Nation“ (Boston Phoenix), „It’s like a Punk Rock Vogue“ (Wired Magazine) sowie „It’s like MySpace for Adults“ (Spin Magazine). Vgl. http://suicidegirls.com/

15 Der Markenbegriff ‚Indie’ begann im Laufe der 90er Jahre den alten subkulturellen Begriff des ‚Underground’ zu ersetzen. Aktuell wird der Begriff ‚Underground’ im Publikumsdiskurs, vor allem dem jüngeren, immer weniger verwendet. Im kulturwissenschaftlichen Sinne ist er vor allem für die Subkultur der 60er bis spät-70er Jahre zutreffend, in soziokulturellen Strukturen hingegen, wo sich noch keine fest beschreibbare Subkulturindustrie herausgebildet hat – so z.B. den Ländern des ehemaligen europäischen Ostblocks oder des nahen Ostens wie z.B. Israel oder der Türkei – wird der Begriff ‚Underground’ als ästhetische Markierung noch verwendet. Dies liegt zum einen an den eher auf Tradition und klassischer vertikaler Hierarchie basierenden Gesellschaftsstrukturen, zum anderen wird der Begriff ‚Underground’ auch gerne als Identifizierungshilfe für westliche Kulturgewohnheiten verwendet.

16 Bezüglich der frühen Pop-, Hippie- und Protestkultur der Spät60er Jahre beispielsweise bei HERMAND, Jost: „Pop International“, FfM 1971. Hermand unterzieht das Pop-Paradigma der 60er einer adornitisch-geprägten Radikalkritik, die teilweise zu treffenden Urteilen gelangt, teilweise jedoch in bildungsbürgerlichen ästhetischen Kriterien oder unscharfen Kategorien befangen bleibt. Hermand interpretiert z.B. den ‚Schocker-Pop’ explizit als „keine echte Gegenkultur“, sondern nur „als ein nackter, bloßgelegter Kapitalismus, der nichts anderes als das egoistische Sichausleben kennt“ (ebda S. 99). Der Schocker-Pop ist für Hermand klar ein Kommerz-Pop, „der sich von der trivialen Unterhaltungsindustrie kaum unterscheidet“ (ebda S.117).

17 Im Falle des Sängers der britischen Indie-Band „Babyshambles“ Pete Doherty reicht mittlerweile eine veritable und medientaugliche Drogenabhängigkeit aus, um die Band als verankert in Indie- und Bohemiakreisen zu deklarieren. Die Tatsache, dass Doherty bisweilen kleinere Konzerte vor seinen Fans gab, um seine Sucht damit zu finanzieren, reichte dafür aus. Aktuell wird Doherty, der vor dem Erscheinen des Albums „Shotter’s Nation“ im Oktober 2007 vor allem durch seine Drogensucht und seine Beziehung zu Model Kate Moss Aufmerksamkeit erreichte, bereits als Klassiker bezeichnet. Das WOM-Magazin, das auflagenstärkste Musikmagazin Deutschlands, titelte in seiner Oktober 2007-Ausgabe: „Der geniale Chaot: Pete Doherty zeigt sich wieder als Meister des Indie-Rock“. Die von britischen Boulevardblättern aufgrund ihrer Drogenprobleme bereits als ‚weiblicher Doherty’ bezeichnete britische Sängerin Amy Winehouse hingegen füllt ebenfalls als Darling des Gossips die Klatschspalten. Winehouse gilt zwar nicht als spezifische Indie-Ikone, aber aufgrund ihres Image und Auftretens als ausgesprochene Pop-Rebellin. Ihre Wikipedia-Seite bezeichnete ihren Stil im November 2007 als „Soul als Ausdruck von Subversion und Eskapismus“ – dies lässt sich klar als Ritterschlag im Sinne von Indie deuten. Doherty und Winehouse sind als Indie-Popstars das, was sich als aktuelle Version des klassischen ‚Designed-Rebels’ der Popkultur bezeichnen lässt: ihre Musik und ihre Künstlerpersona ist ohne ihr Medien- und Boulevard-Image gar nicht mehr denkbar. Das starke Hineinreichen der Yellow-Press in die Belange und die Ästhetik der Indie-Kultur verweist auf deren starkes Potenzial ihrer medialen Inszenierung und ökonomischen Professionalisierung.

18 Vgl. hierzu vor allem HEBDIGE, Dick: „Subculture. The Meaning of Style“, London / NY 2001 (Reprint)

19 Zum ersten Mal in dieser Prägnanz bei den us-amerikanischen urbanen Swing-Kids und später den britischen Mods zu beachten.

20 Bereits bei Punk lassen sich diese sozialen Mechanismen finden, aber auch bei Techno: so der mediale Hype um eine ‚ravende Gesellschaft’ oder die sich brav davon distanzierende ‚Detroit-Community’. ‚Detroit’ ist auch aktuell, 2007, die Auslagerung und Transformation einer realen Geo-Soziografie in eine virtuelle globale Subkulturindustrie-Family.

21 HORKHEIMER / ADORNO, a.a.O., S.131.

22 Vgl. JACOB, Günther, „From Substream to Mainculture. Das endgültige Ende des Subversionsmodells Pop-Subkultur“, in: 17 C Nr. 11 / 1995, Hamburg; sowie MARCHART, Oliver: „Subkulturindustrie“, in: SPEZIAL Nr. 103 / 1996. ‚Kulturlinks’ bezeichnet eine Position, die eine linkspolitische Einflussnahme durch kulturelle Hegemonie vertritt, wogegen eine ‚Radikallinks’-Position den Primat der klassischen linkspolitischen Auseinandersetzung und Konturenschärfung vertritt.

23 Eine mögliche Referenz in der aktuellen Popmusik dazu bildet beispielsweise die Gruppe JAHCOOZI (Album „Blitz’n Ass“, ASound / Rough Trade, 2007). Sängerin Sasha vermeidet hier bewusst die klassische pop-politische Sloganisierung bzw. die einseitige Parteinahme und allzu eindeutige Parole, so die INTRO. „Ich denke, meine Texte sind ziemlich politisch, aber nicht in einem direkten Sinn. Wenn du über soziale Dinge redest, dann ist das doch politisch! Es geht um die Gesellschaft, nicht mehr und weniger.“ Vgl. RAFFEINER, Arno: „Jahcoozi. Politik ohne Parolen“, INTRO 10-2007, S.22. Mittlerweile hat das Soziale als eine Art gängige Sozialfolklore Einzug in die Popkultur gehalten und den direkten politischen Ausdruck, der oft nur mehr als platt und peinlich charakterisiert wird, ersetzt. Der Anfang dieser Entwicklung in neuerer Zeit lässt sich in Deutschland in den Texten der so genannten Hamburger Schule, beispielsweise bei Bands wie BLUMFELD oder DIE STERNE finden, bei denen zum einen ein bisweilen uneindeutiger und polyvalenter Umgang mit konkreten politischen Aussage erprobt wurde, zum anderen auch das Private als das Politische gedeutet und textlich artikuliert wurde. Die Apostrophierung des Sozialen als des Politischen bzw. die Gleichstellung dieser beiden Parameter hat in der Popmusik eine lange Tradition, greifbar wurde diese Transformation jedoch vor allem seit ihrer expliziten Projektion und Vermarktung, im großen Stil durchexerziert z.B. bei Bob Dylan.

24 Eine aktuelle Filmkritik in der österreichischen „PRESSE“ vom 30-8-007 / S.34 (Christoph HUBER, „Furios apokalyptisch“) über Juan Carlos Fresnadillos Horror/Zombie-Film „28 Weeks later“ bringt diesen Sachverhalt so auf den Punkt. Überdeutliche Parallelen zum Irak-Krieg wirken in dem Film als politische Allegorie wie ein beiläufiger Nebeneffekt, „ein automatisches Abfallprodukt des Rückgriffs auf Romeros Vietnam-Zeitbild“. Huber schreibt:

Gerade diese unprätentiöse Zielstrebigkeit gefällt in einer postmodernen Ära, in der sich fast alle Genrefilme „wissend“ mit einer sozialen Bedeutsamkeit schmücken, die sie kaum wirklich einlösen können (und wollen).“

Letzteres sind auch allgemeine Phänomene der SKI. Besonders ‚clevere’ Zeitgenossen sehen gerade in der Nicht-Einlösung eines politischen Anspruchs durch das Kulturprodukt den Progress, frei nach dem Motto: ‚Wozu noch ein Produkt? Der Diskurs reicht ja.’

25 Aus welchen ästhetischen Genre-Teilbereichen existiert die Subkulturindustrie? Grundsätzlich kann sie als Subsystem der Kulturindustrie aus allen Bereichen und Genres bestehen wie diese selbst, jedoch entwickelte sie sich am effizientesten und sichtbarsten innerhalb der Popmusik, da diese – mit dem Film – von Beginn an am direktesten mit der Populärkultur verbunden war und vor allem auch mit einer effizienten Vermarktung durch die Kulturindustrie. Populäre Musik und Film waren die ersten beiden großen Genres der Massenkultur, während die bildende Kunst und die Literatur noch lange Zeit durch die Auratik der bürgerlichen Kunst und deren Rezeptionsgewohnheiten geprägt war. Die bildende Kunst emanzipierte sich partiell ab den 60ern ziemlich früh davon, Literatur ist demgegenüber nach wie vor ein eher traditionsverbundenes und langsames ästhetisches Medium. Der Diskurs um Popliteratur und eine mögliche Transformation der Literatur soll hier nurmehr erwähnt, aber nicht konkreter ausgeführt werden. Die besten, mittlerweile nahezu klassisch zu nennenden Ausprägungen der Subkulturindustrie lassen sich demnach an Beispielen der Popmusik-Subkulturindustrie finden und beschreiben.

26 „Pop ist universalistisch, 1:1, direkt, jetzt, PopPop dagegen ist differenzierend, langsam, historisch, bewahrend, traditionell. Pop ist die Apotheose der Indifferenz, PopPop die Apotheose des Geschmäcklerischen. Pop ist Identitätsflucht, PopPop ist Identitätssuche. Pop ist zeitgenössisch und aktuell, PopPop ist Kunst.“

MAIDA, Marcus: Alles muss raus!, a.a.O., S.27.

27 Also durch statistisches Material wie Editions- und Verkaufszahlen beispielsweise.

28 Ebda, S. 48. Vgl. auch: „Das System des guten Onkel Pop adelt sich hiermit selbst. Pop ist hier vor allem eine Politik der Gefühligkeit und in der Rezeption nicht selten eine Politik der Tränen.“(S.50).

29 Ebda, S.48

30 Wenn die Grundstruktur der Subkulturindustrie auch in der Regel dieselbe ist, gibt es logischerweise graduelle Unterschiede, die es zu beachten und vermerken gilt. Sich als explizit politisch verstehende Label wie beispielsweise ‚David Volksmund’ im Westdeutschland der 70er (Das Ex-Label der Band ‚Ton-Steine-Scherben’) oder ‚Alternative Tentacles’ im Kalifornien der 80er (Das Label des ‚Dead-Kennedys’-Sängers Jello Biafra) haben eine andere Medial- und Handlungsstruktur als Major-Indies wie beispielsweise ‚Warp’ oder ‚Domino’ und vor allem in der Regel einen anderen Handlungsimpetus, nämlich einen vorrangig explizit politischen. Sehr aufschlussreich für die historische Entwicklung und aktuelle Positionierung eines Labels, das sich als unabhängig und politisch versteht und diesbezüglich aus der Tradition der 1960er Jahre kommt, ist das Münchener Label TRIKONT. Vgl. das ausführliche Interview von JELLEN, Reinhard mit Labelbetreiber Achim Bergmann auf TELEPOLIS 20-10-2007 zum dreiunddreißigeindritteljährigen Bestehen von TRIKONT unter http://www.heise.de/tp/r4/artikel/26/26438/1.html

31 Die Jahrgänge von SPEX und INTRO von ca. 2000 an sind wahre Fundgruben für eine Re-Vitalisierung pathetischer Gefühligkeiten, gleich ob ironisch gebrochen oder nicht. Nach dem endgültigen Verschwinden von elektronischer Musik aus dem Hauptfokus der Indiepresse geriet vor allen Dingen das Modell Indiepop und -rock in den Mainstream der Rezeption dieser Organe. Hierbei wurde mit Emotionen nicht gespart. In der letzten SPEX unter der Kölner-Redaktion – diese Ausgabe ist allgemein sehr empfehlenswert, um das Modell rheinischer Subkulturindustrie-Wertigkeiten vor ihrem Abschied in die Berliner Mitte noch einmal in nuce zu studieren – äußerte sich Fiete Klatt zu dem Album ‚This Atom Heart of ours’ von der Band ‚Naked Lunch’ folgendermaßen: „Dieses aus den Augenrändern triefende Pathos! Es tut so weh. Es ist so wunderschön. Das Jammertal ist durchschritten. Jetzt geht es Hand in Hand dem glühenden Licht entgegen, freudestrahlend in den Abgrund, der Hoffnung, aber nicht Erlösung verspricht. Das war es, was den Naked Lunch’schen Kosmos immer wieder aus dem Dunkel gezogen hat: Glaube, Liebe, Hoffnung. Und überhaupt: Es tut so gut, wieder an etwas glauben zu können.“ SPEX Nr. 306 / 1-2 / 2007, S.94.

In derselben Ausgabe findet sich auf S.99 eine Anzeige der von Schnapshersteller Jägermeister gesponsorten Festivalreihe ‚Rock-Liga’. Die Veranstaltung wurde in Szene und Subkulturindustrie-Medien kontrovers diskutiert, da u.a. eine veritable ‚Hamburger-Schule’-Band wie ‚Die Sterne’ daran teilnahm und vor allem der Konkurrenz-Wettbewerb-Gestus der Veranstaltung einigen aufstieß. Die Anzeige warb mit der Ankündigung: „Sie spielen gegeneinander um Euer Herzblut.“ Herzblut ist als definitiver emotionaler Münzwert der Subkulturindustrie in der Werbewirtschaft angekommen.

32 Leidenschaft ist DER zentrale Klassiker der Indie-Kultur, mittlerweile überall angekommen und vorzufinden, z.B. auch im Bein (vgl. Sportfreunde Stiller „54 ’74, ’90, 2006“).

In der Subkulturindustrie gilt der Konsens: Du kannst kein Hirn haben oder keine Ideen, Du kannst Phrasen ohne Ende verbreiten und dabei auf alle blauen Wildlederschuhe deiner Umgebung treten – aber wenn Du keine Leidenschaft hast, dann bist Du keiner von uns.

33 Nur ein gerade aktuelles Beispiel: Tobias Thomas über ‚Pantha du Prince’ in SPEX 306, 1-2 / 2007, S.22.

34 Vgl. hierzu auch das Stück der Band ‚Tocotronic’ „Dringlichkeit besteht immer“ von deren Album ‚Tocotronic’ (2002), in dem diese Spannung Gewicht erhält.

35 Hierbei ist kein intellektuelles Wissen gemeint. Frühe Devianzpopkulturen wie Rocker und Mods begründen ihre Identität durch Stilwissen. Dies sind jedoch, wie gesagt, identitätsbildende Subkulturen. Popkultur in einem genuineren Sinne hat mit Stil- und Fan-Wissen gar nicht unbedingt etwas zu tun, sie ist vielmehr eine Gebrauchskultur des Alltags, die in der Regel ohne intellektuelle Überhöhung auskommt.

36 Auch wenn sich andere Musikgenres wie z.B. Jazz und hier natürlich insbesondere der Indiemässig-vertriebene Jazz, auch einer Mindestdefinition für die Zielgruppe unterwerfen muss, lässt sich hier doch oft ein gelassenerer Umgang mit derartigen Zuschreibungen der klassischen juvenilen Devianzkultur beobachten. Generell jedoch bedeutet Subkulturindustrie in der Popmusik in der Regel ein affirmativer Umgang mit juvenilem Pop, der sich durch seinen Noveltycharakter im Hier und Jetzt definiert und auf den allein schon deswegen ein Devianzpotenzial projeziert wird. Ein aktuelles Beispiel dafür Ende 2007 ist das französische Discohouse-Label ‚Ed Banger’.

37 Indie ist nicht unbedingt demokratisch. Indie begründet sich vor allem auf Distinktion. Elite, Goldherzen, richtiges Bewusstsein – we gotta name it. Der Geschmacksindie / -pop ist eine Elitepopkultur innerhalb der Popkultur, eine Art sozialdemokratische Dandy-Popkultur. Die Mod-Kultur war eine der ersten Popsubkulturen, mittels der ihre Protagonisten sich aus dem Dreck in die selbsternannte Elite zogen.

38 WAECHTER, Johannes: „Reif für die Pinsel“, SZ-Magazin 9-11-2007, S.14.

39 Diese Reisen bekamen keineswegs immer nur die so genannten abgewichsten Hochglanz-Freelancer zugeschustert, sondern die zumpeligen Conversetragenden Indie-Hipster von Nebenan. Mit dem Niedergang der Musikindustrie wandelt sich jedoch selbstredend auch der Musikjournalismus-Tourismus, oft kommen nur mehr die in der Journalismus-Hierarchie Höhergestellten in den Genuss dieser Privilegien.

40 Jetzt.de: „Deutschlands beste Blogs“, SZ 8-9-2007, S.20.

41 Nach der Definition von MÜLLER-ARMACK, Alfred: „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“, Hamburg 1947

42 Vgl. WALTER, Norbert: „Der Rheinische Kapitalismus ist am Ende“, RAG-Magazin 3-2005, S.48.

43 KEIL, Gerd: „Regeln für den Sozi-Park. Über einen merkwürdig trudelnden Diskurs.“, Neue Frankfurter Hefte 5-2006, http://neue-gesellschaft.de/ausschnitt/thema_05_06a.html

44 HIRSCHBERG, LYNN: „Heiler, Held und Hoffnungsträger. Dienst nach Vorschrift verlangt niemand von Rick Rubin. Es reicht völlig, wenn er die Musikindustrie rettet“, SZ 29-9-2007, S.19.

45 Interessant hierzu eine Aussage von John K. Samson von der kanadischen Indie-Band ‚Weakerthans’ von 2007: „Ich glaube, dass die Majorlabels schneller sterben werden, als man jetzt denkt. Der ganze Sektor wird eines Tages independent sein – und das wird ein guter Tag sein.“ INTRO 10-2007, S.67

46 International gesehen ist das Prinzip des Subversions- und Dissidenzpop durch die Strukturen der jeweiligen Subkulturindustrien und der darin vorgehenden Prozesse immer stärker vereinheitlicht, professionalisiert, institutionalisiert und ergo dadurch auch vor allem vorhersehbar geworden. Und doch existiert in jüngster Vergangenheit und auch derzeit subversives und dissidentes Potenzial in diversen Spielarten der Popmusik, die jedoch mit den klassischen kulturlinken Hipness-Strategien und Projektionen der 1980er wenig gemeinsam haben. Die Rede ist von Produktionen aus beispielsweise den Genres Rechts- und Nazirock, Turbo-Folk oder Dschihad-Pop.

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