Extreme

WIE FUNKTIONIERT EIN EXPERIMANTALLABEL IM JAHR 2000?

Zu Geschichte und dem 50. Releasejubiläum von „Extreme“

Die Geschichte von stilbildenden Labeln basiert fast immer auf der herausragenden Imaginationsfähigkeit und der darüber hinaus gehenden Tatkraft ihrer Betreiber, egal, ob Zeitgenossen diese nun in den Vokabeln „Vision“, „Idee“ oder „Konzept“ ausdrücken wollen. Sowohl künstlerisches Gespür als auch realistischer Geschäftssinn müssen dabei in diesen Personen und ihrem Umgang mit der Umwelt und dem Markt in einem exzellent abgestimmten Verhältnis zueinander stehen, und dieses sowieso schon prekäre Waagschalenverhältnis muss darüberhinaus noch mit der wichtigsten Zutat überhaupt versehen sein, damit innovative Labelarbeit überhaupt Antrieb bekommen kann: Idealismus.

Roger Richards, Betreiber des australischen „Extreme“-Labels, dass mit „Music For Air Raids“ der Gruppe „Ether“ und der äusserst ambitionierten Edition der 50-CD Box von Merzbow derzeit ein besonderes Jubiläum feiert, weiss genau, dass er sowohl sich als auch der Welt der Musik etwas ganz bestimmtes schuldig ist. Der Antrieb für die Edition von „Extreme“-Musik liegt in seinen eigenen Worten in der Präsentation von Musik, die herausfordert und Grenzen auslotet. Richards gelang es dabei, dem Label über die Jahre ein flexibles und dabei gleichermassen sehr markantes Profil zu verleihen, so dass sich bei aller wechselnden Ambivalenz von Sanftheit und Schärfe der dort veröffentlichten Stile und der ästhetisch hochansprechenden Konzentration experimenteller Erweiterungen, die auf „Extreme“ geschehen, diese Labelkontur auf wunderbare Weise immer wieder weiter wandelt und entwickelt, ohne in irgendeiner Form beliebig zu werden. Und weder seinen Geschäftssinn, noch seinen Idealismus hat Richards dabei verloren, wobei der Akzent bei „Extreme“ letztlich eindeutig bei letzterem liegt. Schliesslich wurde das Label aus einem extrem idealistischem Kontext heraus geboren. Seit 1983 existierte das von einem Idealisten namens Ulex Xane in Melbourne gegründete Label ausschliesslich in Casettenform, damals noch ein weit verbreitetes Medium, das sich heute im multimedialen Kontext zunehmends dem völligen Aussterben annähert. „Extreme“ war damals dazu da, Xanes‘ eigene Produktionen herauszubringen, der Schwerpunkt des Labels war Industrial, Post-Industrial und Elektronik. Roger Richards kam 1984 aus Brisbane, wo er Nahrungstechnologie und Statistik studiert hatte und als lokaler Radio-DJ arbeitete. Auf der Suche nach guter Musik geriet er nach Melbourne, um Anschluss an das Label zu finden. „Ein Tapelabel bedeutete damals: Material tauschen, umherbringen und ein Netzwerk aufbauen.“ Ungefähr 30 Tapes waren bislang erschienen, alle „on demand“ produziert, also ohne vorhergegebene feste Stückzahl, doch die Standardauflage kursierte zwischen 100 und 500. Es wurde schnell klar, dass unmässig viel Energie in den Postversand und die handgemachten Cover floss. Zusätzlich erkannte Ulex Xane endgültig, dass er nicht ein Label und seine eigene Musik machen konnte – er verlor Zeit. Da Richards kein Musiker war und diese Zeit hatte, übernahm er 1987 die Direktion des Labels – und von da an sollte bei „Extreme“ nichts mehr sein wie zuvor. Er begann mit all den kleinen Veränderungen und führte das Labelkonzept von jeglicher normativer Industrialästhetik weg, die damals viele Konfigurationen mit Mystizismus, Magie und / oder auch Faschismus einging. „Ich sah das immer als Schwäche, wenn die Musik ein solches Image nötig hatte, und sagte das klar raus.“ Von der Veränderung des Keltenkreuzes zum jetzigen Labellogo bis zur stilsicheren Öffnung und Modifikation des musikalischen Programms begann Richards langsam aber sicher die Schritte zu gehen, die das Label zu einem der bedeutendsten Outlets für experimentell orientierte Klänge an der Schnittstelle von improvisierter, elektronischer und elektroakustischer Musik machten. Er erkannte, dass ein Label mit hausgemachtem Idealismus allein nicht funktionieren und existieren kann, und dass man einen Markt zur Konsolidierung braucht, und zwar einen internationalen. Vor allem die Distribution organisierte Richards völlig neu, indem er Vertriebspartner in Europa, USA und Japan auftat. Auf schnelle Verkaufserfolge, soviel war jedoch bald klar, konnte „Extreme“-Musik nicht bauen, so dass ein hoch profiliertes Labelprogramm mit Verkäufen über einen längeren Zeitraum die erfolgsversprechendste Strategie zu sein schien. Die Auswahl des Materials reflektiert seit der ersten Platte klar Richards persönlichen Geschmack. Die erste LP war von Merzbow, die erste CD von Paul Schütze. Das war 1988, und seitdem erscheint der „Extreme“-Katalog hauptsächlich auf CD. Tapes sind völlig passe für Richards, Sentimentalitäten sind da fehl am Platz. „Heute sind CD-R’s die neuen Tapes, mit Einschränkung auch die Minidisk, am meisten vielleicht aber MP-3-Files, die sich jeder von einer Webseite greifen kann. Da lebt auch die alte Netzwerkidee wieder auf.“ Aus diesen Kontexten hat sich „Extreme“ jedoch mitlerweile längst verabschiedet, obwohl die Professionalisierung, mit der mittlerweile gearbeitet wird, nicht etwa zu einem ökonomischen Erblühen der Experimentalmusik geführt hat. Nach wie vor kann Roger Richards nicht von seinem Label leben, obwohl er es natürlich gerne würde. Er arbeitet zeitweilig als Nahrungsmitteltechniker oder auch manchmal als PR- oder Management-Consultant. „Extreme“ arbeite ich nur manchmal als full-time-job“, versichert er. Jeder Release ist quasi projektgebunden, und für das Erscheinen werden jeweils Spezialisten für Grafik, Foto und Text angeheuert. Das Zentrum des Labels bildet natürlich Richards selbst, dann sein Sales & Distribution-Manager Nick Pateman, und dann die überaus wichtige Grafikerin Doriana Corda, die neben ihrer Arbeit als Architektin eben auch Art Direktrice von „Extreme“ ist. Richards bezahlt seine Mitarbeiter nach Vertrag: was sie verkaufen, dafür werden sie bezahlt. „Die Entscheidung bei „Extreme“ ist stets: ‚Wie überlebe ich die nächste Woche?‘ Wenn das nicht so wäre, würde ich Projekte wie Otomo und Eugene gar nicht machen können. Das bringt mich wieder auf die Integrität von „Extreme“ zurück. Ich entschied: wenn ich zb. Dance-Compilations machen müsste, durch die sich die meisten Label über Wasser halten, kann ich es gleich vergessen. Integrität muss in der Musik sein, und nicht dadurch, wieviele Einheiten ich verkaufe.“ Auch wenn letzteres bisweilen zur ökonomischen Zerreissprobe führen kann: die Alben von Otomo Yoshihide / Sachiko M „Filament 1“ und Eugene Thacker „Sketches for Biotech Research“ erschienen 1999, ohne dass eine „normale“ Lizensierung bei den meisten „Extreme“-Distributoren gewährleistet war und ist – zu schwierig und unrentabel erschien den meisten Vertriebspartnern das Material des Ex-Ground Zero-Musikers Yoshihide und des Multimedia-Dekonstrukt-Künstlers Thacker. Daher sind diese Platten nur „on demand“ bei den Verteilern zu erthalten. Die Platte von Eugene Thacker erwies sich dann auch als die bislang schlechtverkaufendste, im Gegensatz zu „Zul’m“ von Muzlimgauze und „Hollow Earth“ von Soma, die sehr gut verkauften. Die besten Verkäufe erzielt „Extreme“ in Deutschland und in Japan, die „besorgtesten Reaktionen“, in positiver und in negativer Hinsicht, sagt Richards mit einem süffisanten Lächeln, kommen traditionell aus den USA. Die Stückzahlen eines Releases liegen generell zwischen 1000 und 5000. Es werden nicht zuviele auf einmal gepresst, meist sind 1000 Exemplare die Grundlage, von da an arbeitet man sich je nach Nachfrage hoch. Ein Label wie „Extreme“ muss qua seiner Musikauswahl äusserst ökonomisch kalkulieren, so Richards, immerhin bewege man sich trotz des guten Rufes, ein hochprofiliertes Speziallabel zu sein, auf einem „mass-market“, der seine Regeln hat. Und eine Platte, die nochnichteinmal die Produktionskosten wieder einspielt, schmerzt. So gibt es bei „Extreme“ einen Sinn für ein Mischprogramm und eine Balance, der Projekte wie Yoshihide oder Thacker erst ermöglicht – die „starken“ Titel stützen, wie auch bei anderen Labels, die „schwachen“. Und bei einer durchschnittlichen Kapazität von 6 bis maximal 7 Titeln pro Jahr muss sich das Label ziemlich sicher sein, dass es das bestmöglichste Material herausbringt, so Richards. Bei all dem wird schnell deutlich, dass kleine, sogenannte „unabhängige“ Label durch ihre Markteingebundenheit im Prinzip genauso funktionieren wie Grosse. Unterschiede bestehen natürlich in Image, Erscheinungsweise und Qualitätsanspruch, die für das Profil eines Labels unerlässlich sind. Einen weiteren Quantensprung macht „Extreme“ diesbezüglich mit der „Merzbox“. Der mittlerweile 43 Jahre alte Japaner Masami Akita, der sein Projekt Merzbow 1981 gründete und seitdem über 50 CDs und Platten veröffentlichte, ist der Inbegriff des Japan-Noise und ein Künstler, der mit der Geschichte von „Extreme“ von Anfang an verbunden ist. Für Roger Richards ist Akita einer der wichtigsten Musiker des letzten Jahrhunderts und möglicherweise auch des jetzigen: „Kein anderer hat das getan, was er getan hat.“ Merzbow repräsentiert exemplarisch für das Label all das, wofür es einst gegründet wurde und heute noch steht: Musik für Leute, die sich von ihr herausfordern lassen und letztlich für das aktive und engagierte Hören dieser Klänge belohnt werden wollen. Es hört sich an wie die Beschreibung einer Extrem-Klettertour, wenn man den ruhigen, sehr sachlich und bescheiden auftretenden Richards auf einmal so reden hört. Auf einmal spürt man die Begeisterung, wenn er die Merzbox präsentiert, und mit zurückgehaltener Euphorie deren Inhalt kommentiert. Enthalten sind sage und schreibe 50 CDs von Akita, die insgesamt über 50 Stunden Spielzeit bieten. 30 Platten wurden „unter dem Schmerz der Selektion“, so Richards, dem grossen Merzbow-Archiv entnommen, die weiteren 20 sind bislang unveröffentlicht. Sie zeigen die ganze Bandbreite und immer perfektionierter werdenden Auslotungen von Merzbows Interesse: Aggressive und präzise Arrangements von verschiedenartigsten Noise-Klangexplorationen, minimale Verstörungen, brachiale Lärmwände und sonische Texturen von brutaler Filigranität öffenen sich da den wagemutigen Hörern. Der „Impact“, also der lebendige Antrieb und Stoss, den diese Klangwelten versetzen, ist nach wie vor einzigartig in der Welt der Musik. Darum hat das Label in engster Zusammenarbeit mit Akita einen Kontext aufgebaut, der neben den spezial im Merz-Case verpackten CDs das 132-seitige Merz-Buch, die Merz-CDRom mit Videos und der Darstellung graphischer Arbeiten von Akita – wofür er sich extra zum ersten Mal einen Computer kaufte, wie Richards nicht ohne ein wenig Stolz berichtet -, insgesamt eine leicht ironische Konfiguration des Projektes darstellt, die eine mehr oder minder offene Anspielung auf Kurt Schwitters sind: so gibt es das Merz-Shirt, das Merz-Poster, Merz-Cards und -Stickers, sogar ein Merzdallion, eine von Juwelier Marcus Davidson entworfene Münze, und das Ganze natürlich im Merz-Pack, einer Box aus sehr speziellem Material, handlich verpackt – nicht grösser als ein normaler Kulturbeutel, das alles, aber ungleich „schwerer“ von Gewicht und Inhalt her! Die Merzbox ist strikt limitiert auf 1000 und hat natürlich ihren Preis: 500 $, so Richards. Allein der Auswahl- und Hörprozess des Materials, und dazu noch die Erarbeitung des komplexen Produktdesigns, belief sich über einen Zeitraum von vier Jahren.

Roger Richards atmet tief durch. Es scheint so, als habe er sich über die Jahre endlich einen Traum materialisiert. Die Reise ist noch nicht zuende, Widerstände sind dazu da, angegangen und überwunden zu werden, und Ausdauer und die nie versiegende Euphorie machen sich letztlich bezahlt. „Extreme“ – eine seltsame und ungewöhnliche Geschichte eines Labels, bei der die normalen Definitionen von Erfolg und Misserfolg nicht greifen.

(Jazzthetik)

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