Llorca vs. Herbert

DAS HERZ, ZUM BEISPIEL

Gute Deep-House-Tracks haben sehr oft improvisatorische Aspekte in ihrer Architektur – die letzte „Blaze”-Platte „Natural Blaze“ sei nur ein aktuelles Beispiel dafür. Hier soll es nun um zwei House-Architekten gehen, deren Konstruktionen sehr organisch klingen und die mit einem explizitem Bewusstein von Jazz-, Soul-, Funk-, Brazil- oder Songstrukturen arbeiten, das letztlich auf einem sehr klassischem Verständnis von „Jazz” und „Groove” gründet, dadurch das Genre „House” erneut öffnet und erweitert, und durch diese Bezüge auf jene klassischen popmusikalischen Genres das neugewonnene Fundament sedimentiert, wie auch den jeweiligen Entwurf rund schleift, die Fenster und Türen öffnet, und das Interieur äusserst transportabel macht. Zuviel hausgemachte Metaphern? Nein, denn –

– es geht um nichts weniger als ein angemessenes Verständnis dessen, was hier passiert. Der plakative Wille zu Ausbruch, radikaler Innovation und Experiment ist nämlich nicht unbedingt das, was diese Housemeister, den Franzosen Ludovic Llorca und den Briten Matthew Herbert, antreibt, vielmehr ist es ein Bekenntnis zu sanfteren Erweiterungen, unzeitgemässer Schönheit und Bewegungen in popklassischen melodiösen Formen und eine eben darüber hinaus angestrebte Überwindung jedweder Limitation.innerhalb von Genregrenzen und den entsprechenden Produktionsprozessen. Beide Produzenten suchen die Erweiterung der musikalischen Formensprache durch einen klaren konzeptionellen Rekurs auf gut ausgearbeitete grundhumanoide Muster, die shuffeln, grooven und swingen, und dies kann nur durch einen sehr oberflächlichen, quasi-futuristischen Blick als konservativ bezeichnet werden.

Die Musik von Ludovic Llorca kann hierbei in ihrer unprätentiösen wie gleichsam eleganten und spontan das auf Wohlklang geschulte Ohr einschmeichelnden Art sofort einen der „Slick & Smart”-Awards des Jahres einfahren. In der Tradition des Franzosen St.Germain, der im letzten Jahr auf dem „Blue Note”-Album „Tourist” einen bedeutsamen Crossover von klassischen Jazzstilen und den Produktionsformen zeitgenössischer Heimstudioelektronik auf äusserst publicityträchtige Weise vollzog, gelang Llorca nun nach drei Vorbereitungs- 12”es auf dem Pariser Label F-Com von Laurent Garnier und Eric Morand mit dem Debut „Newcomer” ein charmanter Instant-Klassiker, der, nicht zuletzt durch das Mitwirken von VokalistInnen und Instrumentalisten, zwischen bewegendem Tanz- und entspannendem Hörerlebnis ansprechend changiert. Die Leichtigkeit, mit der das Album auf den ersten Hör daherkommt, ist jedoch, wie so oft, schwer erarbeitet worden, wie überhaupt Llorcas Produktionsgeschichte und -biografie amüsant und aufschlussreich für den state-of-the-art von avancierten Soloprojekten im Housebereich ist. Der Newcomer ist mit seinen 26 Jahren noch jung, aber schon erfahren genug, um sich auf eine professionelle Musiker- und DJ-Karriere stützen zu können. Musiker? Ein seltsames Wort, das im Bezug auf Llorca zwar nicht komplett ablehnbar, aber in all der möglichen auratischen Schwere, die in dieser Bezeichnung mitschwingt, auch nicht wirklich annehmbar ist – vor allem, wenn dieser Newcomer keinerlei traditionelle musikalische Ausbildung genossen hat. Nun haben ProduzentInnen elektronischer Musiken seit jeher kein Problem mit ebenjenem Status des „Produzierenden”, der die Frage nach einer musikalischen Vor- und möglicherweise Verbildung und eine mögliche auratische Aufladung des Musikerstatus durch eine nahezu ingeniersähnliche Sachlichkeit bewusst ersetzt. Llorca jedoch, dessen Musikversion so ungemein „musikalisch” daherkommt, muss doch irgendwo sein Lehrgeld gezahlt haben? Die Antwort bildet eine seltsame wie bekannte Trias: Platten, Computer und Videogames. Fangen wir mit den Platten an: die bekam Ludovic tatsächlich von seinen Eltern um die Ohren geschmiert. Mutter war der schwarzen Popmusikultur verfallen und gab das ungefiltert an den Sohn weiter. Sehr hilfreich, wenn man im Nest Saint-Quentin zwischen Paris und Lille aufwächst, und einen die Eltern in die lokale Clubkultur einführen. Das war 1988, und Llorca war gerade mal 14. Jazziger Discofunk rulte, doch irgendwann kamen diese irgendwie sehr schrägen, fast schon falsch klingenden Pianolines der ersten US-Housetracks daher. Inner City’s „Big Fun”, sowas schockiert damals regelrecht, macht neugierig und brennt sich ein für immer. Vater war Programmierer und der beginnenden Computerkultur verfallen und gab das ungefiltert an den 11 jährigen Sohn in Form eines C 64 weiter. Über weltweite Briefkontakte – was ist e-mail? – lernt der Adoleszente einiges über Grafik, Software und Tricks. Über das Handeln seines kleinen 64ers mit seiner schröggeligen 8-Bit-Ästhetik lernte Llorca alles, was er heute übers Musikmachen weiss. Die Soundtracks der frühen Videospiele funken ungemein und sind sein tägliches musikalisches Brot. Humanoides Musiktraining gab’s nirgendwann irgendwann, Llorca lernt alles durch stete Interaktion mit dem Rechner. Was sind Noten? Das Programm zeigt es dir, step by step. So wird er zu einem der unzähligen Musikproduzenten, die niemals ein Instrument auch nur angefasst haben. Mit 18 zieht der junge Mann nach Lille und soll studieren, Englisch, Lehrer, irgendwas, doch da ist er der Musik bereits komplett verfallen. Schnitt. Ich zeige Llorca die kürzlich bei L’age d’or erschienene Compilaltion „Input 64“, einem Miniaturmonument für die Pioniere der Spät80er-Computerspielsoundtracks, die hemungslos und gutgelaunt der 8-Bit-Ästhetik frönten, und er fällt mir fast vom Stuhl, will das Teil sofort aufessen. Exakt das sind seine basics. Wer hätte das angesichts der jazzigen Schwingungen von „Newcomer“ gedacht? Während er wahrscheinlich immer noch in 8-Bit-Erinnerungen schwelgt – u.a. über so grandiose funkjazzige Gamekomponisten wie Jens Chris Huus (nicht auf der Compilation enthalten!) , der auch einen „richtigen” Jazzhintergrund hatte -, möchte ich nun eine nicht uninteresante Tatsache als kleine Katze aus dem Sack lassen: „Newcomer”, jener sehr sophisticated dahinschillernde Frühlingsverschönerer, wurde mittels Fasttracker 2.08 produziert. Bevor jetzt das kollektive Naserümpfen der „amtlichen” Softwareplayer anfängt, stellt sich die Frage: wie denn auch sonst? Hier räkelt sich jemand in seiner C 64-Geschichte wie in einem Bett, setzt traumhaft sicher groovige Patterns, arrangiert und komponiert im besten Sinne seine Tracks, die er danach natürlich später als wav-files am TurboPC aufwendig, Plug-in für Plug-in, nacheditieren muss. Dann aber kommen die Stimmen und die Musiker – und so funktioniert Llorca. Zweite Katze aus dem Sack: nicht nur, dass er dies alles in seinem kleinen Heimstudio in Paris zusamengebastelt hat, auch die Live-Spuren wurden, egal ob die Stimmen von Nicole Graham – sie singt auch für den famosen Dominique Dalcan aka „Snooze”, den Llorca selbstverständlich auch kennt -, Mandel Turner oder Lady Bird wie auch die Instrumentalisten, auf der Toilette des Hauses aufgenommen. Soul is even in the closet. And how deep can your groove go? Schnitt. Der junge Llorca in Lille. Produziert käsigen Happy-House auf einem Amiga mit Protracker, verschiebt Förmchen im Sandkasten. In den 90ern wächst und wechselt das Equipment, man probiert und kollaboriert, übt sich als DJ und reicht 1997 ein Demo bei F-Com ein. Zu dieser Zeit verkauft Llorca noch Mobiltelefone. Nach einer Phase der Annäherung an das Label zieht er Ende 98 nach Paris und wird nach seiner 12”-Trilogie von Morand auf ein mögliches Debut angesprochen. Voila. „Durch die Live-Aspekte wird ein Track lebendiger und bewegt sich, er ist dann weniger statisch und steril. Ich denke, das ist das Geheimnis von gutem House. Den ganzen Aufnahmeprozess musste ich mir dafür durch ständiges Trial and Error selbst beibringen, z.B. wie man Stimmen aufnimmt – und dann auch noch auf einer Toilette. Ich bin auch produktionstechnisch ein Newcomer, deshalb bin ich letztlich auch so stolz auf die Platte.”

Matthew Herbert ist kein Newcomer mehr. Den in London lebenden Produzenten als „Musiker“ zu bezeichnen, ist jedoch wahrhaft kein Fehler. Mit vier bereits spielte er erstmals Geige und Klavier, mit sieben sang er im Chor, später erwarb er sich Fähigkeiten an diversen Keyboards. Trotzdem hält er den Sampler wegen dessen endlosen Möglichkeiten für das wichtigste Instrument aller Zeiten. Seine Interessen innerhalb elektronischer Musik differenzierten sich durch die Projekte „Wishmountain“ und „Radioboy“ (Technoides), Doctor Rockit (Jazzy Electro) und „Herbert“ (House). Berüchtigt wurde der leidenschaftliche Hobbykoch nicht zuletzt duch das exzessive Samplen von Alltagsgeräuschen und nichtzuletzt seines Kücheninventars, das mitunter auch live performt wird. Selbstgesuchte Sounds waren schon immer besonders wichtig für Herbert, nun ist er mit seiner Gefährtin Dani Siciliano, die schon das letzte „Herbert“-Album „Around The House“ mit ihren ätherischen wie auch klaren Vocals stilbildend mitprägte, auf dem Album „Bodily Functions“ auf eine logisch-impressionistische Weise beim Jazz angekommen. Logisch sind die erweiterten Strukturfacetten, die durch ihre drahtseilähnliche Anordung die Musik so schön zum swingen bringt, impressionistisch ist der melancholisch-glückseelige Vibe, der mattglänzende Symbole aus Privatheiten so lange vibrieren lassen kann, bis sie zu quasipolitischen Kippfiguren werden, die damit Räume öffnen können, das Herz, zum Beispiel. Ich kann schlecht verheimlichen, dass dieses Album sehr schnell meine Frühlingsplatte geworden ist, denn diese Musik lässt unter einer zugeschweissten grauen Wolkendecke, aus der ein kalter Dauerregen fällt, auf logische Weise Wärme entstehen.

Die Vorarbeiten für diese Musik gehen auf das Jahr 1996 zurück, als Herbert in den Wiener Cheap-Studios der Herren Pulsinger / Tunakan anfing, an Stücken zu basteln. Ihre Entstehungsgeschichte nachzuerzählen ist sinnlos, da sie eindrucksvoll und in kreisender Perzeptionsbewegung auf dem Plattencover nachzulesen ist. So hat neben einer Riege herausragender britischer Jazzmusiker wie z.B. dem Bassisten Dave Green auch Herberts Klavierlehrer Phil Parnell aus New Orleans an „Bodily Functions“ prägend mitgewirkt, wie auch die Beat- und Samplewhizzards Matmos aus San Francisco sich nicht lumpen liessen, einige ihrer gewohnt obskuren Samples – wie ein Augenchirurgielaser – beizusteuern, wie überhaupt so einiges an gesampelter Perkussion aus Knochenknacken, Haaren, Haut und Zähnen besteht. Und natürlich können Körperfunktionen swingen, wenn man sie nur dazu bringt. Und die meisten Tracks sind natürlich unter des Meisters Reinheitsgebot des PCCOM verfasst – doch dazu später. Erstmal erklärt mir Herbert im Berliner Büro seiner neuen Plattenfirma Stud!o K7 aufmerksam die Anfänge und ersten Sammlungen und Sondierungen, die zu einem etwa sechsmonatigem konzentriertem Verarbeiten jenes Materials führten, das nun so geschlossen und rund dieses Wunderwerk von Album darstellt. Nichts ungewohntes für diesen sehr genauen Musiker, denn schon die Tracks auf Herberts allererstem Album „100 lbs“ waren bei Erscheinen vier Jahre alt – und klingen heute noch stilbildend für den Housesektor. „Die Leute denken oft, meine Musik ist eine zeitgemässe Antwort, aber sie ist oft schon jahrealt“, erklärt er sachlich. „Und ob das nun House ist oder nicht, ist mir egal.“ Seine Arbeitsform für die Stücke ergibt sich aus zwei Wegen: entweder, er komponiert die basics direkt am Piano, oder er beginnt mit elektronischen Sounds und einem Konzept, in dem Ideen und Samples eine atmosphärisches Stück ergeben, die nicht wirklich ein traditioneller Song sind, wie er sagt. Aus dieser hybriden Arbeitsweise entsteht nach langen Trial-And-Error-Werkprozessen, während er an mehreren Songs gleichzeitig arbeitet, das Gründgerüst dessen, was Herberts unverwechselbaren warmweichen, aber auch knackigen Sound ausmacht. Dazu ist eine gehörige Reduktion von Komplexität und eine genaue Beachtung und Eliminierung von überflüssigen Details nötig. Es geht darum, wie bei guter minimaler Kunst, aus einem sehr komplexem Wust aus Material solange etwas herauszustreichen, bis das übrigbleibt, worauf es wirklich ankomm. Wichtig ist eben das, was man letztlich weglässt. Dani betritt den Raum, leicht ermattet vom Reden, aber aufmerksam erläutert sie ihren Beitrag: die Lyrics – intim und persönlich, dabei universell – stammen tatsächlich fast alle aus Herberts Hand, aber was wären sie ohne ihre Interpretation, allein die Vokaldehnung der Gesangslinie gibt dem Stück eine ganz andere, auch für Herbert überraschende Wendung, so dass die Musik immer klarer wird, ohne jedoch ihre Geheimnisse zu verlieren oder zu verraten – etwas Unbestimmtes, dass die Stückarchitektur im wahrsten Sinne so spannend macht, bleibt stets präsent. Dani transformiert die Ideen Herberts und macht sie sinnlich erlebbar. Für viel Diskussionsstoff sorgt nach wie vor Herberts „Personal Contract For The Composition Of Music“, der mittels von 10 Dogma-ähnlichen Punkten sehr klare und rigorose Verbote und Prinzipien für das Musikmachen aufstellt, so dass z.b. das Sampeln der Musik anderer Leute streng verboten ist. Nun, Herbert hat schon immer, seit „Wishmountain“, nach diesen Regeln Musik produziert, und jedesmal, wenn er seine Regeln brach, fühlte er sich als Betrüger. Indem er sein Manifest auf seiner Website öffentlich einsehbar macht, fühlt er sich wieder herausgefordert, zu der strengen ursprünglichen Arbeitsform zurückzukehren. Herbert hasst es, wie Sampling eine Verlängerung des Konsumbewusstseins geworden ist. „Die wirklichen Kosten einer Produktion werden von jemandem geklaut, der viel weiter unten an der Produktionskette steht. Zum Beispiel hat jemand seine lebenslangen Ersparnisse aufgebracht, um eine spezielle Aufnahmesession zu finanzieren. 30 Jahre später kommt dann jemand an und nimmt sich ein Stück davon ohne jede Bezahlung und sogar ohne die Autorschaft anzugeben. Fühlt sich wie Diebstahl an. Paradoxerweise heisst das nicht, dass ich an Musik genau dieser auch Art Spass haben könnte.“ Gut, sage ich, lass uns die Widersprüche umarmen. Herberts „Dogma“ ist einfach eine Art Notbremse gegen die eigene potenzielle Lethargie im Umgang mit Musikmaterial und Aufnahmeprozess. Die Wahnsinnsfreiheit, die Sampling und Software den Musikern von heute gegeben hat, erkennt er unumwunde an, sie war nie grösser als heute. „PCCOM ist einfach nur ein Weg, der sicherstellt, dass ich diese Freiheit ausübe und in Bewegung halte und vermeide, die Vergangenheit zu wiederholen.“ Kritiker, die Herbert vorwerfen, er würde sich an einem klassischen, ja geradezu konservativem Jazzverständnis abarbeiten, kann er nicht verstehen. Vielleicht vermissen sie die Free-Jazz-Aspekte? „Es ist immer gefährlich, seinen Kritikern zu antworten, denn Musik ist immer subjektiv. Ich hätte es lieber, sie würden einfach sagen, dass sie es auf einer emotionellen Ebene nicht mögen. Die Idee, dass Jazz konservativ ist, ist absurd. Die Behauptung, dass elektronische Musik oder Dance-Musik nicht tiefkonservativ ist, ist ebenso absurd.“

Zurück zum Anfang. Wer ist hier konservativ, und wer ist hier Erneuerer?

„Ich hoffe, in meiner Musik ist ein politisches Moment, weil ich diesen darin hineinzubringen versuche“, mailt mir Herbert kurz danach aus London zu. „In diesem Album ist er mehr versteckt, die Texte sind metaphorischer, aber ich hoffe, das nächste Projekt wird expliziter sein. Musik handelt davon, Chaos in die Ordnung zu bringen, und das definiert sie als extrem politisch, besonders wenn man die direkte Übersetzung von Lärm betrachtet. Ich bin sehr leidenschaftlich in diesem Punkt und könnte 5000 Wörter nur darüber schreiben, aber nicht jetzt, es ist so spät, und ich bin so müde…“ Rechner aus. Lassen wir die Architekten schlafen.

Das Erwachen wird umso besser sein.

(Jazzthetik)

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