Zürich. Das 4. unerhört!-Festival / 25. & 26.11.2005 Rote Fabrik
Von Marcus Maida
Was für ein Reiseziel: Zürich Ende November. Doch die Stadt präsentiert sich, obschon frisch eingeschneit, unter strahlend blauem Himmel. Der beschirmte das Gute, was da kam, und spätnachts, wenn die Musik vorbei und das Licht aus war, ging es von der roten Fabrik am sternenklarkalten See entlang wieder in die Stadt zurück. Nicht wenige Festivals bauen auf den Sommer oder die Touristik, das unerhört! baut auf nicht mehr und weniger als den Jazz. Moment mal: Rythmuslyriker Pierre Favre im Zusammenspiel mit der chinesischen Pipa (die traditionelle Laute)-Spielerin Yang Jing, oder das seit 25 Jahren kompromisslos Neue Musik transformierende Zürcher Urgestein-Trio Karl ein Karl (das vor Jahren in Donaueschingen mit einem Auftritt ziemlich Aufsehen erregte) – wie komisch soll Jazz denn noch schmecken? Doch Omri Ziegele (auch Organisator der Züricher All-Star-Improv-Kapelle Billiger Bauer, die nächstes Jahr 10jähriges feiert), der mit Intakt-Macher Patrik Landolt, Fredi Bosshard von Fabrikjazz (die u.a auch für das famose Taktlos-Festival zeichnen), sowie der grossen wilden klugen jungen Irène Schweizer und den Musikern Dieter Ulrich und Christian Weber als Vertreter der MusikerInnenorganisation Ohr, ist es wichtig, dass die basisdemokratisch agierende Gruppe das unerhört! vor allem als Jazzfest organisiert und versteht: „Ein Wort, das seinen Inhalt heute oft verloren hat“, so Ziegele. „Der grundlegende Gedanke war, Zürcher und Schweizer MusikerInnen ein Fenster zu geben und dieses in einen internationalen Rahmen zu stellen.“ Also kein ‚Swiss-only’, wie in Schaffhausen sehr gut und erfolgreich praktiziert, sondern eine sinnvolle Öffnung und ein profiliertes miteinander Schwimmen auf ähnlichen Wellenlängen.
„Heute passiert Musik in den Nischen, und das Spannende in den Details“ – und genau das möchte man integrativ abbilden und dynamisieren. Das unerhört! ist explizit ein MusikerInnenfestival, und sein exzeptionelles Gesicht bekommt es durch das aktive Wissen und die gut gelegten Netzwerke der MusikaktivistInnen. Bereits dies merkt man schon am hervorragenden Programm, während der Live-Präsentation und angesichts des Umfelds jedoch wird die besondere Atmosphäre, in der hier improvisierte Musik veranstaltet wird, erst recht klar. Das wärmt, macht gleichsam den Blick frei und öffnet das Ohr. Musiker organisieren, sagen an, stehen an der Kasse. „Spaß haben, trinken, dabei quatschen, auch mal etwas beschauliches“ – allzu konzertante Situationen sind, so Ziegele, im Grunde gar nicht das Ziel des Festivals. Jazz leben eben. Und doch, natürlich: Konzerte, aber in einem sehr lebhaften Rahmen, für den diesmal vor allem Landolt und Ziegele undogmatisch assoziative Improv-Nägel eingehauen hatten, die jedoch immer wieder in der Gruppe diskutiert und manchmal auch wieder gezogen wurden. Doch als das Gerüst stand, wurde extensiv geturnt: die langersehnte Komplettpräsentation von Monk’s Casino – beim Zürcher Erstversuch musste von Schlippenbach der Enttäuschung aufgrund eines Bühnensturzes in Bern absagen, nun geriet die Schweizer Premiere wegen einer kurz vorher sattfindenden Operation beim Pianisten für die Organisatoren zur Zitterpartie –, als zweiteilige Nocturne bis zu später Stunde präsentiert, geriet zur unterhaltsamsten Jazzshow. Monk im Liegen, im Fliegen, mit rotem Gymnastikball – selten so wenig Staub und so viel ausgelassene Stimmung von durchaus sportiver Intensität erlebt. Das Wort ist: Spielwitz. Alle Hüte hoch.
Begonnen hatten am ersten Tag ¾ Enttäuschung mit Wahlzürcher Nils Wogram (man liebt ihn nicht nur in der Schweiz, siehe auch seine Carte Blanche-Konzerte beim ProFile in Dornbirn), klassischer 70er Jahre Improv ohne Vorabsprachen, nicht immer tight, aber gegen Ende in einer ungeheueren und tollen Energiekurve ansteigend. Doch die Begegnung Mahall-Wogram hätte durchaus noch spannender sein können. Danach jedoch ein sanfter Hammer: Olaf Rupp live, stets fantastisch. Der Berliner Gitarrist einmal mehr als Albeniz auf Speed: mit grossartigen Flächen-Flageoletts kitzelte er die Akustische sensibel, impulsiv, filigran und energetisch. Unglaublicher Charakterkopf mit uroriginärem Stil, immer wieder ein Vergnügen! Komplett überzeugend auch Misha Mengelbergs 10köpfiges ICP – nix Freeform-Zerdrescherei, sondern Ellington-mässiger Tribut-Trip an den klassischen BigBandJazz. Wussten sie, wie tight Han Bennink swingt? Na eben. Und natürlich gab’s dazwischen Vulkanausbrüche, aber die Lava wurde, faszinierend zu hören, gleich wieder umgegossen. Sehr schön.
Am zweiten Tag nach Karl ein Karl die Carte Blanche an den derzeit zu recht viel gefeierten Nik Bärtsch, dessen Rhythm Clan in dieser Form Premiere hatte: zwei Klarinetten und improvisatorisches Gewebe weichten den repetetiven Eck-Funk gefühlvoll auf, doch immer wieder grandiose Zusammenführung in einem logisch-sensualistischen Groove.
Später Favre und Jing: je fragiler und differenzierter er spielte, und je konkreter und impulsiver die erstaunliche Virtuosin, desto mehr kam die Interaktion auf den Punkt. Seide gesponnene Fäden zwischen ihnen, und manchmal wurden Seile daraus. Dann eine Tradition beim unerhört!: das Sologebläse. Nach Roscoe Mitchell, Lol Coxhill und Steve Lacy nun Hans Koch. Der nahm sich kompromisslos alle Zeit der Welt, seine Instrumente zur Luftröhre zu machen, man konnte mitunter Nadeln fallen hören. Das Publikum war fasziniert, was der Freigeist aus seinem Kunstprügel machte. Schnell war klar: Schönklang ist woanders, schon wieder ein entlaufener freier Radikaler. Schließlich die CD-Taufe der großartigen Objets Trouvés: sehr schön klar, transparent und dynamisch gab das Quartett den komplexen Kompositionen von Gabriela Friedli genug Luft zum Atmen. Ihr plateaureiches, ungemein einnehmendes, doch stets unautoritäres Pianospiel, Co Streiffs gelassen klares Sax, das stets wusste was wann wie, Jan Schlegels E-Bassaiten, die tight määnderten wie fesche Peitschen, und Dieter Ulrich, sehr präsent und akzentuiert, doch nie dominant, der einfach ein wahnsinnig guter freier Drummer und Impulsgeber ist, Punkt. Man schraubte sich auf ein unglaubliches Energielevel hinauf und versperrte sich nicht dem Publikum. Es ging richtig zur Sache, wurde regelrecht physisch, und das bei all dieser Wahnsinnskomplexität – Abstraktion muss einfach rollen, so begeistert man auch hintenherum und nachhaltig, und so muss es sein. Liebe LeserInnen, sollte Ihnen eine dieser hier erwähnten Gruppen oder Künstler demnächst unterkommen, gehen sie hin, erhören sie die Musik. Ansonsten in jeden Kalender: Züri im November.
(Jazzthetik)