LOVEBITES
Erika Stucky: voc/acc/melodica, Bertl Mütter: tb, John Sass: tuba, Ray Anderson: tb, voc, Matt Perrine: Sousaphone, Lew Soloff: tp, Knut Jensen: Electronicas, guitar, Darja Albiker: violine, Laura Volkwein: Violine, Angelika Yoo: Viola
Recorded and mixed by Hartmut Homolka at Traumton Studios, Berlin
13 Tracks (+ 1 hidden)
Spieldauer: 57:30
Traumton Records / Indigo
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„Play with fire, play with guns, it’s easy to impress someone“ sang einmal ein Pop-Duo. Wie also kam die amerikanoschweizerischen Ausnahmesängerin Erika Stucky (Kindheit in San Francisco, dann Umzug ins Oberwallis, heute Nomadin mit Basis in Zürich) ausgerechnet auf die Idee, auf dem Cover ihres zweiten Soloalbums „Lovebites“ mit Knarre zu posen, wo wir doch wissen, dass solche Klischees furchtbar missverständlich wirken können? Doch Stucky, sie hat es auf dem Vorgängeralbum „Bubbles & Bones“ bereits bravorös vorgemacht, geht es in ihren mal opulent, mal minimal arrangierten Miniaturdramoletten, die ihre erneut kongenial aufspielende Begleitband orchestriert, alles andere um Klischees. Vielmehr ist ein selbstbewusster wie verspielter Umgang mit der eigenen Wahrhaftigkeit das, worum es in dieser lässigen wie hypnotischen Musik geht. Man könnte vom ersten optischen Eindruck also ein Zusammenhang mit den „Lovebites“-Songs, die thematisch um Lieben, Leiden und Lassen kreisen, erschließen, der auf Angriff, Verteidigung oder gar Drohung zielt, doch wiewohl Stucky das oben zitierte Spiel mit dem Feuer sehr schätzt, findet sie den Samuel Lee Jackson Spruch: „The easiest way to get a reaction from somebody, is to point a gun at him“ noch besser. „Mein Vater ist Waffennarr, und das hat sich auf seine Tochter übertragen. Er ist auch Metzger und auch das hat seine Folgen: I love steaks. I like em saignant. (Wirklich wahr. Ist kein journalistischer bullshit).“ Halten wir fest: im Kern blutig bis rosa, fast roh. Das sollten wir glauben. Und wissen, worauf wir uns da eingelassen haben: keine Musik für Vegetarier. Erika Stucky ist klar ein gesangliches Phänomen. Sie croont, schnattert, schmalzt, krächzt, stöhnt, seufzt, haucht und droht. Und sie spielt die Facetten des Gesangs logisch nie zum Selbstzweck aus, sondern stets für den Song. Bei ihrem passionierten Spiel stellt sich natürlich die Frage, wie viel in diesen Songs Autobiografie und wie viel Schauspiel ist. Oder macht sie diese Trennung nicht mehr? „Mit dem Schauspielern ist es so, dass ich gelernt hab, nix zu spielen, was ich nicht fühle. Keinen Ton, keinen Satz. I’m trying. Ich werde verfolgt von Hook, Refrain und Melodie. Es klopft rythmisch in meinem Kopf, beim Abwaschen und Einkaufen, dann muss ich mich hinsetzen und den Einzelteilen mehr Fleisch am Knochen geben, muss aufschreiben, nageln.“ Nageln wir gleich mal den ersten Song fest: „You can taste my tongue/You can drink my tears/you can break my will – if you will/you can punch my face/you can pull my hair/you can slit my throat/but don’t steal my kisses“ – das erinnert doch glatt an Elvis’ blaue Wildledertreter auf psychologisch, in etwa: Du kannst das und das mit mir machen, aber DAS EINE Ding, das läuft bei mir nicht. In der Tat war Stucky als 8jährige irritiert von des Königs Schuhobsession, genau wie heute 8jährige von der Warnung, Halsdurchschneiden geht ok, aber Küsse stehlen auf keine Fall, irritiert sein könnten. „Ich wollte was kopfverdrehendes, blutiges, doppelbödiges, und nicht auf den ersten Ton erklärbares. Die Platte soll „subakustisch einfahren“, soll wie eine Filmmusik ohne Film, aber mit starken Tonbildern, daherkommen.“ Nebenrollen in diesem emotionellem Doku-Drama spielen u.a. Joe Pesci, Doris Day und Charles Manson, Figuren, die Stuckys Kindheit verschleiert, versüßt und vergruselt haben. Heute gefällt ihr der Blick auf Actors wie Pesci oder eben S.L. Jackson, die den artifiziellen aber doch realen Terror der Gegenwart in ihren Figuren ausspielen, genauso wie Stucky es auf ihre ganz eigene Weise in ihren Songfiguren tut. „Ich denke, es braucht eine große Portion Menschenverständnis und Menschenliebe, um sogenannte „Kalte Killers“ zu spielen, und den Figuren dabei soviel Verletztheit zu lassen, dass man sie faszinierend findet.“ Das ist die traumatisch-dialektische Welt der Stucky paradigmatisch: hier zarte Verletzlichkeit, dort kaltblütig-abgeklärtes Auftreten (die Welt der Liebe, Lust und Leidenschaft), hier Sauberkeit, Unschuld, Idylle (Schweiz), hier Wahnsinn, dunkle Leidenschaft und Obsession (USA). Das schiebt sich musikalisch mit allen Untertönen ineinander. Mal hängt der Himmel voller Geigen, mal knirscht es hinterhältig in den Hirnwindungen, mal maulen die Bläser aufmüpfig herum und fordern ein Fortkommen der Geschichte – heraus kommt immer Stucky-Style. Durchtrieben, gefühlvoll, cool, gewitzt, stolz und energisch macht sich Erika Stucky auf den Weg in ihren Tunnel of Love, der Alltagsidylle und Geisterbahn zugleich ist. Liebe beisst und tut manchmal weh und macht so einiges mehr, und Liebesbisse tun ja bekanntlich weh und sind trotzdem schön. „Den Ausdruck „Lovebites“ fand ich immer so verrucht, „Hickies“ oder „Knutschflecken“ war mir immer zu süß, zu unschuldig. Ich blieb bei den Liebesbissen, denn ohne Biss langweil ich mich.“ War der Umgang mit den Themen der großen Passion auf „Bubbles & Bones“ noch leichter und spielerischer, erscheint der Gestus nun geschlossener, dichter, kraftvoller und packender, sogar in den zurückhaltenden und den nahezu komödiantischen Momenten. „Ich wollte bei „Lovebites“ mehr von der SOG-Qualität. Mehr Drall nach unten, mehr „emotionalen Durchzug“….mehr Kutteln! Ich will je länger je blutter. Je länger je nackter. Je älter desto eigener. Ich will noch mehr, länger…ich seh mich sehr klar als 75 jährige im deux-pieces, mit Kinderplasikguitarre auf der Bühne.“ Die Sängerin Stucky fühlt sich Rickie Lee Jones, Annie Lennox und Jeanne Moreau („als Wortsängerin/Diseuse“) verbunden, mehr aber noch den genialen Jungs ihrer Band. Denn die ist enorm wichtig für ihren Gesamtausdruck und bildet erst das magische Tableau, auf dem Stucky steht und sich entäußern kann. Sie, die ja selbst Akkordeon und Melodica spielt, weiß um die Magie der Bandchemie sehr genau. Doch die Korrespondenz mit den Instrumenten ist mittlerweile so selbstverständlich und nahezu einfach geworden, dass die enorme Komplexität, die hinter diesen Arrangements steckt, in dieser Spiellust nahezu unbemerkt bleibt.
Die Kunst von Stuckys Panorama ist Musical, in dem es nicht weniger als um Wahrhaftigkeit des Ausdrucks geht, und um das ernsthafte Amüsieren in einem phantastischem Grande-Guignol-Entertainment, in dem jede Menge reales Herzblut fließt.
Discografie Erika Stucky
Sophisticrats “ Four Singers & Bass“ LP/CD COD 38010
Sophisticrats „We Love You“ CD COD 38019
Bubble-Town “ Outländish“ CD MGB 9601
Erika Stucky „Bubbles & Bones“ CD Traumton/Indigo 0649-2 (2001)
Erika Stucky „Lovebites“ CD Traumton/Indigo 2837-2 (2003)
(Jazzthetik)