DIE ERBSCHAFT DER UTOPIEN
Von Marcus Maida
Es gibt eine Art von Popmusik, die eine Ahnung von der Fähigkeit zu vermitteln vermag, Traditions- und Zukunftsbewusstsein auf eine Art zusammenzudenken, dass dadurch etwas unerhörtes und lebendiges Neues für die Gegenwart entstehen kann. Das britische Duo Goldfrapp, bestehend aus der charismatischen Sängerin und Musikerin Alison Goldfrapp und dem ehemaligen Filmkomponisten Will Gregory, einem versiert-professionellen Klangarchitekten, Tonlandschaftsgärtner und Song-Arrangeur mit untrügbarem Gespür für Klangdimensionen, verschaffte der an Höhepunkten nicht immer reichen kontemporären Popmusik mit ihrem Debutalbum „Felt Mountain“ aus dem Jahr 2000 ein Impuls der nahezu verschwenderisch angelegten musikalischen Weitläufigkeit, die trotzdem die Stärke und Klasse hatte, schwelgerische Eleganz, opulenten Romantizismus und lustvoll-entrückt zelebrierten Eskapismus konzentriert auf den Punkt zu bringen.
Popmusik hatte Anfang des neuen Jahrhunderts nicht viele wirklich exponierte und avanciert arbeitende Vertreter mit aufregendem Material zu bieten. Goldfrapp begegnete diesem unausgesprochenem Manko mit musikalischer Brillianz und boten mit ausgeklügelter authentischer Künstlichkeit eine ansprechende Haltung zwischen fantasievollem Ästhetizismus und konzeptioneller Klarheit, die beim Zuhören neue Welten entstehen liess, ohne diese jemals aufzudrängen. Alison Goldfrapps Stimme klang zum Beispiel, als ob sie dem weibliche Roboter aus Metropolis Gesang geben wollte, oder als ob eine metallurgische Marlene Dietrich, androidisch wiedergeboren, sich im Morgenlicht einer neuen und völlig fremdartig und doch vertrauten Utopie noch nicht zwischen Kleinkind oder Diva entscheiden kann – oder will.
In Fleisch und Blut hingegen erscheint Alison Goldfrapp simpel, realistisch und bodenständig und im selben Atemzug enigmatisch, eskapistisch und verträumt. Dabei ist sie nicht allzu selbstreflexiv, was ihrer intuitiven Art von Konzentration auch eher hinderlich wäre, sondern kreist in rastloser Verschlossenheit, aus deren Bewegung sie schliesslich die Kraft für ihre mitunter überraschende Offensivität bezieht. Die ehemalige Tricky- und Orbital-Keyboarderin hat eine Tätowierung auf der Schulter, hat Kunst studiert, zwei Jahre in Belgien mit einem modernen Ballett zusammengearbeitet – hier entdeckte sie ihre Stimme –, und wenn sie warm mit jemandem wird, flucht sie auch schon mal ganz gerne.
Das neue Album heisst „Black Cherry“ und ist vor allem kein „Felt Mountain 2“, sondern eine lustvolle wie energische Engführung und Verdichtung: statt vormals perfekt umgesetzten Klangbildern einer surrealen Wunderwelt zwischen Landschaftsbildern und urbaner Science Fiction, zelebrieren die neuen Goldfrapp eine retro-romantische, skurile elektronische Discowelt, der mit Glam-Elementen der 70er Jahre wie simplen Rhythmen und Refrains oder mit atmosphärischen Arrangements eine zeitgemässe betörenden Sinnlichkeit zwischen Naivität und Kalkül Kontur und bittersüsse Schärfe gegeben wird.
? Mrs. Goldfrapp, war es ausgemachtes Ziel, mit „Black Cherry“ die opulente Atmosphäre des Debuts zu vermeiden? Und wo sehen sie die grössten Unterschiede?
! Wir wollten eine andere Stimmung kreiren und in keinster Weise „Felt Mountain“ nachbilden, das in einem hohem Mass reflektiver und vieldeutiger ist als „Black Cherry“. Hier ist der Gestus viel geradliniger und auch sexueller, es geht viel mehr um Verlangen, und die Musik wirkt viel selbstbewusster, wobei sie auch viel spielerischer ist. „Felt Mountain“ hatte eine zusammenhängende Stimmung, hier aber hat jedes Stück eine eigene Stimmung und kann für sich allein stehen.
? Also sind Goldfrapp von den Höhen der filmisch-inspirierten Pop-Musik hinabgeschwebt und etwas weiter unten auf der Erde angekommen? Das Ätherisch-geheimnisvolle scheint nicht mehr der Hauptfokus zu sein?
!(lacht) Ja, es stimmt, wir sind wirklich etwas offensiver geworden. Und doch sind eigentlich nur verschiedene Elemente hinzugekommen, werden anders betont oder zeigen andere Seiten von uns.
? Ist der lebhafte, farbige und sinnliche Ausdruck mancher Stücke ein Drang danach, mehr Persönlichkeit zu zeigen?
! Hauptsächlich geht es um das Bedürfnis, nach Vorne zu gehen, offensiver zu sein und dabei trotzdem mehr Aspekte von sich zu zeigen und die Persönlichkeit aufzufächern.
? … und auch offensichtlich darum, Elektro-Disco mit seinen dramatischen und hedonistischen Images in die Jetztzeit zu transformieren – war das die Absicht?
! Die Absicht war, Energie und ein Zelebrieren der Gefühle zu verbreiten, als Feier eines lustvollen Lebens.
? Was war so gut an Donna Summer und den Disco-Diven der Vergangenheit?
! Die Energie, die Dekadenz und die Opulenz, wie Sie es genannt haben. Und die grossartigen Lieder … das gilt auch für alten Elektro: sie hatten gute Melodien damals.
? Beziehen Sie sich auf diese Tradition?
! Als Musiker verstehen wir die Traditionen und behandeln diese Formate. Man fordert sich daran selbst heraus und macht neue Sachen aus Alten.
? Und wie schaffen es Goldfrapp dabei, zugleich so futuristisch und doch so wohlbekannt zu klingen?
! (lacht) Weil ich Science Fiction liebe, und Fantasy … das sind Dinge, die sehr menschlich sind. Die besten Sci-fi-Filme wie Blade Runner und Solaris gingen um die Psychologie des Themas, was es heisst, menschlich zu sein. Und wir versuchen, darin die Melodie zu verkörpern … das ist das wichtigste Ding, wirklich …
? Die Melodie ist die Verbindung zum Menschsein?
! Aber ja! Es ist das Sentiment, und nicht die Emotion, die zählt …
? Und der futuristische Teil?
! Der kommt aus den Synthesizern, den Geräuschen und dem Spiel mit den Worten. Das ist die Erbschaft der Utopien. Gerade die Dinge, die oft am futuristischsten erscheinen, sind in Wirklichkeit sehr alt. Und wir lieben es, diese Dinge zu verdrehen und mit ihnen zu spielen.
? Sind sie eine moderne Person?
! Ja, ich glaube … aber ich mag die Tradition genauso …
? Sie sind also auch romantisch?
! Ich denke, ich bin hoffnungslos romantisch … aber ich bin auch Realistin. Ich mag es auch, meine Gefühle zu bändigen und im Zaum zu halten … genauso wie ich sie lauthals zerschmettern und zerschlagen könnte (lacht wie ein kleines Kind) … aber nicht auf der Bühne. Ich kann nicht zwei Dinge gleichzeitig tun, ich kann auch nicht gleichzeitig lächeln und singen, wie einige andere Sängerinnen … ich finde das erstaunlich, aber bei mir geht es nicht.
(Vogue)