Barry Guy / London Jazz Composers Orchestra

STUDY II / STRINGER

Study II: Bary Guy: b, director / Irène Schweizer: p / Henry Lowther, Marc Charig, Jon Corbett: tp / Conrad Bauer, Radu Malfatti, Alan Tomlinson: tb / Steve Wick: tuba / Trevor Watts, Evan Parker, Simon Picard, Paul Dunmall: reeds / Peter McPhail: reeds, flute / Philipp Wachsmann: violin / Barre Phillips: b / Paul Lytton: perc

Aufnahme 2.2.1991, Radio Studio DRS, Zürich, Tontechnik: Peter Pfister

Stringer (Four Pieces for Orchestra): Kenny Wheeler, Harry Beckett, Dave Spence: tp, flugelhorn / Paul Rutherford, Alan Tomlinson, Paul Nieman: tb / Melvin Poore: tuba / Trevor Watts, Evan Parker, Peter Brötzmann, Larry Stabbins, Tony Coe: sax, cl / Philipp Wachsmann: violin / Howard Riley: p / Tony Oxley, John Stevens: perc / Barry Guy, Peter Kowald: b

Aufnahme: 26.3.1980, Maida Vale Studio, BBC

Erstausgabe als FMP LP, 1983, von Jost Gebers

Beide Stücke 2005 von Urs Hirschner, Dynamo Tonstudio Zürich gemastert

Executive Production: Patrik Landolt

Spieldauer: 62:10

Intakt

*****

Jacques Demierre / Barry Guy / Lucas Niggli

Brainforest

Jaques Demierre : p, Barry Guy : b, Lucas Niggli : dr

Aufnahme Track 1-6 live 11.11.2004 Jazzclub Uster, Track 7 live 12.11. Loft Köln

Mix und Edit von Willy Strehler, Klangdach, Master von Walti Schmidt, Oakland Recordings

Executive Production: Patrik Landolt

Spieldauer:

Intakt

****

Fürwahr ein starkes Kollektiv mit ungestümen individuellen Beiträgen, wie Guy in der Rückschau diese fantastischen Aufnahmen beurteilt. Stringer, 1980 aufgenommen und 1983 erstmals auf FMP veröffentlicht und lange vergriffen, ist eine vierteilige Komposition, deren vier Stücke ausbalanciert eine vereinigte Stärke bilden sollten, so Guy. Die Kompositionsmethodik folgt auf ungebundene Weise dem Muster einer klassischen Symphonie, wobei, dem LJCO-Konzept gemäß, keine Hierarchien hinsichtlich der Solostimmen existieren. Ein kollektives Spiel ohne formellen Dirigenten, das auf kompositorischen Regeln wie auf Improvisation ebenso wie auf Abstraktion und Sinnlichkeit zugleich gründet: es fällt schwer, hier nicht auch eine politische Metapher zu sehen. Improvisierte Musik muss nicht, kann aber als Chiffre für utopische Impulse und Momente gelesen werden. Man sollte dies der Musik niemals plakativ unterstellen oder gar aufstempeln, dazu fehlt ihr auch jegliche Eindimensionalität und -deutigkeit, jedoch ist die Ambiguität diverser zeitgemässer Musikkonzepte keineswegs als reines ästhetisches Vexierspiel zu verstehen. Guy verschweigt in der Rückschau nicht die Widersprüche und Schwierigkeiten in der Gruppe: seine Papierhaufen auf den Notenständern, die Information zum Ablauf und Aufbau der Musik, wurden von der Gruppe mit geteilten Ansichten aufgenommen. Gleichsam der lebendige musikalische Akt diese Prozesse transformiert: Stringer bietet einmal mehr die Belohnung für den bewussten konzentriert-komplexen Hörprozess, nämlich den utopischen Schein aus der großen Kollektivimprovisation. Study II, 1991 im Radio Studio Zürich aufgenommen, bildet dagegen ein Improvisationsszenario ab, das einen Rahmen für Solo-Performances bildet, die mitunter ob ihrer kraftvollen Energie nur noch Freude machen. Dabei ist der Ausgangspunkt ein anderer: Atmen, Aufbauen, Öffnen, Wiederkehren. Meditation im Sinne einer ruhigen Wiederholung. Ruhe, Be-Ruhigung. Der Kompositionsrahmen gibt Raum für individuelle Äußerungen oder Kombinationen. Auch von Guy herausgehoben ist hier Conny Bauers Posaune, ein sehr eigener energetischer Fluss, es hätte aber auch jede andere sein können, die eine temporäre starke Stimme übernimmt. Das starke Individuum bestärkt nur die Handlungsenergie eines starken Kollektivs, auch diese schöne Wahrheit demonstriert Study II völlig unpathetisch, aber auf großartige und charismatische Weise. Die Verbindung von orchestralem Rahmen und improvisierter Dynamik hat Guy so gut wie selten ein anderer zeitgenössischer Komponist hinbekommen. Diese Aufnahmen sind beste Belege für die zeitlose Energie, die ein bewusst agierendes Kollektiv hinbekommen kann, um sich in der Dialektik von Freiheit und Struktur form- und inhaltgestaltend bewegen zu können. Sieht man die 1970er Aufnahme Ode als Beginn der Geschichte des LJCO , ist Stringer, (engl. für Draht- oder Fädenzieher, benannt nach dem abstrakten Gemälde von Fred Hellier auf dem Cover) 10 Jahre später aufgenommen, der Beleg für die gelungene Transformation des gewählten Weges: hier erst genießt das Konzept komplette Reife: weg vom Jazz-Idiom, einem rein schnell-vergänglichen Rausch, aber auch vom engen Korsett des nur-akademischen Komponierens: das Konzept der Sinfonia als Ausdruck der okzidentalen Hochkultur ist für Guy vor allem ein dialektischer Reibepunkt, es ist, bei aller Verbundenheit, vor allem Material für die Anforderungen der strengen Wirbel der musikalischen Jetztzeit. Guys Orchestra erweist sich als lebendiges Prinzip der Dekonstruktion: keine statische Amalgamierung, sondern ständige Weiterentwicklung und Neuformulierung des zuvor Erarbeiteten und stetiger lebendiger Austausch des anders Gleichen: jeder Atemzug ist gleich und zu=gleich anders. Das LJCO ist ein auditiv erfahrbares Sinnbild einer postmodernen Dialektik. Das Stringer-Kollektiv atmet diese stringente Freiheit, die es sich lustvoll wie hart erarbeitete, regelrecht hörbar. Study II geht dann noch weiter: aus scheinbarer Ruhe und Simplizität erwächst Komplexität und kraftvolle Dynamik, die sich wieder in sich selbst zurück-entwickeln vermag. Das alles klingt nicht leicht, aber Guy hat einen konzeptionellen Anspruch, den er sich selbst, seinem Ensemble und dessen Publikum gegenüber einlösen muss. In der Trioformation mit Demierre und Niggli wird dieses Konzept kammermusikalisch enggeführt, was vor allem, wie hier dokumentiert, live ein Ereignis ist. Hier ordnet sich Guy selbst komplett in dies Minimalkollektiv ein, in dem, so scheint es zunächst, vor allem Demierres postwebernsches Spiel und seine bisweilen rollende und dramatisierende Pianoclusterwände dominieren. Doch sie wären nichts ohne die heissen Linien und kühlen Schnitte, die Guys Basssaiten in diesem manchmal amorph erscheinendem Geflecht ziehen, in dem Nigglis Drum-Percussion oft wie präzise Spitzen, Hackmesser (bzw. Buschmesser für den Weg durch den Brainforest) oder wie skizzenhaftes Gekritzel für einen neuen Entwurf wirkt. Die Musik gestaltet sich dann hektisch, hyperventilierend, zwingend und fordernd, in ruhigeren Passagen und Stücken hingegen scheint sie Luft zu holen für die sehr frei abstrahierte und gleichsam ungemein impulsive Sprache, die sich im gesamten Zusammenspiel entwickelt. Die Variabilität der Voluminawechsel in dieser Musik ist schier unglaublich. Das graphische Pendant dafür wären Schwarz-Weiss-Zeichnungen, keine Aquarelle – die Konturen verwischen nicht, sondern vereinigen sich in aller Gegensätzlichkeit zu etwas Neuem. Barry Guy bleibt einer der faszinierendsten Impulsgeber der improvisierten Neuen Musik.

(Jazzthetik)

Schreibe einen Kommentar