Schaffhausen 20

20. Jazzfestival Schaffhausen / 13. – 16. Mai 2009

Marcus Maida

Offizielle Jubiläen liegen den Machern des Schaffhauser Festivals Urs Röllin, Hausi Naef und Barbara Ackermann nicht wirklich am Herzen, vielmehr ist es der logisch-passionierte Progress von Jazzkultur. Zu ihrem ersten Festival sagte der damalige Stadtpräsident, Jazz sei doch als Musik gar nicht anzuerkennen. Zeiten ändern sich, die Politiker gehen, der Jazz ist immer noch da. Ungebrochen vital und musikalisch höchst ansprechend und inspirierend präsentierte sich zum 20. die definitive Werkschau des Schweizer Jazz. Hatte es im letzten Jahr noch einige Hänger, bot heuer die breite Palette von Anfang an die Reichhaltigkeit und das ungemein hohe Niveau, mit dem Jazz in der Schweiz gespielt, gefördert und auch diskursiv aufbereitet wird. Die Kammgarn war knallvoll, man wollte und sollte natürlich feiern, aber nicht mit einem lauten und protzigen Knall, sondern mit Fantasie und Farbe einsteigen. Hilaria Kramer (tp) und Christophe Cholet (p) eigneten sich hierfür bestens: ihre angenehm kompakt-epischen Brazil-Saudade-Exegesen der 30er bis 50er Jahre fertigten druckvoll, klare und lyrische Klangbilder im Heute, die nachhaltig in der Blutbahn blieben. Auf die Neupositionierung des Vienna Art Orchestra waren alle gespannt: gab es auch hier einen Markstein, der avancierten Jazz für Konzerthäuser und Philharmonien kompatibel machte? Klares Fazit: ja, das Material hat das Potenzial, die großen Häuser zu übernehmen. Diese versierte Jazz-Programmusik, sehr klassisch, komplex und voll, hatte indes bei aller Perfektion und all der disparaten Klangtexturen absolut nichts Gewolltes, Schweres oder Verkopftes. Die Schweizer Milchmädchenrechnung ‚Gershwin + Strawinsky + John Adams + Ruegg = VAO 09’ klingt vielleicht allzusimpel, geht aber letztlich auf: transformierter Jazz als avancierte große und vor allem unterhaltende Ensemblemusik.

Urs Röllins Gitarre und Robert Morgenthalers Posaune überzeugten als hochinspirierte Freak-Wave-Surfer. Sehr frei und sehr genau spielten sie ihre abgezirkelten und ausgefuchsten Suiten, in denen alles möglich war: akustische Blindflüge im dunklen Klangraum, wie Fledermäuse die nie aneinanderstießen. Keine sinnlose Virtuosenflugschau, sondern grandiose Gratwanderungen auf sinnlich-abstrakten Improv-Lines. Und endlich war einmal nicht nur der Veranstalter, sondern auch der erfahrene Musiker Röllin erlebbar, der seine klare Passion für Avant-Rock, Improv sowie komplexe Jazz-Kompositionen zeigte. Bühne frei: ein leerer schwarzer Wirtshausstuhl – Auftritt Hans Hassler. Sein Akkordeonspiel zunächst mit sehr meditativen orgelähnlichen Läufen, Bach und sogar Messiaen klang an, sehr eigen und konzentriert, das Musikalische stand absolut im Vordergrund. Auf Kauz hatte Hassler weniger Bock, er trat konzentriert und klar als Musiker und Virtuose auf. Moderne Klangkaskaden aus dem Moment heraus gespielt, Ellegaard’sche Schnitzereien, herzhaftes Hineingreifen und für die Leute ein ‚O sole Mio’. Da tut er so, als könne er das Stück nicht und spielt fast schüchtern und zaghaft: das ist einer dieser schönsten Momente und absoluten Sternstunden des Festivals.
Das Genfer Fanfareduloup Orchestra erneuerte mit seiner großen Ensemblesuite ‚Frankenstein’ die Klasse, die es schon beim letzten ‚unerhört!’-Festival unter Beweis gestellt hatte. Doch es wurde noch besser. Christy Dorans New Bag kam supertight und hochkomplex vollgepackt, zusammengeschnürt mit den besten Schweizer Stimmbändern von Bruno Amstad: hier blieb kein Auge trocken. Konsequentes Kraftpaket, sehr wild und voll, Blitzgewitter von Hendrix und Stomu Yamashta’s ‚GO!’-seelig, dann wieder freigeistigster Cozmic-Free-Rock, und Vocal-Wizzard Amstad verschraubte Jazz-Scatts der dreckigsten Sorte ineinander und erinnerte im nächsten Moment gar an Napoleon Murphy Brock. Doch selbst hier war noch eine Steigerung drin, nämlich die anschließende Fusion des Fünfers mit dem Ensemble Hochschule Luzern und Gästen. Mann Gottes – das fetzte! Funkensprühend ging das Feuer voll aufs Publikum über. Dominik Burghalter on drums: ein Vulkan! Free Improv-Rock vom Allerbesten, sowohl in den harmonisch-meditativen Inseln als auch in der fett’n dreckigen Polyphonie: schon dieser Auftritt lohnte das ganze Festival – Weltklasse!
Das Sextett der Schweizer Trompetenlegende Peter Schärli erinnerte dagegen zunächst an Jazz und Lyrik. Der eidgenössische Eigenbrötler konnte seinen massiven Vorschußlorbeeren nicht ganz gerecht werden: sein Wedekind-Programm wirkte konventionell, zwar fein-flüssig und schräg-wohltemeperiert, aber in den wirklich freien Passagen einstudiert und phrasig. Gelungen indes die 12-Ton-artigen Parallelgesänge von Barbara Berger, deren unaufdringliche Bühnenpräsenz Fixpunkt und die Halbe Miete war – schade, dass Schärli nach dem Gig vergaß, sie – nach sich selbst! – anzusagen: ein klarer und unverzeihlicher Fauxpaus, denn ohne sie hätte die Band null Bühnenpräsenz gehabt. Der Gig war wohl als epischer Absacker zwischen zwei Rockjazz-Monstern gedacht, denn nun kam Haerter’s Harald. Einfach faszinierend, dem Tiger bei der Arbeit zuzusehen: immer auf der Lauer und auf dem Sprung, und die Kumpane seines reunionierten Intergalactic Maiden Ballets schön fordernd. Leider fehlte der erkrankte Joker Flo Stoffner, denn der kompakte Energie-Funk der Fusion-Workouter landete schon mal bei langweiligem Schaukelstuhl-Blues. Trotzdem: 80% Volldampf, nur 20% heiße Luft, und ein herzhaftes „UBS FUCK!“ vom Meister beim Abschied – da waren’s dann alle zufrieden.

Zwei besondere Fixpunkte boten Nat Su und Elena Duni. Der Zürcher Saxofonist Su ist seit jeher stark unterschätzt. Schon rund 20 Jahre in Zürich aktiv, konzertiert er auch schon mal drei Monate hintereinander in New York, dort jedoch eher in den Off-Clubs. Mit seinem Quartett spielte er in Schaffhausen sehr traditionell, aber auch ungemein stark auf. Derartige passionierte und ausdrucksstarke Spielkraft ist heute in der modalen Szene eher selten, mit seiner farbigen Expressivität öffnete Su jedoch alle Ohren. Ganz anders zog Duni, die gebürtige Albanierin, mit drei Klassemusikern an ihrer Seite den brüllvollen Saal vom 1. Stück in ihren Bann. Sie kommt sehr intensiv, fordernd, desillusioniert wie auch verlangend daher und weiß, es wäre einfach, die Diva und schöne Frau zu reproduzieren. Das verarbeitet sie, und trotzdem steht sie klar im Mittelpunkt, aber sehr dezent und gleichsam verführerisch. Die Stücke zwischen Jazz, Chanson und komplexer Balkan-Rhythmik boten das perfekte Bett für Dunis sagenhafte Stimme, die das Publikum förmlich mitriss. Als Zugabe Nick Drakes ‚River Man’ – heikler geht’s kaum, da das Simpel-Intensiv-Folkloristische Drakes doch eh nur mitleidig verjazzt und ergo verhunzt werden kann. Doch von wegen: geschmolzene Butter in der Sonne, Himmel in einer Wildblume, geht doch alles.
Den Schlusspunkt setze Nik Bärtsch’s Ronin, und ausgerechnet er, der 2004 hier über die Schweiz hinaus nahezu ‚entdeckt’ wurde, enttäuschte unter dem Strich. Klar, man wollte sich nicht wiederholen und den ewigen Zen-Funk-Zampano geben, aber dieser viiiel zu langsame Klangorgasmus gebar dann definitiv zuviel Knochen und zu wenig Fleisch, oder: zu viele kleine Muskeln und zuwenig Fett. Der Gig war eher elegisch-meditativ als modular-impulsiv, oftmals fast ambientartig. Wenn sie denn mal in alter Manier loslegen, jodelt die Hütte, aber das war selten genug. Trotzdem wurden sie geliebt, aber die Erleuchtung war Ronin 2009 keineswegs, eher eine solide Bank mit Durchhänger.

Eines stand wie ein Felsen beim 20. Schaffhauser Fest: die letztjährig geforderten Raketen wurden gezündet und erhellten die Bühne. Nicht nur, dass man sich drei großartig große Ensembles leistete, sondern auch eine Ausstellung über Jazz aus der Schweiz und natürlich die ungemein wichtigen Jazzgespräche, die einmal mehr die notwendigen diskursiven Impulse für die Jazzkultur lieferten. Der rote Faden der drei Tage verfolgte diesmal latent den Aspekt von Netzwerkarbeit und Kulturpolitik. Intakt-Macher Patrik Landolt unterstrich in seinem Referat einmal mehr die Interaktion von Idealismus und Netzwerk im Bezug auf die Nische, in der Jazz sich immer noch befinde. Das anschließende Podium der Netzwerker illustrierte indes, wie disparat die Szene ist: Aktivisten-Veteran Uli Blobel charakterisierte Jazz als zu individuell, ganz so, wie er gespielt wird, und rekurrierte auf die großen Einzelnen, die ihn bewegen. Christoph Huber vom Wiener Porgy & Bess hingegen sagte, kulturpolitisch sei Isolation ein Fehler, da man im Jazz eine Stimme bilden und fordern müsse – diese Kultur ist eben kein Hobby. Ein Vertreter des Jazzclub Singen sang indes im Publikum den Evergreen vom Jazz in Zeiten der Krise: alles bricht weg, es kommen keine jungen Leute und die Subventionen stagnieren, während örtliche Literatur-Festivals dagegen mal eben 350.000 € verblasen. Der junge Benedikt Reising von der sehr kollektiv orientierten Jazzwerkstatt Bern prägte daraufhin den schönsten Satz der diesjährigen Jazzgespräche: „Wir können uns vor Teenagern kaum retten“ – kein Wunder, die Berner agieren völlig unverkrampft und unbelastet, scheren sich einen Dreck um Amtlichkeit und Stilpolizei, und der Begriff Jazz störe dabei auch eher und komme bei den Jungen eh nicht so an. Vielmehr wolle man dem Jazz ein bisschen Hipness wiedergeben – hier kann es zweifelsohne weitergehen.
Deutlich wurde jedenfalls die unumgängliche Notwendigkeit zur Vernetzung aller Jazz-AktivistInnen, um der schlechten Entlohnung innerhalb der Jazzkultur selbst sowie der ungleichmässigen Förderung im Vergleich mit der klassischen Musik endlich selbstbewusst entgegen zu treten. Auch unter der Frage „How high the Jazz?“ wurde hierzu essentielles und aktuellstes unter den Themen ästhetischer Wertungswandel, Lobby gegenüber der so genannten Hochkultur und koordinierte Kulturpolitik verhandelt. Zum Thema ‚Archivierung der Jazzkultur’ holte sich das mit Schweizer Medienleuten hochkarätig besetzte Podium dann praktische Impulse vom Jazzinstitut Darmstadt, um möglicherweise eine professionelle und nachhaltige Strategie für eine Art landesweites Jazz-Archiv zu entwickeln. Vielleicht gibt es in 10 Jahren in Schaffhausen ja das offizielle Schweizer Jazzarchiv, und auch von da kann sich die Kultur dann noch lebendiger und intensiver in den ästhetischen Alltag einmischen. Der geistig-kreative Output war in Schaffhausen auf jeden Fall einmal mehr enorm: die diskursive Verhandlung derart für die zeitgenössische Jazzkultur äußerst wichtigen und Impulssetzenden Fragen leisten für den deutschsprachigen Raum in dieser konkret-kompakten Nadelöhrform tatsächlich nur die Jazzgespräche. Soweit, so bestens. Und weil zu einem Jubiläum schließlich auch etwas handfest-archivarisches gehört: „Werkschau. 20 Jahre Schaffhauser Jazzfestival – Ein Rückblick“, 146. S., Chronos Verlag Zürich“.

(Jazzthetik)

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