Elliott Sharp Carbon

THE AGE OF CARBON

Von Marcus Maida

Elliott Sharp aka E#: doubleneck guitarbass, electric guitar, acoustic guitar, lapsteel guitar, saxophones, clarinets, slab, pantar, voc, sampler / Charles K. Noyes: dr, perc, saw / M.E. Miller: dr, perc / David Linton: dr, metal, electric talking drum / Lesli Dalaba: tr / Jim Mussen: dr / Jane Tomkiewicz: slab, pantar, perc / Bobby Previte: dr / Katie O’Looney: slab, snare drum / Ken Heer: trombone, b / Dave Hofstra: tuba / Jim Staley: trombone / Zeena Parkins: electric harp / Samm Bennett: electronic drums, perc / Joseph Trump: dr / David Weinstein: sampler, keyboard / Marc Sloan: electric bass
Aufnahme: zwischen 1984 bis 1990 in New York City. Orte: B.C. Studio Brooklyn NYC, live at The Kitchen NYC, Baby Monster NYC, Magic Shop NYC, live at Knitting Factory NYC.
Produzent: Elliott Sharp
Remaster at Studio zOaR, NYC, Dezember 2009
Linernotes: Elliott Sharp
Spieldauer: CD 1: 72:35 / CD 2: 73:28 / CD 3: 69:00
Intakt / Harmonia Mundi
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„Willkommen im Karbonzeitalter“ warb eine deutsche Autofirma letztens in
doppelseitigen Anzeigen. Der kohlenstofffaserverstärkte Kunststoff ist derzeit in aller Munde und gilt als der Werkstoff der Zukunft, mindestens für die Fahrrad- und Automobilindustrie: so stark und belastbar wie Stahl, Gewicht aber weniger als die Hälfte. Allerdings sind Konstruktion und Qualität des Stoffes für die Nutzer überlebenswichtig: Carbon sieht immer perfekt aus, aber kleinste Risse und Brüche im Material können tödliche Folgen für die Nutzer haben. Wenn Carbon billig angeboten wird, heißt es, dass nicht sinnvoll konstruiert wurde.
Elliott Sharp’s 1983 gegründete gleichnamige Gruppe ist langlebige Qualität pur, und diese grandiose 3-CD-Compilation von Tracks aus den Jahren 1984 bis 1991 ist ein retrospektiv zu erlebender Meilenstein. Void Coordinates, das fulminante Re-Union-Album auf Intakt von 2009, zeigte noch einmal deutlich die Rolle, die Mathematik und algorithmische Organisationsprozesse stets für die Musik von Carbon gespielt hatten: allemal sinnvolle und höchst durchdachte Audio-Konstruktionen, denen indes neben dem Sinn für das konzeptuell-komplexe Panorama die Parameter Groove und Dynamik als Motor und Indikator der Vitalität ebenso wichtig waren. Wie das alles entstand und sich entwickelte, lässt sich hier noch einmal bestens erfahren. Sharp, als Physiker, Komponist, Musikethnologe ausgebildet – ein Improvisationsstudium bei Morton Feldman und Roswell Rudd war auch noch drin –, kam 1978 erst relativ spät nach New York, ging aber in der damals blühenden Downtown-Szene sofort in die Vollen und spielte mit allen Cracks und Koryphäen. Nach der Feuertaufe in diversen Frühhardcore und Improv-Szenen gründete er schließlich Carbon.

Man muss sich das einmal vorstellen: ihr Debut machte diese waghalsige Concept-No-Wave-Improv-Band auf dem Soho Speed Trial Festival im Mai 1983 inmitten von Lydia Lunch, The Fall, Swans, Sonic Youth, Beastie Boys und den Toy Killers. Sharp indes wandte sich bald vom Downtown-Zirkus ab und seinem Interesse für algorithmische Komposition zu: der Fibonacci-Schnitt und seine Serien sowie Geometrie wurden zu einem konzeptuellen Rahmen für experimentelle Arbeitsflächen, deren überraschende Ergebnisse ihn ermutigten, noch tiefer in die musikalischen Zahlenstrategien einzusteigen. Die frühen Ergebnisse, metallisch-groovende, oft industrial-artige trockene Rythm’n Groove-Improv-Tracks, ließen jedoch bei den damaligen HörerInnen alles andere als auf eine in der Regel mit klinischer Seelenlosigkeit assoziierter Mathematikfaszination beim Komponisten schließen. Das Material packte zu, es trieb an, es bewegte sich, es war roh und vital, aber durch seine Architektur schimmerten stets eine klare hellwache Intelligenz und ein scharfes Bewusstsein. Und: es war eine Kante in diesen Produktionen, die heute vielen Produktionen aus dem Bereich des experimentellen Jazz’n Improv fehlt. So war es kein Wunder, dass die ersten Alben neben Sharps eigenem Label zOaR auf dem Berliner Atonal Label erschienen, und die Verbindung zur Noise/NoWave-Szene – siehe z.B. auch seine Kollaboration mit Merzbow oder Christian Marclay – verlor Sharp nie.

Die strukturale Geometrie der Fibonacci-Serien verband Sharp bei Carbon des Weiteren mit dem Interesse an Benoit Mandelbrots Theorien einer fraktalen Geometrie, welche die Felder Turbulenz, Chaos und Unordnung bewusst abdecken. Die menschgemachte künstlich-logische Ordnung ist, bei aller Faszination, nicht die der Natur: der panoramaartige und unfokussierte Blick kann deutlich zeigen, dass die Natur in der größten Unordnung die größte Ordnung hat. Diese Dialektik ist ein Schlüssel zur Ästhetik von Carbon und generell zu Sharps Kompositionsweise. Darüber hinaus ist Sharps musikalisches Vokabular beeinflusst von der Science Fiction-, Cyber- und Splatterpunk-Ästhetik von Philip K. Dick, William Gibson, Bruce Sterling oder K.W. Jeter. Die Faszination für Datacides, die Interdepenenz geordneter und chaotischer (Kompositions-) Strukturen sowie eine von Rock-, Funk-, Improv- und Proto-Industrial geprägte Klangkultur drückt sich in den Spät-80er-Stücken von Carbon besonders markant aus. Dieser spezifisch hellwache Rundumblick und die Fähigkeit, die Materialfülle „with the old Math“ verdichten zu können, das ist die genuine Errungenschaft von Carbon, die hier so komprimiert wie nie zuvor zu entdecken ist.

(Jazzthetik)

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