Schaffhausen 21

21. Jazzfestival Schaffhausen / 5. – 8. Mai 2010

Marcus Maida

Wer zu früh festivalt, den bestraft der Regen. Der außergewöhnlich frühe Termin bescherte Schaffhausen Anfang Mai novemberhafte Temperaturen und verwässerte den Eindruck vom Schaufenster des Schweizer Jazz etwas. Das lag indes auch am Programm, das erneut Höchstinteressantes, aber auch Zwiespältiges bot. Zu Beginn interviewte Intakt-Mastermind Patrik Landolt, der das neuere Profil des Festivals vor allem als Begründer der Jazzgespräche nachhaltig prägte, Kantonskulturchef und Stadtpräsident auf der Bühne und zog den Politikern charmant Jazz-Bekenntnisse aus der Nase. Der eine sammelt als ausgesprochener Fan leidenschaftlich Trio-Jazz und wünscht sich mehr Innovation, der andere outet sich als bekennender Jazz-Konsument, der kein Festival auslässt, das ja durchaus anarchistisch und subversiv sein könne – da läuteten doch schon zu Beginn die Glocken. Schön gemacht.
Geht das nicht auch in Moers?

Der eröffnende Basler Pianist Hans Feigenwinter bot indes weniger anarchistisch-subversiven als kompakt-flüssigen Trio-Jazz. Einfach nur angenehm auf höchstem Niveau, rutschte es jedoch alsbald etwas ins Beliebig-Gefällige. Sie schwammen im Ohr, fühlten sich wohl dort, hinterließen aber wenig wirkliche Spuren. Trotzdem, mit wirklich langem Atem die Spannungslinien live zu ziehen und halten, das schafft nicht jede Band. Weiter: ein Auftritt von Erika Stucky macht einfach Spaß. Doch nicht nur das: erst wurde im roten Samurai-Eierwärmer-Dress der Staub vor der Bühne abgekratzt, dann lud man vor alpiner Projektions-Kulisse mit Bubble-Family in eine uroriginelle Vaudeville-Geisterbahnfahrt durch die Pop-, Jazz- und Beziehungsgeschichte. Sinistres Rollenspiel zwischen roh und raffiniert, Brel-artige Drama-Rauchbömbchen, dazu u.a. zwei Alphörner, die Grazer Streicher-Girls von Netnakisum als besenschwingende Alpen-Andrew-Sisters, Lucas Niggli als Heavy-Rock-Bade- und Sprengmeister – Herz, was willst Du mehr? Stucky’s Kitsch-Theater-Ulk-Revue hat noch jede Menge Saft.

Die wiedergeborene Luzerner Legende OM performte nachts darauf eindrucksvoll die Dialektik zwischen Groove und Gerüst, zerlegen und zerfließen lassen und Fundament und gasförmig. Eindrücklich wurden die verschiedensten Aggregats- und Bewusstseinszustände demonstriert. OM zeigte sich erneut als Meisterkollektiv des Klangreichtums und der Möglichkeiten, geräuschhafte Improvisation als Bandgefüge vorzuführen. Am meisten aber überzeugten sie, wenn sie im psychedelischen Free-Rock-Rausch zusammenfanden. Hier wurde klar, wie unendlich wichtig Fredy Studers Rhythmik für die Gruppe ist: er ist Puls und Rückgrat – wenn er den Sack zuzieht, hebt die Band ab, bis Leimgruber ihn wieder aufsticht und das Helium langsam und faszinierend entweicht. OM sind heute Vorbild für viele frei improvisierenden Youngster, eine Live-Vorführung ihrer Energie ist essentiell. Den Anschluss machte sinnigerweise die sehr junge Formation Face Nord unter Michael Wintsch. Die Kompositionen des Genfer Pianisten bildeten eine mit Spannung erwartete akustische Bergfahrt, die programmatisch eine Eiger-Nord-Besteigung darstellte. Die sehr disparaten Texturen des Sextetts zwischen ruhig-seriell-impressionistisch sowie heavy treibenden Crossover-Passagen mit Improv-Einsprengseln und elektroakustischen Idiomen faszinierten. Die Seilschaft vereinigte sich zu kompakten Grooves, angefuzzte, an Mike Patton erinnernde Grindcore-Vocal-Steinschläge und diverse Delay-Schneebretter wechselten mit impulsiven Gitarrengewittern wie das Wetter. Musikalisch hochanspruchsvoll, gut arrangiert, sehr reichhaltig und tricky, forderte die Art-Rock-Improv-Prog-Suite das begeisterte Publikum. Gruppen wie OM und Face Nord sind bestens geeignet, die Klang- und Agitationsspektren der komplexen Improvisation zu demonstrieren und weiterzugeben.

Ganz anders der Freitag: der junge Vierer Parallels um den Genfer Saxofonisten Nicolas Masson ließ sich mit absoluter Spielfreude in die Grooves hineinfallen, die zwischen klar-kristallinen Klangröhren und cleveren und nicht zu zerfaserten improvisierten Ausreißern (mögliche Folge von Massons Tim Berne-Exegese) changierten – zwischen kraftvoll und lyrisch, Tune und Ballade war hier einiges drin, hätte aber überaus gewagter sein können. Warm, sehr human-humorvoll und voller Spielwitz ging es mit dem Quintett KOJ Piffkaneiro weiter. Die Koryphäen in der Verbindung von Komposition und Improvisation schöpften aus ihrem reichhaltigem Fundus aus Neuer Musik, Jazz und Folklore Imaginaire – nicht umsonst entwickelten die Musiker das Material mit Louis Sclavis, der in Schaffhausen durch Christoph Grab exzellent ersetzt wurde. „Spartakus schmiedet Pläne im Feuerschein, später erkrankt die Muse“ – derartige Titel passten brillant zu den fantasievoll-poetischen, hochlebendigen und anspruchsvollen Kompositionen voller kammermusikalischer Raffinesse. Das ist die Musik für die künftigen Konzerthäuser: avanciert, aber vom Gestus her alles andere als Kunstjazz. Ein tolles, frisches und sehr sympathisches Ding – Riesenapplaus war die Folge.
Überhaupt war der Freitag der Tag der Jungen und der Publikumslieblinge, was durch den Gig der Jean-Paul Brodbeck Group nochmals unterstrichen wurde. Der junge Basler ist ein Phänomen: seit zwei Jahren spielt er mit seinem Trio jeden Dienstag im Zürcher Club Helsinki, seit drei Jahren als Sideman bei Wolfgang Muthspiel, in Schaffhausen begeisterte er die knallvolle Kammgarn mit einem Quintett, das mit dem stets über alle Zweifel erhabenen Johannes Enders am Sax als absolute Sahnehaube gekrönt wurde. Doch was tat man? Man frönte dem Fusion. Der sehr an Hancock’s Head-Hunters-Phase geschulte Sound wirkte zunächst enorm groovend, verzwackt aber unanstrengend, ungemein souverän und mit einem traumhaft tight aufspielenden Enders, der dem Ganzen Seele einhauchte. Zuviele Schnörkel und überladene Zuckrigkeit indes ließen alsbald auch einen akustischen Marshmellowbauch entstehen: das Piano war nicht betrunken, sondern narzisstisch. Ein exzessives Drum-Solo im vierten Stück braucht eigentlich auch kein Mensch. Die Fusion-Leistungsschau bekam auf Dauer einen sehr gleichförmigen Sound mit zu wenigen Überraschungen, zu wenig wirklichem Funk und roher Energie, dafür einer Überportion Pizza Retro-Virtuoso.

Am Samstag überzeugten die Zürcher Fearless Five um Trompeter Michael Gassmann nachhaltiger. Dem Fünfer gelang es, vom ruhigen frei improvisierten Intro nach erst zehn Minuten zu kräftig-kompakten und dann umso effektiveren Stücken zu kommen. Gassmanns prägnante Stimme zeigte enormes Profil, seine Mitspieler bewiesen sich als kongeniale Könner, die sehr flink und vielseitig agierten und sehr intensiv-stimmige Texturen um sein Spiel webten. Traumhaft schöne Balladen und trocken-lyrische Anschlusspässe standen neben magischen Abstraktionen. Niemals gefällig, wählten sie nicht den leichtesten Weg und hatten stets Drive und Puls dabei. Genau dadurch wurde ihr Spiel nie langweilig, die Dialektik aus impulsiv-komplex und relaxt-poetisch ging voll auf und überzeugte.
Lisette Spinnlers Siawaloma deckte, diesmal auf der Hauptbühne, das Vocal-Genre ab. Der Ethno-Jazz der Baselerin war durch Coverversionen – Dave Hollands Mazad, Hancocks Maiden Voyage, schon wieder Nick Drake’s River Man (nach Elena Duni letztes Jahr und Till Brönner eh) – sowie ihre Scat-Einlagen geprägt. Die Band, bemerkenswert der zuvor mit dem Suisa-Preis ausgezeichnete junge Pianist Colin Vallon, fügte bisweilen leicht dreckige Grooves unter ihre kristallklare Stimme, die bei den afrikanisch anmutenden Stücken am meisten Impulsivität und Ausdruck hatte. Alles andere als schlecht, aber auch nicht die große eigenständige Offenbarung, die sie sein sollte.
Den Vorhang zog – fast schon programmatisch – ein Westschweizer zu, und es dampfte noch mal ganz gewaltig. George Robert hatte mit seinem Jazztet zehn den besten Musiker der Romandie im Gepäck, und feierte doch vor allem die Musik von Mike und Randy Brecker, arrangiert und re-komponiert vom grandiosen Jim Mc Neely. Die Mini-Big-Band mit dem gewaltigen Sound war genau der richtige Wecker zum Abschluss: ein Genuss und eine Freude, diese farbige und wirklich perfekt arrangierte und gespielte Musik zu hören. Aus diesem eher traditionellen Rahmen ein derartiges Klangspektrum herauszuholen war sagenhaft! Diese Truppe, Repräsentanten aus Lausanne, der jüngsten Musikhochschule der Schweiz, könnte jederzeit in New York und in den Clubs der ganzen Welt spielen – internationales Format! Robert, ein Freund von Mike Brecker, überzeugte durch seine super gute sympathische witzig-trockene Art, mit der er das Publikum sofort gewann. Ein warmer, perfekter und hochanspruchsvoller Ausklang des Festivals und definitiv einer seiner Höhepunkte.

Klares Fazit: noch nie waren so viele Romandie-Musiker in Schaffhausen gewesen, zumindest hier ist eine Lücke geschlossen, auffällig auch der hohe Anteil junger Spieler. Indes: die experimentelle Schiene war eher unterrepräsentiert und hatte es schwer bei diesem Jahrgang, der erneut von sehr hoher Qualität handelte, aber auch von Auftritten, die einen zwiespältigen Eindruck hinterließen.

Die Leitung der Jazzgespräche hatte heuer zum ersten Mal der Journalist Frank von Niederhäusern übernommen, der ein anspruchsvolles Konzept mit den wichtigen und richtigen Fragen zur Zeit zusammenstellte: auch wenn’s fast keiner mehr hören mochte, wurde das aktuelle große K wie Krise an drei Nachmittagen mit Partnern aus Wirtschaft, Medien, Veranstaltern und Distributoren durchdekliniert. Das Sponsoring-Thema bot sich primär als eine eher technokratische Vorgabe an: kein Diskurs, sondern eine Ökonomieagenda wurde aufgerollt, an der sich Künstler und Veranstalter abarbeiten müssten. Bisweilen kam da der Eindruck auf, die Krise wurde hier einfach etwas wegdiskutiert, es fehlte ein wirklich kritischer Querkopf auf der Bühne. Am Ende hatte sich vieles in konsensseeliges Wohlgefallen aufgelöst, denn keiner wollte die Rolle des Störenfrieds spielen. Die Diskussion über die soziale Krise bzw. nationale Gräben, hinter denen die Musiker spielen sollten, gleich ob Rösti- oder Rhein-, fiel da schon weitaus fruchtbarer aus, nachdem Christoph Merki ein bemerkenswert gut recherchiertes Referat zum Thema vorgelegt hatte. Findige Veranstalter programmieren mittlerweile so, dass sie Jazzer aus Ländern holen, die viel und gut unterstützen, weil sie Musiker hier oft fast umsonst haben können. Aber der Transfer funktioniert nicht wirklich rückwirkend: deutsche und österreichische Musiker spielen z.B. kaum in der Schweiz. Grandseigneur Ekkehard Jost antwortete als Gast aus dem Publikum: Musiker müssen primär eh selbst abwandern und nomadisieren. Die letzte Krise wurde dann angesichts der Marginalität von Jazz in den Medien verhandelt, deren Vertreter vornehmlich ihre eigene selbstreferenzielle Logik abbildeten, was zunächst nicht wirklich erhellend und ergiebig war. Was soll ein TV-Vertreter auch anderes sagen, als dass er die Musik liebt, aber nicht sendet, da die Quote halt ultima ratio ist? Das TV als antikes Medium verpennt den Trend zur Nische halt mittlerweile genauso wie viele Majorlabel, hält sich aber immer noch für den Kaiser, viele Feuilletons agieren ähnlich gönnerhaft, die Fachjournalisten indes seien so schlecht bezahlt, dass auch das irgendwann aussterben könnte. Das Wort ‚Internet’ schließlich fiel über eine Stunde gar nicht, da musste sich erst Olivier Weindling vom Londoner Vortex-Club im Publikum mit der Erwähnung von YouTube melden. Nur das Schweizer Radio musste sich in Vertretung von Barbara Gysi keinen Vorwurf gefallen lassen, da ihr Umgang mit dem Genre vorbildlich ist. Die letzte Diskussionsrunde war die ergiebigste, da das zahlreich erschienene Publikum alsbald übernahm und die verschiedensten Interessen überdeutlich wurden.

Geht’s dem Jazz gut, geht’s uns allen gut – das ist leider eine feine kleine Lüge. Denn Individualismus, so Ekkehard Jost, der tagsüber einen begnadeten Vortrag über Werner Lüdis Hamburger Jahre gehalten hatte, sei nun mal bezeichnend für den Jazz. Daher, so das Fazit der Runde, brauche es neben Strukturen eben auch vermittelnde Einzelkämpfer: gibt es davon genug, geht es auch dem Jazz gut – mehr lässt sich zur Zeit einfach nicht sagen. Die Jazzgespräche brachten erneut Vermittlung und Präsentation von Jazzkultur und –diskurs auf ein exzellentes Niveau. Sie bräuchten eigentlich mittlerweile eine eigene Kritik, deshalb ist es sehr gut, dass mittlerweile regelmäßig in gedruckter Form Rückschau für Archiv und kommende Diskurse gehalten wird. Soeben erschienen das Fazit der letzten drei Jahre: Christian Rentsch und Urs Röllin (Hrsg.): Schaffhauser Jazzgespräche, Edition 3, Chronos Verlag, Zürich.

(Jazzthetik)

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