Steve Lacy

NOVEMBER

Von Marcus Maida

Steve Lacy: Soprano-Saxofon
The Crust / Moms / Tinas Tune / The Door / Blues for Aida / The Hoot / The New Duck / The Rent / The Whammies / Reflections
Recorded live 29.11.2003 at Unerhört!-Festival, Rote Fabrik, Zürich.
Mixed, edited and mastered März 2010 by Patrik Schwitter.
Liner Notes: Irène Aebi, Jürg Wickihalder, Bill Shoemaker.
Executive Production: Jürg Wickihalder.
Produced by Intakt Records, Patrik Landolt.
*****

Wir haben hier nicht mehr und nicht weniger als den Mitschnitt von Lacys letztem Solo-Auftritt vor uns liegen. Lacy, der das Sopran-Sax von den alten Meistern lernte, es mit Spielwitz und Virtuosität rehabilitierte und das „kleine hysterische Kind“, wie er es einmal nannte, zu einem coolen Instrument machte. Lacy, der Trane zum Sopran brachte und sich darüber freute, dass der Country Boy bei ihm einkaufen ging und Jazz sich wieder vorwärts bewegte.
Lacy, der von Cecil Taylor in das Meer des Free Jazz geworfen wurde, bei Gil Evans weiter schwimmen lernte und der mit und bei Monk später seinen kompositorischen Mentor fand. Lacy, der mit seinem Sextett bis in die 90er hinein zeigte, wie selbstverständlich Jazz und Art fusionieren konnten.
Lacy halt: energetisch, philosophisch, voller Lebensfreude, dabei immer bodenständig, cool und relaxt.

Als das Zürcher Unerhört!-Festival ihn 2003 zu einem Auftritt in die Rote Fabrik einlud, wusste Lacy, dass er seit kurzer Zeit Krebs hatte. Dementsprechend lag ein Schatten, aber auch eine latente Spannung über dem Auftritt. Der Gestus dieses Konzertes ist gleichsam von einer eigentümlichen entspannten, Zen-artigen Gelassenheit geprägt. Man kennt den Duktus Lacys, aber im Verlaufe des Hörens dieses Konzertes gewinnt die Musik etwas komplett Magisches und wächst unweigerlich durch das Ohr ins Herz. Die Stücke atmen und erzählen im besten Sinne des Wortes. „Der einzige Grund für das Leben oder eine Geschichte ist doch: Was passiert als nächstes?“, schrieb Kerouac. Im dritten Stück des Konzertes hört man Lacy auf einmal singen: „If I must die/Let it be autumn/Ere/The dew is dry“. Spätestens hier hält man den eigenen Atem an. Ozaki Koyo, ein Pionier der modernen japanischen Literatur, schrieb dieses Haiku 1903 kurz vor seinem Krebstod; Lacy wiederum widmete Tinas Tune der mit 40 ebenfalls an Krebs gestorbenen Berliner Saxofonistin Tina Wrase. Nun ist die Platte kein Totentanz, doch thematisiert Lacy das Ende des Lebens mit der ihm eigentümlichen Offenheit. Und imitiert er nicht in seinem abstrakten Klassiker The new Duck mit gewitzter tierischer Lautmalerei den bereits etwas müde gewordenen Krankenwagen-Notruf? Seine Technik, Phrasierungen, Schnelligkeit, Tiefe und Intensität lassen bei aller Vermeidung von Sentimentalität jene konkrete Sinnlichkeit entstehen, die das Publikum, frei nach Benjamin, nicht gelehrter, sondern eben gewitzter hinterlässt. Ein bewegender Auftritt war dies damals im November am Zürisee, so wird heute noch kolportiert. Lacy hatte dort schon lange eine Fangemeinde, deren solventeste Mitglieder das Unerhört! beim Auftrittshonorar unterstützten.

Doch wie kommt es nun erst sieben Jahre später zur Edition? Der Tonmeister hatte damals das Band mitlaufen lassen, die Veranstalter legten es nach Lacys Tod im Juni 2004 zunächst ins Archiv. Jürg Wickihalder, Schüler von Lacy und Tester seines Schulprogramms, schickte das Band später an Bill Shoemaker, der wiederum gab eine unauthorisierte Kopie an Evan Parker, der es bei Pi-Recordings veröffentlichen wollte, woraufhin Lacys Lebensgefährtin und Mitspielerin Irène Aebi kontaktiert wurde. Diese war zunächst brüskiert ob des unauthorisierten Mitschnitts, beschwerte sich in Zürich, lernte aber bald zufällig Rote-Fabrik-Veranstalter Fredi Bosshardt und später auch Wickihalder kennen, so wurden die Wogen geglättet und die Türen für das Album schließlich langsam aber sicher geöffnet.

Über diese nicht unüblichen Veröffentlichungs-Kapriolen hinaus ist der Umgang mit dem Erbe Lacys jedoch auch ein paradigmatischer für den generellen Umgang mit der Jazzkultur und ihrer Vermittlung. Aebi verwaltet als Witwe Lacys dessen Nachlass, der u.a. aus unzähligen Kompositionen, Widmungen und Briefen besteht. Als sie indes 2010 in die USA reiste, um wegen der Nachlassarchivierung und -vermittlung an einen potenziellen Partner, konkret das Music Department der Columbia University, heran zu treten, erwiesen sich die Verhandlungen letztlich als unergiebig und enttäuschend: das Angebot war zu gering, und es gab kein Versprechen, dass die Musik zugänglich gemacht werden würde. Aebi erkannte die potenzielle Gefahr, dass der Nachlass eines der größten Akteure des modernen Jazz in den Archiven einer Musikuniversität vor sich hin schimmeln könnte – auch dies ein wesentlicher Grund, dass Lacys Erbe immer noch der Aufarbeitung, Katalogisierung und Vermittlung harrt. Direkt nach Lacys Tod wurden Gerüchte kolportiert, dass der Nachlass einen ökonomischen Wert in Millionenhöhe habe, nun soll er ein Vielfaches geringer sei. Was geht da potenziell verloren! Sicherlich: Lacy ist auch ein partielles Opfer seiner eigenen Veröffentlichungs-Praxis geworden: er hat überall veröffentlicht, am Ende nahezu inflationär, wer also betreibt nun die Werkpflege, wer ist der eigentliche Verleger?

Der latente, aber drängende Kontext, der hinter dieser außergewöhnlichen Konzert-Edition steht, ist jedoch zweifelsfrei dieser: der Nachlass wartet in seinem immensen Reichtum auf einen festen Ort, auf eine Heimat und auf Betreuung. Allerorten ist kein Geld für einen adäquaten Umgang mit der jüngsten Vergangenheit der Jazzkultur vorhanden. Wer erarbeitet und schreibt ihre Geschichte, gerade in Zeiten, in denen Kultur nicht nur stetig gekürzt, sondern in denen auch immer noch um den Ort des Jazz innerhalb des kulturellen Gesamtkanons gerungen werden muss? Eine Stiftung oder Institution, die das Werk systematisch sichtet, archiviert und verbreitet, müsste gegründet werden. Intakt-Records kann und möchte dies logisch nicht leisten, da der Fokus des Labels auf Neueditionen und den Jazz der Gegenwart und Zukunft ausgerichtet ist. Aber das Zürcher Label hat mit dieser kulturellen Herausgabeleistung einmal mehr einen wichtigen Leuchtturm und Marker für den richtigen und wichtigen Umgang mit der Jazzkultur geleistet. Irène Aebi, nach wie vor sehr umtriebig und unterwegs in Sachen der Nachlassvermittlung, ist laut Patrik Landolt sehr glücklich mit dieser Edition, und sehr gerührt über den gewohnt sorgfältigen Umgang von Intakt mit dem Material. Die kurze Booklet-Introduktion erzählte sie dem Intakt-Herausgeber direkt am Telefon. Und Jürg Wickihalder, der die Veröffentlichung stark vorantrieb, übernahm schließlich die gesamte Executive Production für diese einmalige Erinnerung an seinen Lehrer und Inspirator.
Bei aller notwendigen Vermeidung von Pathos und Ahnung, welche die spezielle Situation dieses Konzertes gebietet, sollten wir einfach anerkennen, mit welcher Klarheit, Gelassenheit und lebensphilosophischer Stringenz hier Musik existenziell gemacht wird. Ganz simpel: eine Frage von Leben und Tod. It ain’t the same without Lacy.

(Jazzthetik)

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