19. Jazzfestival Schaffhausen / 21. – 24. Mai 2008
Von Marcus Maida
Das Gute: Schaffhausen 2008 begann mit einer wirklichen Sensation. Das Schlechte: danach konnte es nicht mehr besser kommen. Doch wie kann ein Programm gegen das erste Aufspielen des London Jazz Composers Orchestra unter Barry Guy seit 10 Jahren noch dazu feat. Irène Schweizer überhaupt noch auftrumpfen? Das im Stadttheater unter exzellenter Akustik stattfindende Konzert präsentierte zunächst eine in Hochform aufspielende Solo-Schweizer, die in knapp 20 Minuten ihre Brillanz verdichte und lässig spazieren führte: quecksilbern, offen und hell improvisierte sie in sagenhafter klarer Klasse Jazzidiome im Stakkato übereinander. Guys Komposition Radio Rondo baute danach ein angemessenes Haus für Schweizers Klavierkunst: aus dem totalen Free Tutti schälten sich diverse Wellenlängen mit frei sendenden LJCO-Inseln heraus. Oft klang es, als ob sich per Sendersuche Ätherwellen ins Klangbild schoben, wobei alte Komplizenschaften wie von Schweizer und Lucas Niggli besonders begeisterten. Das sehr energetische und lebhafte Stück war oft durch punktgenaues Bläserspiel charakterisiert und grandios um Schweizer herum arrangiert. Immer wieder knallte es in der Statik, immer wieder gibt es Brüche. Bei Guy geht es prinzipiell um die Frage, wie viel Dynamik sprich Improvisation die Statik sprich Komposition eines Stückes aushalten kann.
Das knapp 40minütige Stück war eine Lehrstunde dafür, wie sich ein nomadisierender Gast in diesen lebendigen Strukturen bewegen kann. Nach der Pause dann Guys Evergreen Harmos mit Howard Riley am Piano, eine Referenz zum Aufbruch des Aufbruchs. Wenn 2008 ein Jazzfestival mit einem Stück von 1987 nochmals so exponiert wird, lässt sich das definitiv als Statement verstehen: kaum vorstellbar, wie sehr die Improv-Gemeinde damals die melodischen, hymnischen und rhythmischen Elemente verteufelte. Die Bühnenversion von 2008 akzentuierte sich als internationaler Meilensten, und spätestens beim Ansatz zum Schlußtutti war die Klasse des Gebotenen deutlich. Legendär auch Guys impulsives Dirigieren: sehr präsent und charismatisch.
Im vollen Haberhaus-Club war dann das Duo Wickihalder / Wiesendanger nach der barocken Fülle und Klasse mit seinem intimen und kompakten Spiel genau richtig. Wickihalder schreibt Standards von Heute, das ist gegenwärtig mitzuerleben, und beim Spiel hat er den Schalk faustdick hinter den Ohren. Klare Sternstunde, in der das letztlich erschienene Album in absolut traumwandlerischem Duospiel präsentiert und variiert wurde. Claudio Puntins Projekt Sepiasonic hingegen erstaunte, auch bei den Publikumsreaktionen: wie kann Poesie so stark polarisieren? Der lyrische, sehr fließende und anspruchvoll instrumentalisierte Pop-Jazz – u.a. sehr schöne Drums von Sam Rohrer – wurde vor allem wegen der eher im Pop- und spoken-word-Bereich gelagerten Stimme von Texterin Insa Rudolph kritisiert. Doch auch der homogene, nie wechselnde Gesamtklang, der zunächst entspannte, verlor sich alsbald ins Amorphe: keine Melodien, nur poetische Plateaus, zu wenig. Puntin mag ein guter Instrumentalist sein, die Arrangements dieser Musik indes konnten nicht überzeugen. Die Vorfreude auf ein avanciertes Konzert von Sylvie Courvoisiers Projekt Lonelyville indes wurde bald ernüchternd getrübt: nach einem unglaublich laschen Anfang – hier hätte es ein Alarmsignal gebraucht! – geriet das Quintett alsbald in eine unheilvolle Mischung aus energetischer Dichte und prätentiöser Zähigkeit. Grandiose Spitzenpassagen mit unglaublicher Dichte und Pointiertheit, in denen das Ensemble tight und fix vibrierte, wechselten mit quälend langatmigen Kammerpassagen, die vor allem durch Mark Feldmanns Violine bestimmt waren. Ikoe Moris Elektronik blieb – akustisch oft kaum hörbar – Zuckerguss. Es wurde zunehmend spannungsloser, fader und antiquierter, bestimmt 30 Leute gingen, zuviel, um diesen Abend als Spitzenwert durchgehen zu lassen. Obwohl der harte und begeisterte Fan-Kern blieb und Zugaben forderte, packte man vor dem Publikum die Instrumente ein – das wirkte unglaublich arrogant. Courvoisier, deren akzentuiertes ‚Tristano-Hammer’-Spiel äußerst mitreißen und begeistern kann, verspielte in Schaffhausen eindeutig Kredit – das war aus verschiedenen Gründen ein misslungenes Beispiel für die Akte ‚Jazz als neue Hochkultur’.
Der Rest vom Fest im Schweinsgalopp: Jürg Solothurnmann, Schweizer Jazz-John-Peel und unermüdlicher Aktivist, mit dem Quartett In Transit sehr gut, vor allem the one and only Dieter Ulrich on drums. Ein Bekenntnis zu freier Improvisation und Tradition, doch auch sie verlieren an Kraft, wenn die ruhigen Parts dominieren: zu nett, unakzentuiert, zu leise, ja still. Aber immer wieder freilyrische Passagen, die gut tun. Fanny Anderegg aus Biel spaltete erneut das Publikum: zunächst erfreute sie durch ihre unprätentiös erdig-spirituellen Songs, doch gelang es ihr nicht, den Gesamtauftritt anregend zu halten und zu gestalten, zu homogen auch hier der Gestus im Jazz-Pop-Vibe. Zu sehr atmete ihre Stimme noch Konservatoriumsluft, zu wenig zeigte sich Eigenwilligkeit. Musik und Stimme entspannten, machten aber auch zunehmend schläfrig: die Songs, deren Texte sie auf dem Jakobsweg schrieb, zeigten, dass lange Wege auch zu spannungslosen Durststrecken führen können – und Anderegg ist definitiv noch auf dem Weg. Nur ein starkes Stück, bei dem sie französische spoken-word-poetry auf dem Hangg, dem Schweizer Rhythmus-Wok, begleitete, ließ nochmals aufhorchen und Klasse ahnen, hier stieg auch die Band mit einem unkonventionelleren Klangszenario ein. Das Thomas Silvestri-Quintet gab dann endlich ein tightes Level: Trad-Jazz, aber federleicht, präzise und akzentuiert. Sie swingten so sehr, dass sie rockten: endlich mal auf die 12 und Musik zum genießen und Spaßhaben. Das riss mit: Publikumseuphorie, Rosenblätter auf der Bühne, und Michael Gassmann empfahl sich, ähnlich z.B. Franco Ambrosetti, einmal mehr als eines dieser schweizer Hi-Class-Trompeten-Asse mit fantastischem Spielfluss. Das langersehnte Hallo-Wach!
Zum selben Zeitpunkt begannen Leo Tardin feat. Mike Ladd im TabTap von Sekunde 1 an die Hütte abzufackeln. Les Mc Canns „Compared to what“ wurde sehr elektroid und kantig geschlachtet, und Tardin legte super virtuos mit Phillip-Glass-Grooves los. Dieser arschcoole rasante Wechsel zwischen Fuzz-Moog, Rhodes und E-Flügel war zwingend und intensiv, Ladd dazu mit rauhem Charisma von Schuhspitze bis zu seinem perfekt sitzendem 30-$-Anzug. Spitze, Tardin verlor aber am Samstag im Austausch mit dem westschweizer Remix- und Produzenten-As Quarion erheblich an Prägnanz und Klasse. Hellmüller’s 4 präsentierte eher sphärisch-flächigen Improv, klangdominiert durch die elektronische Effektgitarre von Franz Hellmüller. George Benson, Wes Motgomery oder doch Luzerner Saitenakzent? Technisch super, aber letztlich fehlte auch hier der originelle Moment, der beim Zuhören stutzen lässt und in Bann versetzt. Das Quartett war Beispiel für den derzeit oft hörbaren Pop-Jazz, der durchaus geeignet sein könnte, größere Publikumsschichten mit Jazz-Idiomen anzufixen: grundgute Grooves, Dynamik im Harald-Haerter-Stil, und gute gefühlvolle Momente ergaben aber sehr guten Response.
Colin Vallons Trio dann mit schönem facettenreichem Auftritt, Tempi- und Stimmungswechsel ließen jedem ihren Raum, plus Brel-Zugabe, sehr ruhig, gefühlvoll und intensiv: sie waren die Publikumslieblinge. Noch eine Zugabe, sperrig-kantig, schräg, schön kaputt und neben der Spur, hier blitzte originelle freigeistige Hoffnung auf. Zuletzt die große Hermeto-Pascal-Hommage vom Baseler Bass-Brasilianer Stephan Kurmann und seinen Strings. Sehr volle und opulente Orchestrierung (man beachte den programmatischen Bogen „Guy – Pascal“!), lebhafte Percussion, weicher traumhaft schöner Bläsersound unter den Akzenten von Adrian Mears’ Posaune und Andy Scherrers souveränem Sax. Tolle Arrangements, in denen jede Menge Improvisation möglich war – wofür Pascal bekannt ist –, aber Funkenfontänen sprühte dieser Schlusspunkt nicht unbedingt.
Himmelhochjauchzend, ganz schön langweilig – das war ein Grundgestus dieses Festivaljahrgangs. Wenige Musiker hielten ein durchgängig hohes Energie-Level. Die Frage stellte sich auch hier: ist Jazz die neue E-Musik? Immer mehr Bands und Projekte orientieren sich an klassischer Formalität – wenn nicht in Struktur und Material, dann doch im auratischen Gestus. Bei Guy überzeugte das definitiv, weil es den Rahmen antizipierte wie sprengte, andere Projekte hingegen verloren sich im Amorphen. Es geht hier nicht ums testosteronöse Power-Bratzen, aber ein gewisses energetisches Niveau könnte ja mal durchaus gehalten werden – geht’s darum nicht auch im Jazz? Auffallend jedoch in Schaffhausen erneut: das sehr konzentrierte Publikum voller Sympathie und Erwartung. Und sehr bemerkenswert vor allem die diesmal unglaublich starken, von Christian Rentsch programmierten Jazzgespräche: Diskussionen mit den legendären Festivalmachern Burkhard Hennen (Ex-Moers, jetzt OffsideOpen / Geldern), Nik Troxler (Willisau) und Urs Röllin (Schaffhausen) über Zustand und Zukunft von Festivals, die Ausbildungsmodi unter den neuen ‚getting into business’-Statuten oder wie viel Filz und Korruption im Jazz zu finden ist. Zwar zog der Jazzdiskurs mit dem Haberhaus in den Keller, aber hier konnten sich, ungestört von der Hitze des Tagesgeschäftes, die Köpfe kühlen, und stärker als je zuvor gingen die Diskussionen vom Podium – u.a. mit Lucas Niggli und Chris Wiesendanger – ins Publikum, wo sich Profis und Experten aus den verschiedensten Bereichen der Jazzkultur zu Wort meldeten. Bitte die Publikation nächstes Jahr beachten! Waren die Jazzgespräche am Ende gar besser als das Festival? Kann ja wohl nicht sein, dass der Diskurs besser ist als das Material, aber die Auslese Schaffhausen 2008 zeigte nicht immer Top-Qualität, sondern diverse Hänger und Einiges im Stadium der ersten Ausformulierung und Vorreife. Dafür aber ist die Schweizer Werkschau nach wie vor ein Garant: um zu präsentieren, was zukünftig möglich ist. Wenn das LJCO von hier aus wieder regelmäßig arbeiten würde, dann war Schaffhausen 2008 der Startpunkt – Respekt dafür! Sie haben definitiv das Zeug, die Hochkultur zu übernehmen. Fazit: eine Sensation von alten Haudegen, tolle Momente von den Jüngeren, aber wenig Beeindruckendes. Und: die Performances fehlten. Getting into Business ohne Charisma läuft nicht – und beim Jazz, wo Spielkönnen UND –witz so sehr wichtig sind wo selten sonst, erst recht nicht. Nächstes Jahr zum 20. müssen musikalisch und performativ deutlich einige Raketen mehr gezündet werden. Aber bis dahin fließt noch viel Wasser den Rheinfall hinunter …
(Jazzthetik)