Alles muss raus!

WAS GIBT’S N’ DA ZU GLOTZEN, SILBERLOCKE?

Für Ricardo Pizzuti

1. CRISIS? WHAT CRISIS?

IM GRABEN

Aufhänger für diese Betrachtung des aktuellen Systems Popmusik ist der Fund einer CD-R Ende 2004 im Strassengraben eines ländlichen Raumes. Auf der komplett hüllenlosen CD-R stand „Top 20“ und „28.01.04“ – das waren die einzigen Indizien. Lustig war vor allem der Gedanke, dass die CD möglicherweise noch abspielbar war, und da ich derzeit noch Material für ein DJ-Projekt sammelte, nahm ich sie mit, nicht wirklich vermutend, dass die Hardware dieses optisch derart heruntergerockte Speichermedium annehmen würde, doch sie tat es.

Und die Musik? Na ja, die war wie die da: billigster und ordinärster TeenKommerzTrash, und unter allem lag eine omnipräsente Gummibassdrum.

Ein hochamüsanter ultrabrutaler Kassiber anonymer massenmedialer Terrorzellen. Lauschen mit kuchentellergrossen Augen.

Fantastische Hörerlebnisse taten sich auf. Das war also der Schurkenstaat.

GUTER ONKEL POP UND SCHURKENPOP

Eine Popkultur, die etwas auf sich hält, braucht Identität, und dazu taugt, wie überall sonst in gesellschaftlichen Systemen, notfalls immer die Abgrenzung.

Einen solchen Popbegriff nenne ich den Guten Onkel Pop (Vrgl. hierzu Marcus Maida, YEAR OF THE BLUES – DAS MÄRCHEN VOM ONKEL POP, WOZ, Zürich, 4.12.2003). Gemeint ist damit ein herzallerliebster Märchenonkelpop mit goldenem Herzen, zugleich ein sagenumwobener subversiver Urpop, geschmackvoll, links, tapfer, clever und strategisch gewitzt, der die wirklich wichtigen gesellschaftspolitischen Themen erst in die Charts und dann in Hirne und Herzen des Publikums tragen wird, und mit dem man vor allem hyperaktiv zappelnde Hipster-Kindchen in dunklen sozialen Nächten beruhigen kann. Geschmack wird schnell geschmäcklerisch: der gute Onkel Pop ist vor allem ein Geschmacks- und Stilpop, und er braucht natürlich einen Feind – hier ist ja schliesslich Comic -, und der ist auch schnell ausgemacht: es ist das böse Feindsystem des Kommerzpop, Superstar- und Castingpop – das ist der böse Onkel Pop, der Schurkenpop, den wir, die geschmackvollen Freunde des guten Onkel Pop, nicht haben wollen. Doch warum wird dieser böse Onkel Pop immer so wie der Teufel an die Wand gemalt?

Es ist ganz einfach, doch können die meisten Geschmackshipster es schwerlich sehen: der gute Onkel braucht den bösen Onkel, damit er der Gute ist.

Offiziell sagt er, der Schurkenpop ist wie die Hölle, aber in Wirklichkeit braucht er die Hölle wie der Himmel sie braucht, damit er überhaupt Himmel sein kann.

ICH VERMISS’ DICH WIE DIE HÖLLE

Die identitätsstiftenden Kräfte des guten Onkel Pop brauchen nicht nur ein Feindbild, sie verschärfen ihrerseits die Konturen des bösen-Onkel-Schurkenpop geradezu noch, da sie diesen stets selbst neu skizzieren und ihn als Negativfolie geradezu benötigen, um sich z.B. in Phasen der eigenen substanziellen Schwächung oder des Niedergangs ihres gesellschaftlichen Wirkungsszenarios neu über ihn formieren, definieren und profilieren zu können. Damit können sie sich letztlich selbst wieder ins Spiel der kulturellen Definitions- und Distinktionskämpfe bringen.

Ein struktureller Vergleich aus der Politik möge dies verdeutlichen: ein hegemonial agierender Nationalstaat wie die USA braucht das Fantasma von terroristischen Schurkenstaaten geradezu, um sich als souveräne und moralisch überlegene Macht mit dem Recht zur Machtausübung darzustellen und erhalten zu können. Rückübertragen auf das Feld der Kultur bedeutet dies: der im ästhetischen Diskurs in Bedrängnis geratene gute Onkel Pop gerät in eine Legitimationskrise und braucht demnach geradezu die Negativprojektion einer künstlich-oberflächlichen „Superstar“ Pop-Kultur, um sich im Feld der Kultur überhaupt noch hegemoniale Ansprüche und eine Definitionsmacht sichern zu können, genau wie das Zeitungsfeuilleton geradezu die Pop- und TV-Kultur braucht, um sich als intellektuellen Kommentator der Wort- und Lesekultur selbst noch Ansprüche von Definitionsmacht im kulturellen Feld zu sichern.

In den letzten Jahren war in vielen Kulturmedien ein häufiges Lamento über die Krise der Musikindustrie zu finden. Neben dem „Poptod durch Download“, also den technischen Strukturveränderungen, wurde auch immer wieder der massive Qualitätsverlust durch schlechten Kommerzpop beklagt. Und immer wieder machte dabei die Mär von einem sagenumwobenem gutem ‚Nicht-Einverstanden’, ‚Herrlich-Kunstvollen’ oder ‚Total-Aufregend’-Pop die Runde, um die vermeintlichen Gegenmodelle ins Spiel und in die Diskussion zu bringen. Kann dieser Märchenonkelpop uns denn vor einer Krise bewahren?

Krise? Was für eine Krise? Abgesehen davon, dass in modernen Gesellschaften Krisen in der Regel keine Ausnahmeformen, sondern vielmehr die Regeln sind, nach denen sie sich neu formieren, ist das Popmusiksystem, dessen struktureller und qualitativer Niedergang gerade bejammert wird, und die generelle Popmisere, über die derzeit so gerne theoretisiert wird, in der Regel nichts weiter als hochtraditionelle kulturindustrielle Selbstmitleids- und Profilierungsfolklore, denn: Fluktuationen von Bubblegum- oder Trash-Pop gab es immer schon, auch und gerade in den sogenannten ‚klassischen’ Zeiten der Pop- und Rockmusik der 50er und 60er und 70er Jahre, und heute wird dieser Trash-Pop, natürlich, entstaubt und kultisch verehrt. Paul Anka, Phil Spector – damals verlachter Producer-Nerd, heute im Pop-Olymp – , die Monkees, Sonny und Cher, Motown – das damals als trashige Hitmaschine galt, absolut künstlich und unauthentisch! – , Glam-Rock – der seinerzeit als definitiv nicht ernstzunehmende Teenagermusik abgetan wurde, auf die von Prog- und HardrockFans mit Verachtung herabgesehen wurde – , Disco, die Sex Pistols – die erste wunderbar gecastete Boygroup des PunkRock – oder Italo-Disco – damals als billiges Grossraumdiscoschnellfutter verpönt, geniesst Italo heute Kultstatus -, werden immer noch geschätzt und geliebt, und auch DJ Bobo wird eines Tages, und sei es bei der Seniorengymnastik, sein berechtigtes Revival erfahren. Und ob sich pickelige Kinns bei den No Angels oder den Sportfreunden Stiller näher kommen, ist schon mal völlig egal. Punkt aus, vorbei. Guter Onkel Pop, geh doch nach Hause, furz ins Sofa.

HALLO! GEHT’S NOCH?

Und doch kratzen sich viele Kinder des guten Onkel Pop manisch am Hintern und sind sich sicher: irgendwo ist ein Fehler im System, es ist „nicht mehr so wie früher“! Jüngstes Indiz: die Substitution von klassischen Popmusikformaten wie Videos im TV durch neue popkulturelle Formate wie MTV’s ‚Dismissed’, Reality- und Doku-Shows oder Animes. Man schlug mir vor, dieses Thema als einen möglichen Aufhänger für die Misere im System Pop zu nehmen – aber ist es überhaupt Ausdruck einer aktuellen Misere? Gab es das nicht früher schon – medienarchäologische „Grabungen“ in historischen Kulturkanälen können schnell belegen, dass es früher schon Kommerzformate gab, die, wie heute die Reality- und Fun-Formate, Ausdruck eines kulturellen Niedergangs sein sollen -, und ist, wenn man denn so fix an die Substanz von Pop will, Pop als System nicht die Misere selbst? Das heisst: trägt Pop als System nicht die Voraussetzungen für seine eigene stetige ästhetische Überwindung in sich? Und sind diese Überwindungen nicht Ausdruck distinktineller Geschmacks- und Stilhegemonien, die das Feld des Sozialen auf kultureller Ebene symbolisieren?

Musik als solche ist im Musikfernsehen komplett marginalisiert, und die letzten Indie-Schrebergärten verschwinden gerade vollends aus dem TV. Und das Publikum wehrt sich nicht, und es grenzt sich auch nicht dagegen ab.

Meine Frage ist: Warum sollte es auch?

Vielleicht ist dem grossen Publikum Popmusik einfach egal geworden? Vielleicht praktiziert es einfach schon längst jene goldene Indifferenz, welche die professionellen KritikerInnen und InterpretInnen gegenüber ihrem Medium nie hatten und die sie vielleicht endlich gegenüber dem System Pop bekommen sollten? Vielleicht rezipiert der Grossteil des Publikums Popmusik in seinem Lebensalltag eben als etwas beiläufig-selbstverständliches und alltäglich-marginales – und ist in diesem Sinne dem Lebensgefühl von Pop viel näher als die professionellen KritikerInnen und InterpretInnen, die sich tagein tagaus manisch mit Popmusik beschäftigen und deren Horizont dementsprechend eher eingeengt als erweitert erscheint. Gerade letztere Klientel nämlich überidentifiziert sich derart oft mit Pop, dass bestimmte Äusserungen nahezu als zwanghaft pathologische Überhöhung des Gesamtsystems Pop erscheinen. Das sieht dann zuweilen so aus, also ob Pop-Missionare mit ihrem Glaubensbekenntnis permanent hausieren gehen und überall Häuser einrennen wollen, deren Türen schon seit urlanger Zeit offen stehen. Man möchte diese Leute immer wieder antippen und aufwecken: „Hallo! Geht’s noch?“ In bestimmten Lebenskontexten wird Pop als Identitäts- und Lebensform immer noch hemmungslos überschätzt und diskursiv überfrachtet, wo Pop in anderen Kontexten einfach alltäglicher und beiläufiger Teil des Lebenssystems geworden ist.

GLOTZE AUS!

Warum MTVIVA derzeit so viel Popmusik aus seinem Programm kickt, ist nicht so schwer zu begreifen: im unteren Pleistozän der Popkultur, also den frühen achtziger Jahren, waren Musikvideos noch internationale Stil- und Geschmacksbotschaften, die Pop-Jünger, stets süchtig nach dem neuesten Stuff, heiss erwarteten. Heute weiss jede Grossmutter, wie ein HipHopper rumlaufen muss, und es wird im TV einfach nichts mehr übertragen, was man nicht eh schon im Alltag wüsste. Die bittere Pille für das Popsystem ist demzufolge: Popmusik taugt für ein grosses Publikum einfach nicht mehr explizit zur Unterhaltung, sie wird einem überall vorgesetzt, und ist in dieser medialen Form der Inflation einfach langweilig und wertlos geworden, da sind die Reality-Formate, die sich innerhalb von ein paar Jahren irrsinnig ausdifferenziert haben und die noch längst nicht ausgereizt sind, einfach viel spannender. Der andere Grund liegt im Internet: hier liegt eine strukturelle Zukunft, und hier wird wahrscheinlich auch „Musikfernsehen“ zukünftig stattfinden: jederzeit, unzensiert, ohne lästige klugschwätzende Moderatoren, ohne altkluge Geschmacksauswahl, dazu jedes Genre, an jedem Ort der Welt, und zudem noch völlig diskret abrufbar. Der schleichende Verlust des Popmusikvideos wird – logisch – gleich retrospektiv mythisiert, wie z.B. 2004 in der Düsseldorfer Ausstellung „look at me. 25 Jahre Videoästhetik“, in der dem Musikvideo prompt ein auratischer Guter-Onkel-Pop-Raum geschaffen wurde. Pop und Popkultur erschienen hier als eine zeitgemäße Transformation bürgerlicher E-Kultur, die via Musikvideo ihre Meisterwerker wie Cunningham oder Jonze hervorbringt. Die Ausstellung führte die „Creme de la Creme“ der Videokultur vor und erzählt die Mär vom guten, wahren und schönen Video, wo doch gerade das kommerzielle TV, und besonders das Musik-TV, das entschiedene Gegenteil darstellte: es sendete in der Regel kommerziellen Trash. Wo sollten also die handverlesenen Pop-Meisterwerke gezeigt werden? Richtig, im Museum. Dabei wäre es viel aufschlussreicher und interessanter gewesen, eben im Museum den ausgesuchten und pointiert aufbereiteten kommerziellen Trash der Hochzeit der Musikvideokultur auszustellen, um eine gutgelaunte und radikale Rezeptionsanalyse zu ermöglichen. Denn die MTVIVA-Kultur und darüber hinaus die gesamte Kommerzpopkultur als ignorierungswürdigen Trash abzutun ist einfach zu einfach.

POP VS. POPPOP

Und warum „wehrt“ sich das Publikum nicht gegen „Retorten-Pop“? Ziemlich einfach: weil es ihn will. Weil es ihn wirklich wirklich will. No Angels, Bro’Sis und Overground sind zumindest Namen, die immer noch klingen. Nu Pagadi, die Sieger der vierten „Popstars“-Staffel auf Pro Sieben, die sich im Casting gegen immerhin mehr als 6000 Bewerber durchsetzen mussten, kamen mit ihrer Debutsingle „Sweetest Poison“ Anfang 2005 aus dem Stand auf die Nummer Eins der hiesigen Single-Charts. MEINE DAMEN UND HERREN, krächzt der entsetzte Geschmacks-Reporter auf der Tribüne: IST DAS NOCH POP? Es ist nicht verkehrt und auch nicht hilflosem Populismus geschuldet, wenn man feststellt, dass das derzeitige Poppublikum den Casting-Pop einfach als ganz normalen Pop akzeptiert. Nur haben die Fans des ‚guten und wahren’ Pop das leider immer noch nicht wirklich mitbekommen und versuchen den Leuten mit ihrem guten Märchenonkel Geschmackspop Geschichten zu erzählen, sich aber gleichzeitig damit vom grossen Publikum zu distinktionieren und darüber eine Identität aufzubauen. Doch ist der Geschmackspop überhaupt noch ein Pop im Sinne einer semantischer Herkunft von „populär“, oder ist er nicht vielmehr eher ein diskursgeprägter Kunstpop, der früher teilweise einmal als Second-Order-Pop bezeichnet wurde? Pop hat den generellen semantischen Bezug zu „populär“ in vielen seiner Wirkungsbereiche verloren und sich in unzählige Mikro- und Sub-Pop-Arten und Szenen aufgesplittet, die sich teilweise untereinander gar nicht mehr wahrnehmen – hier, und nur hier in diesem engem Wirkungskreis, ist dieser Pop noch populär. Es gibt darin Popversionen, die derart betont undergroundig oder von einem elitistisch-geschmäcklerischem Bewusstsein geprägt sind, dass man sie nur mit viel gutem Willen als annähernd populär im ursprünglichem Sinne bezeichnen kann. Eher bedienen sie eine Zielgruppe, die sich mit ihrem Popverständnis oft in einem sehr traditionellem Sinne als Avantgarde versteht. Als kulturwissenschaftliche Bezeichnung für diese Art von Pop schlage ich nun aber nicht etwa „Avantgardepop“ vor – der Begriff der Avantgarde ist, samt der damit verbundenen Zwanghaftigkeit zur Progression und Innovation in ästhetischen Systemen, die sich (generell, und nicht erst seit heute) häufig durch die Oszillation von Kategorien zwischen Retrospektive und futuristischer Progression charakterisieren – selbst fragwürdig geworden, sondern vielmehr den Begriff des „ZIELGRUPPENPOP“ vor, als grundlegende ästhetische Kategorie hingegen den Begriff „POPPOP“, was einen Zustand von Verdoppelung und Überhöhung mit Bezugnahme auf die beim Prozess der Distinktion neu entstehenden semantischen Differenz bezeichnet, die gleich wieder in das ästhetische System des PopPop eingespeist wird.

Diese Verdoppelung im Bereich des Pop ist nichts neues, neu ist nur die explizit notwendig gewordene kategoriale Differenzierung verschiedener Begriffe im Makrosystem Pop. Als kulturgeschichtlich adäquates zeitgenössisches Phänomen kann die seit jüngster Zeit existierende Kategorie des „live-live“ bei TV-Übertragungen gelten. Der US-Fernsehsender CBS hatte im Frühjahr 2004 die Übertragung der Grammy-Verleihung erstmals mit einer Zeitdifferenz von fünf Minuten gesendet, weitere Sender folgten dem Beispiel und sendeten die „ursprünglichen“ Live-Sendungen jeweils mit einiger, meist nur fünf Sekunden dauernder Verzögerung, um auf unvorhergesehene Zwischenfälle (Janet Jacksons ‚Nipplegate’ mit Justin Timberlake oder Michael Moores Tirade gegen Bush bei der Oscar-Verleihung sind hierfür Beispiele) reagieren zu können. Übertragen auf unser Phänomen meint dies: der PopPop ist nicht mehr das, als was er – wie eine Live-Übertragung – möglicherweise ursprünglich gemeint war, ein populärer verbindender oder repräsentativer Gemeinplatz, sondern eine bewusst eingebrachte Verzögerung, in der sich ein distinktioneller Diskurs entwickeln kann. Ein Bruch, der ein institutionalisiertes – und logischerweise auch gegenkulturelles – Kontrolldispositiv meint. Dieses Dispositiv entwickelt sich sowohl auf der Seite der Macht als auch der sogenannten Gegenmacht, es ist strukturell indifferent.

Diese Prozesse werden in Zukunft möglicherweise noch kontrollierter, perfektionierter und technisierter auftreten als bislang. Die letzte Popmusikkultur, die sich noch zunächst einigermassen unbeobachtet und nahezu ‚authentisch’ entwickeln konnte – inklusive Underground, Subkultur und Diskursen -, war Techno und die darauf folgende elektronische Ausdifferenzierung. Derzeit erleben wir eine hysterische Beobachtung und Exploration jeglicher Phänomene des Underground (bzw. des medienkulturellen Vakuums davon, da aktuell de facto kein Underground existiert, sondern nur sein ‚Void’, ein leeres Lücken- und Wunschbild davon), eine messianische Erwartung des Undergrounds als erlösender Erscheinung oder den Versuch einer künstlichen Prä-Installation von Underground inklusive kontrollierter Ausleuchtung und Fütterung mit der aberwitzigen Hoffnung auf Wachstum und Authentizität, also der Versuch von Schaffung eines Undergrounds unter (sub)kulturindustriellen Laborbedingungen. Wie auch immer sich die Geschichte der Popkultur und ihrer Subkulturen weiterentwickeln wird: selbst potenzielle Versuche, der Institutionalisierung, der Kontrolle und der Perfektionierung zu entgehen, sind zum Scheitern verurteilt. Varianten, dagegen anzugehen, liegen möglicherweise in einer ultraintensiven Steigerung des Transgressionspotenzials des Systems Pop auf den Bereich von Leben und Alltag, und zwar stärker und offensiver, als dies die perfektionierten Pop- und Subkultursysteme mit ihren klar codierten Imagekonstruktionen derzeit ermöglichen. Denkbar sind hier z.B. Subsysteme und partikulare Szenen, die sich nicht auf die vereinsmässige und brave, also passive und auf Distinktionsgeschmack gegründete Rezeption von Popmusik und Mode beschränken, sondern offensiv und direkt, mitunter aggressiv auf die Umwelt und den tatsächlichen Alltag einwirken, und dies in einer Weise, welche traditionelle Devianzpopkulturen wie Rocker, Mods und Punks, die stark von einer historischen subkulturellen Mythologie zehren und zudem hauptsächlich in ihrem selbstgeschaffenem Subkulturrahmen agierten, wie familiäre Vereinsmeier, popspiessige Rebellionsträumer und verirrte Wohlstandskinderschäfchen aussehen lassen. Punk war diesbezüglich wahrscheinlich die letzte Devianzkultur der Popkultur, die sich auch in das alltägliche Strassenbild des gesellschaftlichen Alltags bewegte und dementsprechend als Bedrohung empfunden wurde. Ich möchte diesen Punkt hier, auch wenn er sehr spannend ist, nicht weiter ausführen, da er Teil einer eigenen Betrachtung, nämlich der nach dem derzeit möglichen tatsächlichen Wirkungspotenzial von Popkultur als einer Devianzkultur ist. Dieser Punkt ist auch keinstenfalls Teil einer teleologischen Utopie der Popkultur als Devianzkultur (If the Kids are united und die Folgen), sondern Teil einer spekulativen Phänomenologie. Und diese ist hier in vieler Hinsicht noch Zukunftsmusik. Bleiben wir hier zunächst auf dem Boden der Jetztzeit.

Früher verwendete ich eine einfache Formel für den Pop-Diskurs, nämlich die des Differenzwertes der Strukturtautologie: Gleiches wird durch Ähnliches ersetzt, die dabei entstehende Differenz wird hochgepumpt, dieser dabei entstehende physikalisch-spirituelle Restwert – das ist der Pop-Diskurs. Heute erscheint das mediale Paradigma der verzögerten Verdoppelung adäquater für die Beschreibung des Prozesses. Die Verzögerung, die das System PopPop selber einbringt, besagt: „Nä, so wollen wir es nicht, wir machen unseren eigene Pop.“ Das System des PopPop nennt das auch oft: selber die Kontrolle behalten. PopPop speist sich oft aus Wissen um Popgeschichte, Zitatwissen, Fanwissen, retrospektiven Betrachtungen, auch politischen Projektionen und Zusammenhängen – alles interessante Dinge für Fachleute, aber für den normalen Popgebrauch durch das grosse Publikum in der Regel komplett uninteressant. Früher wurde der PopPop immer als Zubringer für die grosse Mainstreampopindustrie angesehen, aber nun setzen immer mehr Prozesse ein, die eine Umwertung der Bewertungen geradezu verlangen: Pop ist dementsprechend universalistisch, 1:1, direkt, jetzt, PopPop dagegen ist differenzierend, langsam, historisch, bewahrend, traditionell. Pop ist die Apotheose der Indifferenz, PopPop die Apotheose des Geschmäcklerischen. Pop ist Identitätsflucht, PopPop ist Identitätssuche. Pop ist zeitgenössisch und aktuell, PopPop ist Kunst.

ENDE DES ENDES

Wir haben gesehen, wie sehr sich der Begriff der Krise im Pop relativieren lässt. Wie und nach welchen Voraussetzungen lässt sich dann neben ökonomischen Einbrüchen und Verschiebungen der strukturellen Rahmenbedingungen im System Pop überhaupt noch eine Misere diagnostizieren? Von den internen Werten her? Ist da etwa was verschimmelt? Lebt denn dr alte Pop noch?

HeyHo, Pop ist mal wieder angeblich tot, und davon leben immer noch eine ganze Menge Leute, zumindest in Feuilleton, Theoriezines und Diskussionspanels. Wäre es da nicht konsequenter, endlich den Tod des Todes oder das Ende des Endes zu prognostizieren?

Was ist tot? Das, was sich nicht mehr bewegt, gleich, ob materiell oder spirituell – aber bei Pop bewegt sich immer noch eine ganze Menge. Diagnose: Lebt noch.

Aber was ist Pop noch mal?

Pop ist ein wirtschaftliches Exportgut, Pop ist ein Kulturparadigma, Pop ist eine massenkulturell basierte soziale Stildistinktionsmaschine, Pop ist ein globaler Transmitter von Gefühlen und Gedanken, und seine Sprache ist, mit allen damit verbundenen Vor- und Nachteilen, in der Regel universalisiert und klischeeisiert. Und Pop, und hierbei meinen wir natürlich auch und gerade den guten Onkel Pop, ist nicht zuletzt immer noch eine Projektionsmaschine. Blut, Schweiss und Tränen kleben daran bzw. werden damit produziert, und ob analog oder digital, ist total egal. Pop hat sich als kulturgesellschaftliches System im makrokulturellem System längst durchgesetzt, Pop ist omnipräsent, strukturell über- und doch gleichsam semantisch unterdefiniert.

Man muss Pop heute gar nicht mehr suchen, man bekommt ihn vielmehr permanent vorgesetzt, und man muss Pop auch nicht mehr verteidigen, ausser vor dem notorisch-missionarischen Popverteidiger- und Pop-Projektionspack, das in Pop immer noch Heilsbringerqualitäten projeziert wie es die Bourgeoisie einst auch mit ihrem Kunstbegriff tat. Von anderen Kultursystemen erwartet man auch nicht mehr die Rettung der Welt, von Filmen z.B., aber klar, man freut sich über gute Filme, oder über Bücher, die gibt’s ja auch noch. Aber in keines dieser kulturellen Speicher- und Ausdruckssysteme wird im strukturellen Zusammenhang eine derartige latente kulturelle Teleologie wie in Pop projeziert. Pop erscheint, wie einst die bürgerliche Kunst, in bestimmten Zusammenhängen immer noch wie eine schlecht sublimierte säkularisierte Religion, und ist ebenso ranzig geworden. Pop ist auch nach all dem theoretischen Lärmmachen und Pfannen über dem Kopp zusammenschlagen durch die Pubertät gegangen und in der Gesellschaft komplett angekommen und auf öde Weise erwachsen geworden, d.h., Pop ist ein ernstzunehmendes kulturelles Paradigma geworden, und d.h. nicht zuletzt, dass dieses ästhetische System durch ein jüngeres, flexibleres, überraschenderes, spannenderes und denk dir selbst was aus definitiv zum Abschuss freigegeben ist.

Derzeit ist Pop aber noch alive and kicking. Wie lange noch?

POP KILLS…KILL POP?

Alle glauben zu wissen, was Pop ist: ein System, eine Struktur, ein Prinzip. Eine Religion. Ein Alltag.

Pop ist geiler Alltag. Pop ist öder Alltag. Pop ist Abendkleid. Pop ist Lederhose. Pop ist Gardine. Pop ist Wolldecke. Pop ist Hoffnung. Pop ist Erlösung.

Pop ist ein Schmerz im Hintern.

Und Pop tötet.

Wieso tötet Pop?

Was genau tötet Pop denn?

Und wie tötet Pop überhaupt?

Pop tötet zum Beispiel: die Möglichkeit, das ganze System, aus dem es als repräsentatives Sub-System mit letztlich jedoch stets selbstreferentiellen Funktionsmechanismen konstruiert ist, AN SICH abzulehnen.

Denn: wir sind ja alle seine Kinder. So die Mär.

Wir sind von Anfang an involviert. Pop ist unsere Muttermilch.

Pop ist ein Virus. Und wir sind seine Virus-Kinder. Und dafür infizieren wir ALLES, aber auch wirklich JEDEN SCHEISS, mit Pop. Ein Virus dringt in die Zellen der Wirtszelle ein und zwingt diese, noch mehr Viren zu produzieren. Das Immunsystem reagiert sofort: Die Schleimhaut wird verstärkt durchblutet und schwillt dadurch an. Die Kulturdiskurse blähen sich immer weiter auf und setzen die Infektion fort, es kommt zu Husten- und Niesanfällen und flächendeckenden Epidemien. Eine Diskussion – nicht funky genug. Sofort: nen Beat drunterlegen. Geht doch. Argumente – nicht sexy genug, zünden einfach nicht, Alder, geht nu echt gar nicht – Slogan draus machen, Cut and paste, immer wiederholen – aufatmen! Ich dachte schon, ich müsste das hier ernsthaft ausführen! Lieber wieder’n Lockerspruch machen. DidlDudlDaddl. Konkrete Probleme in einem realem Land – kein Problem, Alde, Fäuste recken und wie’n Gummiball rumspringen, wir müssen nur wollen. Yes, Popzitate, Digger! Gehen immer. Stehen die Leute drauf, immer und überall, hab ich selbst erfahren.

Langweilige soziale Sachfragen, wollnwa nich, ergo Hedo-Locker-Track bastln, dazu auf Hipster Parties verkniffen zu rumspringen. Rummtatummta.

Geht doch alles.

Pop ist die universelle Scheinantwort.

Nicht Love, sondern Pop is the answer.

Was war nochmal die Frage?

Pop kills…kill pop?

Äh…sollen wir?

Wollen wir?

Können wir?

Wie soll’n das gehen? Pop töten, also echt, völlig unmöglich, können wir uns ja gleich selbst umbringen. – Vielleicht was rauskicken und was anderes reinnehmen? – Amputieren meinst du? – Worum geht’s denn hier überhaupt? – Wertungen, Projektionen, Kulturdistinktionen, Verkäufe… – Hilfeeeeeee, zu komplex…es geht doch nur um die Musiiiiiiik! – Doch da kommt unser Maskottchen und Hilfs-Teddybär um die Ecke: der gute Onkel Pop.

Onkel, hilf uns!

SOLO FÜR ONKEL

Setz dich, Onkel, rauch dir eins. Was genau bist’n Du?

Auf jedenfall nicht Pop.

Wie, du bist nicht Pop?

Pop ist doch populär. Ich bin Besserwisser, Connaisseur, Geniesser, Feinverköstiger, Geschmacksfaschist, Stil-Eliten-Zicker, Polit-Popper, Kunst-Fuzzi – aber ganz bestimmt nicht Pop.

Ey, was bist’n Du für’n komischer Onkel? – Bist nicht einer von uns? – Verpiss dich, Onkel! – Ja, genau, hau ab! – Wir sind anders als Du! – Alter Sack!

Eine Hauptthese dieses Textes, der weniger das strukturelle „Aussensystem“ des Pop als vielmehr die psychologische Interaktionsstruktur seiner Protagonisten im Auge hat, bezüglich der apostrophierten ‚Krise des Systems Pop’ ist:

Die gegenwärtige ‚Misere’ kommt, wenn man überhaupt eine konstatieren mag, nicht von Aussen, sie kommt von Innen. Beim aktuellen Diskurs über Pop geht es extrem häufig um Wertungen und Geschmackshintergründe, die gar nicht mehr reflektiert und hinterfragt werden. Der „alten“ bourgeoisen E-Kultur wurde dies immer wieder aus den Reihen der Popverteidiger vorgeworfen, und nun verhalten sie sich, mit ihrer Kultur in die Jahre gekommen, um keinen Deut besser. Viele Kinder des guten Onkel Pop sind emotional noch viel zu sehr involviert in dieses System, das sie sich einst noch mühevoll zusammenträumen und -puzzeln mussten, wo es aktuell den Kindern verpasst wird wie die Muttermilch. Diese identitätsstiftende Prägung ihrer Biografie macht einen grossen Teil der psychologischen Mechanik von PopPop aus: weil sie sich den guten Pop erst erschaffen und erarbeiten mussten, meinen heute viele PopPopster, sie hätten auch den Definitionsanspruch darauf, was guter und schlechter Pop ist. Die Kinder des guten Onkel Pop sind oft viel zu sehr emotionalisierte Fans und mussten sich für ihre Popsozialisation teilweise sogar noch engagieren. Pop war bisweilen derart intensiver Teil ihrer pubertären Identität, dass es schwer für sie ist, ein normales und entspanntes Verhältnis dazu zu gewinnen. Die generelle Identitätsstiftung durch Pop wird heute immer beiläufiger, nicht unbedingt marginaler, aber sie ist nicht mehr mit derart vielen gesellschaftlichen Projektionen verbunden und aufgeladen. Dies ist einfach eine Entwicklung, die faktisch zu beobachten ist und die bereits seit einiger Zeit andauert. Dies lässt sich sagen, da Pop heute auf dem Zenith seiner strukturellen Sichtbarkeit steht, die inhaltliche Rückbindung aber zunehmend indifferenter wird. So wollen wir, bevor Pop als grosser sozialer Lebensentwurf möglicherweise in naher Zukunft von der gesellschaftlichen Landkarte verschwinden wird, noch einmal einen kurzen Blick auf seine psychologische Mechanik werfen.

2. FANS UND GUTFINDER

VICTIMS OF CIRCUMSTANCES

Pop ist geil, Pop ist super, Pop hat mich gerettet.“ So jubelten noch vor einigen Jahren Pop-Literätchen und bereits ranzig gewordene Opinionleader, die man früher vielleicht sogar Intellektuelle genannt hätte. Heute können wir jederzeit entspannt und nur noch leicht genervt antworten: „Ist ja gut, Herzchen, aber können wir jetzt mal weitermachen?“ Ein Bekenntnis zu Pop ist heute ungefähr so aufregend und funky wie Supermarktbeilagen in Tageszeitungen. Eine Pop-Sozialisation ist kulturelle Raumbasis Alpha für die meisten der Gesamtbevölkerung, ist klar, aber was machen wir SpezialistInnen denn nun in deep Space? Neue Erkundungen, neue Eroberungen, oder die Aliens (mit den Arschgeweihen) missionieren?

Diese Identifikation und Überidentifikation mit dem System guter Onkel Pop ist schon bemerkenswert. Erstere führt naturgemäss dazu, dass alles, was aus dem System Pop kommt, erst einmal gutgefunden wird. Zweiteres führt zu einem sehr hartem kulturellem Phänomen: dem Fan-Tum. Hier wird’s schon mal gerne etwas hysterischer. Die Grenzen zwischen Gutfindern und Fans lösen sich bisweilen auf, die Hybris, die hierbei herauskommt, wollen wir, die wir logisch selber Pop-sozialisiert sind‚ ‚Pop-Opfer’ nennen.

Wir halten noch mal fest: Pop ist ok. Was nervt, ist die dazugehörige Projektionsmaschine. Sie ist aber nun mal funktionaler Teil der Kulturindustrie. Sie füttert den leeren Zwischenraum, den Void des puren Produktausstosses, die Differenz, die beim Pop entsteht, stetig mit Images, Projektionen und Diskursen. Gutfinder und Fans sind die potenziellen Opfer für diese Tätigkeit, sie sind die Mechaniker der Kultur- und Subkulturindustrie.

Nochmal für alle: Pop ist toll. Na klar. Schlürf.

Schön und konsequent wäre aber: Pop einfach feiern, einfach weitermachen mit den wirklich wichtigen Dingen. Geht aber nicht. Haben wir schon zuviel Tränen für vergossen, haben wir schon zuviel Bewusstsein für. Ist wie eine grosse Tarnkappe für uns. Müssen wir also was drunterstülpen. Am besten ein Makrosystem: Pop für alle! Ist doch schwer sozial, Alter! Moment mal: handelt Pop nicht vor allem davon, dieses Bewusstsein, nämlich das des Alltags, den eigenen Knast der Ich-Denke, zu überschreiten und in Momenten der Euphorie, am besten kollektiver Art, zu sprengen, was uns dann, weil es doch so schön sozial und mit vielen ist und wir zudem oft dazu noch betrunken oder bedrogt sind, mindestens politisch, wenn nicht gar gleich weltrevolutionär vorkommt? Ja, das ist so.

Und ein drittes Mal für alle: Pop ist toll. Na klar. Schlürf. Spuck.

Geht so.

WO DIE SATURIERTEN WOHNEN

Hinter den Bergen, bei den 7 Zwergen? Pustekuchen – mitten unter uns! Sind wir sie nicht selbst? Woher kommt eigentlich dieses maschinenmässige Gutfinden von popkulturellen Prozessen in Fernsehen und Feuilleton, warum regt sich eigentlich gar keine Art von Widerspruch mehr gegen dieses System, und wenn dieser auch nur in einer simplen Funktionsanalyse begründet liegt? Das implizite Fehlen von Kritik bezüglich des Systems von Pop rührt daher, dass Pop mittlerweile Pendant zur bürgerlichen Hochkultur geworden ist und im Begriff ist, diese teilweise zu substituieren, übrigens – und diesen Analyseansatz leiste ich hier aus Platzgründen nicht mehr – mit dem Vokabular und den ästhetischen Strukturen der bürgerlichen Hochkultur. Die saturierten Schichten haben hier also ihr Kulturparadigma gefunden, in welchem sie sich erneut elitistisch profilieren (PopPop). Der andere Punkt ist, dass sich die Opinionleader des Pop natürlich selbst im Feld von Pop verorten: hier kommen wir her, hier kennen wir uns aus (Bisweilen bedeutet das leider: und nur hier). Zwar stilisieren sie sich in diesem Feld zu aufgeschlossenen und aufgeklärten Nomaden, können dem Pop-Virus aber logischerweise nicht mehr entkommen und lassen daher keinerlei grundsätzliche Kritik mehr zu. Dabei ist Pop kein Ghetto – diese Metapher ist veraltet -, Pop hat sich vielmehr zu einer Art Computerspiel entwickelt. Das so real gestaltet ist, dass die Surrogate als solche nicht mehr erkennbar sind und viele naturgemäss anfangen, sie lieben zu lernen. Und die Symbole im Endeffekt für real halten. Und dann anfangen, darüber zu diskutieren. Alles Prozesse, die beim Kommerzpopsystem kritisiert werden, beim Geschmackspopsystem aber nicht gelten sollen. Wir wollen unsere Pop-Sozialisation und Pop-Sucht nicht reflektieren wie einst die Bürger, die ihre Hochkultur-Vorurteile auch nicht reflektieren wollten.

ALLE WISSEN ALLES

Vieles und Entscheidendes im System Pop drehte sich seit jeher um Stil und Geschmack. Heute jedoch ist dies sowohl ein Zeichen für die absolute und definitive Hilflosigkeit und Verlorenheit von Pop, wie auch für seine unendliche Ausdifferenzierungs- und Retrospirale und die damit verbundene Langeweile. Geschmack und Stil sind mittlerweile das Letzte. Gerade Stil ist wirklich die Kategorie der Ekelhaften geworden, das Metier der Halblebemenschen und Grandezza-Schweinchen. Die Kategorie Stil ist im Pop strategisch absolut sinnlos und hinfällig geworden. Doch gerade in PopPop-Land wissen alle alles und alle sind wissende Stil-Terroristen. Alle sind derartige Gruppen-Individualisten, das jedes Individuum sich vom anderen zu unterscheiden wünscht, denn nur das macht heute noch Individualität aus. Popmusik ist nicht mehr als ein Rohstoff für das postmoderne Ego-Building, und je mehr Ego jemand hat, desto wichtiger ist Pop für ihn. Letztens auf einer Party war das sehr schön zu sehen. Auf einer Party sind ja mittlerweile fast alle DJs, alle sind wissend und spezialisiert. JEDER kann ja eigentlich DJ sein und da oben stehen, das ist das heutige DJ-Paradigma. Doch wer tanzt auf einer Party, wo nur potenzielle DJs rumstehen und sich über Musik unterhalten? Fazit: keiner, dafür nölen alle an der Person rum, die gerade auflegt, bis sie entnervt aufgibt…und jemand anderes es wieder versucht…aber da kommt schon wieder jemand neues: „da kann ja keiner zu tanzen, lass mich mal“…usw. Popmusik ist im Geschmackssystem des PopPop kein integratives subkulturelles System mehr, sondern der definitive und ultimative GESCHMACKSTERROR geworden, der reinste hysterische INDIVIDUATIONS- und DISTINKTIONSWAHNSINN. Alle vermissen Bourdieu, aber keiner hat ihn jemals ernst genommen. Und wir beobachten weiter die Partyprügelei der Distinktionsroboter. „Ich weiss es, und du nicht…lass mich mal ran…du hast ja keine Ahnung…immer aua…immer feste druff…was gibt’s n da zu glotzen, Silberlocke?“

MANIC ANTIDEPRESSION

Ohne Pop hätte ich mein tolles Hipsterleben doch gar nicht leben können schnüffschneuzplärr“ heult der FAN – Pop-Opfer können einem WIRKLICH so leid tun. Zuviel Leiden an der Leidenschaft. Die GUTFINDER hingegen agieren scheinbar kühler und aufgeklärter, in Wahrheit jedoch nicht weniger manisch und besessen vom Objekt ihrer Begierde: postmoderne PopjournalistInnen müssen alles gutfinden, was die Popmaschine ausspuckt. Sie müssen Sex and the City gutfinden, wenigstens Aggro Berlin…oder vielleicht doch Alcopops, die finden grad viele schlecht, ergo finde ich sie mal gut. Vorsprung durch Dummheit: Popkultur ist eine riesige komplexe und diversifizierte Distinktionsmaschine, deren Einzeldetails und Produkte nur mehr der Bildung, Aufrechterhaltung und Stützung eines durch stetiges Pop-Bombardement knallhart durchindividualisierten Egos in der postindustriellen Medienkulturgesellschaft dienen. Die Beschäftigung mit Pop erscheint zwanghaft und identitätsstiftend, immer auf der Flucht vor der latenten Depression, die auftauchen könnte, wenn man nicht mit etwas Neuem für das Ego um die Ecke kommt. Diese Analyse ist übrigens weniger neu, als dass sie immer wieder marginalisiert bzw. verdrängt wird. Denn die Pop-Projektionsmaschine, welche diese Prozesse immer wieder in selbstreferentielle virtuelle soziale Kontexte leitet – also Kontexte, die nur mehr im System von und für Pop eine Bedeutung haben -, leuchtet hell und verleiht den Pop-Prozessen eine soziale Wichtigkeit und Relevanz, die sie nur in ihrem eigenem System haben und in der gesellschaftlichen Realität niemals einlösen könnten.

DIE NEUEN NEUEN

Das Auftauchen eines neuen Sterns am Firmament hingegen ist immer ein Ereignis. Doch auch der Himmel ist ein Karussel, fahr ewig weiter, oder steig endlich mal ab. Die neuen Wilden. Die jungen Löwen. Der neue Dylan. Das System Pop basiert seiner inneren Logik nach auf stetigem Wechsel und funktioniert daher wie das System der Mode. Der strukturelle stetige Wechsel ist die Strukturessenz. Daher sind Retrobewegungen im System des Pop logischerweise nichts neues: Swing adaptierte und konzentrierte Formen des frühen Jazz, der Rock’n Roll zitierte und bastardisierte den Blues, Techno und House klauten Disco die Bassdrum usw. usf. – alles kommt immer wieder und wird zitiert, dies erinnert an das, aber nur die Addicts und Opfer interessieren die Hintergründe wirklich. Die Zeitschrift ‚Groove’ schrieb über „On Repeat“ des LCD Soundsystem, es sei „ein weiterer LCD-Song über die Langeweile in der Musik, die sich immer wiederholenden Kreisläufe, die ewige Wiederkehr derselben Persönlichkeiten und Posen, Archetypen und Haltungen.“ Obwohl diese strukturelle Essenz der institutionalisierten Bezugnahme und des Wechsels offensichtlich ist, wird Pop leider grundsätzlich weniger mit dem System der Mode verbunden als mit dem der Kunst. Schade eigentlich. Vergleicht man nämlich das System Pop direkt mit den Begriffen der Frühjahrs-, Sommer-, Herbst- oder Winterkollektion, lässt sich sofort erkennen, wie austausch- und recyclebar die diskursiven Bedeutungs- und Projektionszusammenhänge im Pop sind. Eine selbstverständliche und unaufgeregte Engführung des Systems der Popkultur mit dem der Mode macht viele der hier erwähnten Bewegungen und Phänomene noch deutlicher und klarer.

Der neue Dylan. Das ist ever-lächerlich, aber tatsächlich immer wieder ein Dauerbrenner: die Opfer warten auf den neuen Dylan wie andere auf den neuen Beethoven oder Goethe oder wie Reich-Ranicki auf den neuen Thomas Mann. Dylan, in den 70ern noch fusseliger gottsuchender Outlaw mit inhaltlichen wie stimmlichen Artikulationsproblemen, ist heute definitiver unantastbarer Popklassikgott geworden. Dylan ist Goethe, doch wer ist der neue Goethe? Wir erinnern uns: den Underground immer schön mit 100.000 Watt-Birne ausleuchten und jede Regung in den Ecken der Gewölbe live-live übertragen, dann klappt’s auch mit der Zielgruppe. Aktuell haben wir da Dan Bern, Ryan Adams, Conor Oberst oder Adam Green zu bieten. Interessant sind übrigens hier auch die internationalen Unterschiede: Adam Green, nach dem in den USA kein Brathähnchen kräht, wird in Deutschland von den Medien gehätschelt, als Indie-Superstar apostrophiert, veröffentlicht bei Suhrkamp und tritt bei Harald Schmidt auf. Hallo, geht’s noch? Es ist zu lächerlich, aber es geht on an on. Dylan als Figur und Musiker/Sänger entstand aus der Situation und den Kontexten der 60er Jahre. Es ist total absurd, diese Wunsch-Struktur ins 21. Jahrhundert zu verpflanzen. Trotzdem funktioniert die Projektion ‚Der neue Dylan’, weil es einfach ein Fan- und Käufersegment dafür gibt. Die Suche nach dem neuen Dylan ist für PopPop-Opfer logisch die Suche nach dem neuen Messias. Und natürlich ist der neue Dylan auch ein Sinnangebot für den verlorengegangenen Cobain. Derartige Transformationen lassen sehr viel über die institutionalisierten Projektionsmechanismen von Pop erkennen.

POLITOLOGY

Ein Dauerbrenner: Pop und Politik. Wir marginalisieren diesen Klassiker hier etwas, weil er überwiegend ein diskursives Subsystem zum Segment „Pop und Projektion“ ist. Wir erinnern uns: Pop als Projektionsmaschine. Meine These ist: 95% des Zusammenhangs von Pop und Politik sind mehr oder weniger bewusste Projektion. Genauere Untersuchungen wären hier sehr aufschlussreich. Derzeit genial: Le Tigre – die Fans fallen reihenweise um. Hm … wir hatten eigentlich gedacht, dass ein sich aufgeklärt gebendes Popmodell anders aussieht – und jetzt wollen alle nur noch vor Glück heulen. Die gefühlige Schwärmerei fürs Politische, das ist PolitPopPop (Wieviele Po’s haben wir eigentlich noch?). Geht das: Polit-Fans? Na klar. Und Le Tigre ist Entertainment für Polit-Fans. Genau wie Pollesch-Stücke bestes linkes Entertainment sind. Haben wir alle gelacht und alle genickt. Ja so sieht’s doch aus! Genau so isses! There’s no business like Polit-Show-Business. Die meisten Polit-Pop-Fans bleiben wie Teletubbies in den kulturellen Glückseeligkeiten von PopPopland hängen. In diesem Land sind rudimentäre Slogans die einzig akzeptierte Währung. Ist so einfach und gemütlich hier in PopPopland: tolle Musik, geile Leute, scharfe Drinks, komische Drogen, abgefahrene Grafiken, super Location – der Fall ist klar: We are Family, wir wollen hier bleiben, und wir wollen auch gar nicht mehr raus! Und wenn wir nur im Club abhängen, machen wir den Club eben politisch – ist doch alles ganz einfach! Alle Zusammenhänge werden politisch codiert und aufgeladen, dann ist auch alles politisch. Bis am Ende keiner mehr weiss, was denn nu eigentlich noch mal Politik genau war. Aber kein Lexikon da, ausser Leute, die ständig sagen: ALLES POLITIK! Uff! Wäre es da nicht konsequenter zu sagen: NUR FEIERN?

Im allgemeinen Makrosystem Pop ist Politik in der Regel nur rudimentär interessant, dass heisst, dieser Zusammenschluss interessiert die Pop-Rezipienten nicht wirklich, nur als Gimmick oder gar nicht, es sei denn, es ist ausdrücklich so codiert und äussert sich auch in dementsprechenden Formen, z.B. durch politische Betroffenheitslyrik oder Formen des authentischen Polit-Marketings (Kurze aktuelle Erinnerung: Bono Vox auf dem Weltwirtschaftsgipfel Anfang 2005 in Davos, neben Tony Blair: „Wir müssen lernen, in Marken zu denken. Europa, Amerika – das sind Marken, deren Image gelitten hat.“). Ist dieses Zusammenspiel nicht so klar markiert, muss von den PopPop-Interpreten noch aufwändiger konstruiert und projeziert werden (z.B. Madonna als ja irgendwie politische Fem-Ikone – bis sie endlich vor US-Flagge rumtanzte und a Ruhe war). Hauptsächlich findet das Zusammenspiel von Pop und Politik jedoch als stetige, nahezu maschinelle Projektion im System des PopPop statt. Dort ist Politik in der Regel ein Fantasma der bohemistischen Mittelstandsintellektuellen, die wissen, dass ihnen jede praktische Politik und reale Anteilnahme in der Regel verwehrt ist, daher wird Politik via popkulturellem Wunschdenken und Geschmackskultur symbolisiert. Die politischen Utopien sind deformiert oder tot, so verlagern sie sich in die Technik, oder eben in die Kultur, und das heisst für unser Thema: in den Pop. Pop will symbolische Politik sein, ist aber in der realen Welt prinzipiell nur ausdruckhaftes Anhängsel von Politik und Meinungsillustration auf simpelster Ebene. Motorikhilfe halt, soziale Gymnastik oder politische Animation. Die Doors bei Vietnameinsätzen oder CrossoverCore bei Bush’s Irak-Kriegern: Pop ist dann tatsächlich politisch, ja, aber nur als kulissenhafte Illustration der Verhältnisse. 95% des Diskurses sind, wie gesagt, symbolische Zielgruppenbedienung, ZielgruppenPopPop. Die subversiven Fantasien, die Pop und Politik verbanden, hatten auch immer eine Funktion: die des Weglaufens vor den realen Problemen und Kontexten draussen vor der Tür. Wer Politik machen will, macht also besser Politik, und wer Pop machen will, macht besser Pop. Wer politische Popmusik macht, macht Polit-Pop, und wer populär-populistische Politik macht, macht Pop-Politik. Belassen wir es zunächst dabei. Diese Files müssen je neu geöffnet und gecheckt werden, aktuell z.B., wenn derzeit eine kulturelle Hegemonialthese in der politisch extremen Rechten aktiv ist, die versucht, die Jugend viel besser via Pop zu erreichen als durch politische Versammlungen, oder sich in Deutschland eine Subkultur wie HipHop anschickt, rechtsradikales Devianzpotenzial zu transformieren. Um Pop in diesen Zusammenhängen zu analysieren, ist es jedoch zunächst einmal wichtig zu verstehen, wie er generell funktioniert.

CLUB DER GOLDENEN HERZEN

Neben dem Wunsch nach Veränderung bei gleichzeitigem Stillstand und Leben in der sicheren Nische – das Fantasma von Pop und Politik ist am besten mit einem hingebungsvollem Rennen auf der Stelle zu umschreiben – treibt die Kinder des guten Onkel Pop oft noch anderes an, nämlich eine sehr obskure Sucht nach Glamour. Sie wollen irgendwie an diesem System Pop, das sie früher schon so begeisterte, partizipieren. Sind sie Schreiberlinge über Pop, haben sie nicht viel zu lachen, da ihre Honorare gerade einmal das Existenzminimum streifen, also müssen sie sich den Glanz anders holen. Viele popmusikverarbeitende Betriebe sind Sweat-Shops für Pop-Opfer und Halbintellektuelle und können sich nur aufgrund der irrsinnigen Sucht ihrer Mitarbeiter nach Pop über Wasser halten. Auch das erklärt vielleicht, warum so viele scheinbar aufgeklärte Pop-JournalistInnen von ihrem Fantasma nicht mehr loskommen: totally lost in music, caught in a trap, there’s no turning back. Dies jedoch ist kein Glamour, sondern ganz profane subkulturelle Selbstausbeutung, aus der viele Protagonisten irgendwann herauswachsen, wobei dann der Umgang mit Pop oft professionalisiert werden will. Doch es gibt nur eines, womit PopPopOpfer wirklich Kapital machen können: eine Musik, eine Band, einen Musiker, einen Star zu ‚entdecken’ und hochzupushen („Ich weiss es!“ oder „Ich war der erste Fan!“), um 15 Sekunden (Popjournalisten haben heute keine 15 Minuten mehr) vom Silberschweif des angebeteten Glam-Kometen beleuchtet zu werden. Das hinlänglich bekannte kulturelle Kapital, das damit in Kennerschaft und Abgrenzung erwirtschaftet wird, zahlt sich in realiter jedoch selten aus als durch eben jene Identität, die im Feld des guten Onkel Geschmackspop laufend neu konstruiert wird. Ergo müssen sich die Kinder des guten Onkel Pop, wie einst das Bildungsbürgertum sich in Abgrenzung zum Adel anders als durch Abstammung und wirtschaftlich-gesellschaftliche Macht profilieren musste, selbst adeln, um gesellschaftliche Definitionsmacht zu erlangen, z.B. mit einer Politik des Besserwissens, der Geschmackselite und der Gefühligkeit. Letzteres heisst: mit ihrem goldenen Indie-Herzen. Indie, die derzeitige Apotheose des PopPop, ist in vieler Hinsicht ein Herzensbund der wissenden Gefühligen.

Die Frage ist da: wo sollte eine angemessene indifferente Analyse am System Pop überhaupt herkommen, und wie soll diese dann aussehen? Das geht eigentlich nur strukturextern, also von einer Position heraus, die sich selbst nicht als Pop versteht. Die Popster sagen: „Bähh, geht doch gar nicht, diese Leute verstehen rein gar nichts von Pop!“…möglich, aber eben das ist ihre Stärke und ihre konsequente Unbestechlichkeit: gewissermassen ihre GRUNDIMMUNITÄT gegen den Virus Pop. Sie erbleichen nicht mit Ehrfurcht vor den semilegendären und semiprominenten Namen, die ihnen vorgeworfen werden wie der Knochen dem Hipster-Hundi und sind insofern erst überhaupt in der Lage, das System Pop aus einer anderen Position als der einer präventiven (Über-)-Affirmation zu beschreiben. Daher ist es auch so nötig, das System Pop in der GESAMTHEIT seiner Einzelteile auseinander zu nehmen und wiederzusammenzusetzen.

3. FURCHT UND SCHRECKEN DER SUBKULTURINDUSTRIE

BÖSE ONKELZ, GUTE ONKELZ

Was in der aktuellen Beschreibung des Systems Pop nach wie vor fehlt, ist eine schlüssige Analyse der Subkulturindustrie. Bei der Beschreibung des Systems Pop wird in negativer Hinsicht vor allem auf das System des bösen Onkel Pop, des Schurkenpop, Bezug genommen. Im System des guten Onkel Pop dagegen lebt das Wahre, Schöne, Gute weiter. Diese Wertematrix dominiert auch das System der Subkulturindustrie. Die Mär ist: hier passiert nun mal die interessantere und bessere Musik, die wollen wir verteidigen, und etwas anderes zu behaupten, ist kontraproduktiver Verrat. Ich will diese derzeit noch unpopuläre These aber gerne im Sinne einer radikalen Popanalyse aussprechen und zur Diskussion stehenlassen: die Subkulturindustrie ist viel schlimmer als die Mainstreamkulturindustrie, denn sie tut stets so, als wäre sie etwas anderes oder besseres. Und das ist nicht wahr.

Die Subkulturindustrie ist eine einzige Wertemaschine, sie produziert laufend Werte und handelt mit Moral. Ob in Gefühligkeiten oder Abstraktionen ist egal, denn in ihr wird opak mit moralischen Werten gewirtschaftet. Da derzeit grössere strukturelle politische Projektionszusammenhänge (ausser einer amorphen Anti-Globalisierung) schwer fallen, verlässt man sich auf die Emo-Klassiker ‚Rebel’, ‚Rage’ oder auch gerne ‚Revolution’, mindestens jedoch ‚Dissidenz’ und legt in den Rezeptionsmaschinen der Subkulturindustrie vor allem Gefühligkeiten als inhaltliche Köder aus. Die Rolle und Aufgabe der Subkulturindustrie exakter zu analysieren mag notwendig sein, weil damit ein überidealisierter und weitgehend unreflektierter Verblendungszusammenhang des Makrosystems Pop dekonstruiert werden könnte, wird hier aber nicht weiter expliziert, da es hier vor allem darum geht, die aktuellen Wirkungsparameter der Gesamtmatrix ‚Pop’ hinsichtlich ihrer psychologischen Geschmacks- und Bewertungskategorien zu beleuchten. Wir erinnern uns: böse Onkelz, gute Onkelz. Leuchten wir also noch mal kurz mit der Taschenlampe ins goldene Herz der Subkultur.

LEISTUNG AUS LEIDENSCHAFT

Das Gefühlige spielt eine grosse Rolle in der Selbstwahrnehmung der Kinder des guten Onkel Pop. Leidenschaft – eigentlich eine schöne Sache. Gefühle. Auch nicht wirklich schlecht. Herz – doch, auch ganz nett. Nur leider immer ungeniessbarer, wenn diese emotionalen Codierungen in einem auf rationalem Verkauf basierendem System mit einer Häufung auftreten, bei dem alle Alarmglocken klingeln sollten, denn Leidenschaft bzw. „Leistung aus Leidenschaft“ hat schliesslich auch die deutsche Bank. Sogar im SZ-Pop-Feuilleton entblödete sich ein Schreiberling nicht, in seinem Artikel über „Junge Dinger bzw. Mädchen im Pop“ zu schreiben, bei einer seiner Kandidatinnen komme neben ihrem fachlichen Wissen „noch etwas wissenschaftlich nicht Nachweisbares hinzu: Leidenschaft.“ Er tat es wieder. Leidenschaft! Wie oft stossen wir im Pop-Diskurs auf diese Zuschreibung. Das Wort ist im Pop-Diskurs mittlerweile viel schlimmer als das einst in politischen Post-Punk-Kreisen verpönte Wort „Handwerk“. Leidenschaft! Herzblut! Jeder Mensch, der die Welt zerbombt, der andere zusammentritt oder wegen ihres Andersseins tötet, hat auf eine obskure Weise Leidenschaft und Herzblut. Im Kulturdiskurs ist das Wort ungefähr so nützlich und erhellend wie der Begriff „Talent“. Leidenschaft, Talent, meinetwegen auch Handwerk – das sind mögliche Grundlagen für die Kulturproduktion, ein kulturpolitischer Diskurs aber, der seine kategorialen Werte darauf aufbaut und extrapoliert, kann nicht ganz dicht sein.

Leidenschaft und Herzblut aber sind evergreens und beliebte Münzwerte in der Welt der Subkulturindustrie und zudem auch zentrale Begriffe der Kinder des guten Onkel Pop, die sich in deren Terrains herzhaft austoben können. Der Grundtenor ist: die Mainstreamindustrie ist nur auf Effizienz und Profit aus, ihre Protagonisten haben kein Herzblut und keine Leidenschaft, und zudem ist Popmusik dort nicht mehr als ein funktionaler Maximierungsanteil in ihrer Mischkalkulation, der sofort fallengelassen wird, wenn er nicht effizient ist. Wohl wahr, aber insofern auch nichts neues, denn teilweise GENAU SO funktioniert auch die Subkulturindustrie. Und die Leidenschaft für Geld ist ja auch eine, wenn auch nicht gerade die beste und interessanteste. Die ProtagonistInnen der Subkulturindustrie hingegen, so die Mär, tun ja alles nur aus Liebe zur Musik, zudem sind sie ja viel deeper und more into the music als die bösen grossen Konzerne und ihre abgewixten Propagandisten. Die Protagonisten der Subkulturindustrie hingegen sind halt noch alle echte Fans und Fanziner (echte Modelleisenbahner halt) mit literweise Herzblut, tonnenweise Leidenschaft und was wir nicht noch alles haben. Das System des guten Onkel Pop adelt sich hiermit selbst. Pop ist hier vor allem eine Politik der Gefühligkeit, und in der Rezeption nicht selten eine Politik der Tränen.

NUR NICHT AUS LIEBE HEULEN

Man muss aufpassen, dass die Fans und Protagonisten des guten Onkel Pop nicht gleich wieder losheulen, weil doch so viel ihrer Lieblingsmusik „zum Heulen schön“ ist. Oder dass sie gar gleich wegsterben, denn viele ihrer Musik ist „zum Sterben schön“ oder „sterbensschön“. Letzteres ist die wohl grösste emotionale Verirrung, in die eine kleinbürgerliche Kunstfanseele geraten kann.

Keine Kunst, und erst recht keine Popmusik ist so schön oder irgendwie anders geartet, dass sich das Sterben dafür lohnen würde. Vielleicht lohnen sich hierfür wenn überhaupt bestimmte politische Kontexte, aber ganz bestimmt keine Kunst, doch hier kann man schon sehen, wie weit das Feld des gefühligen guten Pop von dem der gesellschaftlichen Realität entfernt ist. Noch mehr Gefühligkeiten: ein Popalbum hat soviel „sexy Aggression“ lese ich, und genau darum geht es, denn: Gedanken, klar, kein Thema, auch Politik, ja doch, ihr Unverbesserlichen, aber sexy! Aggression! – wir sehen: im System Pop muss die Essenz vor allem mit Gefühlen codiert sein. Und Aggression geht logisch immer gut, denn die ist ja auch bestimmt politisch. Und wenn das ganze noch sexy ist, na aber, dann können sich die Völker mit ihren verbogenen Hörnern und verrosteten Hupen, aus denen schon länger irgendwie keine coolen Signale mehr kommen, schon mal auf eine echt revolutionäre Tanzschaffe einstellen. Es gibt wirklich für (fast) jede Gefühlslage einen Popsong. Sie werden hergestellt, von Kleinstfirmen oder Songfabriken, und dann im kleinen und im grossen Stil vermarktet. Das ist die alte und schöne und notwendige Grundlage, um überhaupt über Pop sprechen zu können. Und diese „Banalanalyse“ muss im System der Gesamtkulturindustrie immer so exakt und gutgelaunt-radikal wie möglich ablaufen, sonst werden PopPop-Rezipienten IMMER autoerotisierte Pop-Opfer werden. Pop handelt nicht nur von, er handelt vor allem mit Gefühligkeiten. Der Handel und das diskursive Verhandeln des ganzen Prozesses läuft jedoch logischerweise nicht kühl und rationell ab, sondern wird mit emotiver Mythologie und Konstruktion überzuckert und verdoppelt und intensiviert den emotiven Diskurs geradezu, anstatt ihn etwa abzukühlen oder zu ernüchtern. Wem diese Überzuckerungen aber nicht schmecken, der hat, so die PopPop-Diabetiker, eben kein Herz. Die Diskurse der Subkulturindustrie, welche das Produkt des PopPop erst wirklich zum kulturellen Image konstruieren, gaukeln gleichsam stets einen aufgeklärten Umgang mit ihrem Objekt vor. Ist der Blick für diese Vorgänge einmal geschärft, lassen gerade diese Mechanismen das Business der Subkulturindustrie so widerlich erscheinen, und nicht etwa der angeblich seelenlose Kommerzpop, denn bei letzterem sind die Statuten von Anpreisung und Verkauf in der Regel viel klarer abgesteckt. Die Diskurse der Systeme des Pop und PopPop sollten also mitunter noch viel kühler gehandhabt werden, denn nichts ist furchtbarer als Journalisten, die sich angeblich mit soviel Herzblut für ein, für „ihr“ Produkt engagieren, und am Ende doch nur wieder die alten klischeeisierten Lobhudeleien zu lesen sind. Brand it Baby, denn nur ein emotionales Branding verschafft dem Produkt kommunizierbare Seele und Akzeptanz beim Kunden. Auf der Verleihung der Best-Brands-2004 in München – Gewinner wurden übrigens PopKlassiker wie Ebay, Samsung, SZ, Adidas oder Günther Jauch, letzterer als Persönlichkeitsmarke – hiess es folgerichtig: „Sie wollen prickeln, verführen, Sehnsüchte wecken – Markenprodukte wollen mehr sein als funktional. Doch wie den Dingen eine Seele geben, die zum Kauf verlockt? „Wo Kommerz fehlt, braucht es Kunst in der Werbung“, erklärte Johann Georg Prinz von Hohenzollern, Direktor der Münchener-Hypo-Kunsthalle seinem Publikum“ – und erklärte damit allen Popfans noch einmal, warum sie bei ihrer Popmusik immer eine konstruierte Kunst-Seele mitkaufen müssen: damit diese mit ihren amorphen Emotionalisierungen – egal ob Rebellion oder Erhabenheit – die Kunden über den reinen Akt des Konsums hinwegtröstet. Die Heuler fragen nun mit weichen Augen: aber wir wollen doch Fans sein. Was ist und kann Pop denn dann überhaupt noch? Der gute Onkel Pop streichelt ihren heissen Kopf: eine Menge.

POLITIK DER TRÄNEN

Und tatsächlich: Pop kann auch aus seinem selbstreferentiellem System heraus Transmitter und Transformer von sozialen Erkenntnissen sein, kann trotzige Illustration des gefühlten gesellschaftlichen Ist-Zustands sein, und zudem natürlich vor allem soziale Identifikations- und Motorikhilfe und AusChillkissen für gequälte Köpfe. Das ist eine klare Funktion in sozialen Kontexten. Und Pop kann und soll auch bitte Konzentrat und Entfesselung von Gefühligkeiten sein. Selbst der konzeptionellste Designertechhouse mit Artwork, Agentur und Corporate ID läuft letztlich nur auf eines hinaus: das Gefühl. Und sei’s nur, den Durchblick und die Klarheit zu haben. Vernunft ist schliesslich die grösste Romantik überhaupt. Gegen eine Politik der Gefühle ist also zunächst einmal nichts einzuwenden. Niemand hat bislang schlüssig darlegen können, dass eine Politik der Gefühle weniger wirksam und durchdringend sein könne als eine Politik der strengen Rationalität, die so tut, als bräuchte sie Gefühle nicht oder stünde über ihnen. Dabei sind die Beweg- und Antriebsgründe für etwas ebenso irrational wie sie rational sein können. Und ja: eine Politik der Tränen ist gut, ist mitunter genial wirksam. Wir brauchen diese Dinge, diese Axt, die das vereiste Meer in uns aufhackt, wie es ein Mensch aus Prag mal so schön sagte. Eine Politik der Tränen kann öffnen – doch was dann? Oft fliessen nur Tränenmeere ab, die sich bei Gutfindermedien in Zeilengeldseen sammeln.

Bei Pop als einem System, das sich durch Imagebildung und Selbstmythisierung bei stetiger Selbstreferentialität – also vornehmlich nach seinen eigenen Parametern zu funktionieren – eine immer grössere paradigmatische Wichtigkeit in kulturpolitischen Prozessen erarbeitet hat, sollten wir immer wieder die jeweiligen Projektionen auf den Boden der Tatsachen stellen. Wir befinden uns in einem System des Hyperkapitalismus, und dies ist nicht durch ein bisschen SingSang oder BolzBolz aus dem Weg zu räumen. Dabei geht es nicht um ‚Vernunft vs. Gefühl’ und auch nicht um ‚Klassik vs. Romantik’, sondern eher um eine radikal indifferente Kulturwissenschaft vs. einer amorph-jammernden Geschmackspop-Gefühligkeit. Wir kommen dem aktuellen Zustand des Systems Pop nur mit diesem dialektischen Zugang auf die Spur, mit der oszillierenden Kraft zwischen den Begriffen und Positionierungen. Radikale Analysen sind notwendig und nur logisch für eine urkapitalistische Kultur wie Pop, die sich immer noch aus Mythen von Jugendlichkeit, Aufbruch, Revolte, Differenz, Rebellion oder Revolution eine Identität konstruiert und sich in derart viele Lebenskontexte einspeist. Nur leider gibt es diese Analysen viel zuwenig.

Nur ein Beispiel: was das Musikblatt NME in England seit Jahren praktiziert, ist institutionalisierteste Pop-Propaganda im Stil von Rupert-Murdoch-Medien, aber keiner würde dieses billige Hype-System jemals wirklich radikal dekonstruieren und ihnen massiv widersprechen, da es doch letztlich um unser aller Herzblut Pop geht. Man hat sich an diese Prozesse derart gewöhnt und man braucht ja auch ständig neues Futter, und so wundert sich keiner, dass wieder so etwas wie Franz Ferdinand passieren konnte, hier wundert eigentlich nur die gnadenlose Vorhersehbarkeit des „Phänomens“. Jeder partizipiert. Keiner sägt auf dem Ast, auf dem er sitzt, anstatt einfach mal abzusteigen. Keiner lässt sein vergiftetes Herzblut mal selbst zur Ader. Das ist die wahre Misere im System Pop.

4. FRAGMENTE EINER SPRACHE FÜR EINE VERLORENE LIEBE

Alles muss raus! Wir brauchen eine neue Sprache, neue Begriffe, Kategorien, neue Bewertungskriterien und vor allem eine andere Bewusstseins- und Sichtweise auf das System Pop. Fans betrifft das eh nicht, denn ein Fan ist immer voreingenommen, und das ist auch ok so. Doch bei der allgemeinen Darstellung, Bewertung und Analyse von Pop muss in vielerlei Hinsicht noch einmal von vorne angefangen werden, da die bisherige Geschichte des Pop extrem von den geschmacklichen Vorurteilen und Wertungen ihrer Interpreten geprägt wurde. Zumindest wir können darauf hinarbeiten, indem wir Pop kontextuell immer wieder neu und anders in Beziehungen setzen. Umwertungen sind eine der schwierigsten, aber auch notwendigsten Aufgaben in der Ästhetik und Kulturwissenschaft. Eine Sicht, die nicht vom Pop-Virus verseucht ist und welche die gesammelten Mythen, Projektionen und Funktionen des Kulturparadigmas Pop ohne affirmative Vorurteile bearbeitet, kann wahrscheinlich erst eine zukünftige Generation leisten, wie eine sachliche Interpretation und Dekonstruktion historischer Ästhetiken auch heute erst annähernd möglich ist. Eine in den 60er Jahren im Zuge neomarxistischer Kritik entstandene Popkritik blieb häufig zur sehr in ideologischen Grundannahmen stecken, die das System Pop und seine spezifischen Wirkungsweisen extrem verkannten. Diese Kritik hat sich über die Jahre in eine Art von ‚kritischer Affirmation’ verwandelt, die ihre eigenen Aussagekriterien und deren Sitz in der aktuellen gesellschaftlichen Realität schon längst nicht mehr reflektiert. Insofern lässt sich grundsätzlich die These aufstellen, dass sich in der Poptheorie potenzielle Kritik grundsätzlich in präventive Affirmation verwandelt hat.

Die Ideologiekritik der Frankfurter Schule und die darin verhandelten Widersprüche konnten damals nur in dieser Schärfe und Konsequenz verfasst werden, da sie nicht vom Pop-Virus befallen waren. Dafür sahen sie ihren eigenen blinden Fleck nicht, ihre Zugehörigkeit zum bürgerlichen Kulturdenken – auch in dessen Antithetik -, ihre Befangenheit in einem Ideal von Ideologie und die bewusste Ablehnung jedweder gesellschaftlichen ‚Nutzbarkeit’. Heute ist dies nur mehr Grundlage, die schnell überschritten werden muss, denn:

Pop macht einfach weiter. Aber es hat als Gesamtsystem jedes Telos und jede Rückbindung verloren, denn wenn in diesem System wirklich etwas mausetot und vorbei ist, dann ist es die ideelle Projektionsmaschine. Sie wird uns aber als schauriger Wiedergänger und glitzernd-torkelnder Zombie noch eine Weile begleiten. Pop wird immer dabei sein. Pop begleitet die Verhältnisse, ist aber niemals deren Motor. Pop ist nur mehr eine kulturelle Strukturvariable eines globalen kapitalistischen Gesamtsystems. Pop macht einfach weiter, und alle machen mit. Was jetzt so nervt, wird nicht etwa verschwinden – es wird noch schlimmer werden. Eine apostrophierte „Repolitisierung der Popmusik“ negiert, dass Polit-Popmusik teilweise vom VERKAUF IHRER DISSIDENZ leben muss. Idealismus verkauft nun einmal sehr gut, eine ganze Sub-Branche des Pop lebt vom Verkauf der Dissidenz. Das ist nichts verwerfliches, es ist nur eine Tatsache, die gerne mal übergangen wird. Dissidenter Pop verkauft Kritik am Kapitalismus im Kapitalismus durch Kapitalismus.

Die Analyse der Verkaufs-Dissidenz ist real, aber gefährlich. Es ist die komplette Spiel- und Spassverderberanalyse. Und Pop ist doch angeblich Spass und Vergnügen, so eines seiner Hauptdefinitionen. Ist diese These daher nicht eine selbstgerechte ideologische Destruktions-Theorie? Und ist nicht Pop als Dissidenz-Transmitter heute sogar die einzige wirkungsvolle Möglichkeit? Das ist genau die Frage: Pop ist der grosse sloganisierende Weich- und Gleichmacher, aber Pop lässt doch auch Spielraum und Möglichkeit für Dissidenz, so seine Verteidiger. Wenn wir nun Dissidenz, die sich heute ja fast immer durch die Kanäle der Kulturindustrie äussert, IMMER als Teil einer gesellschaftlichen Funktionsmechanik sehen, gibt es gar keine Fluchtlinien und Fluchtpunkte mehr, und wenn sie nur temporäre sein mögen. Dissidenz ist jedoch überlebenswichtig – auch und gerade im Pop! Wir sammeln uns, hören die gute Onkel-Popmusik, singen und tanzen dazu und verändern dann die Welt. Ja, es wär so schön gewesen, doch leider funktioniert das System meist anders: der PopPop als Dissidenzmaschine hat vor allem das Potenzial, das reale Dissidenzpotenzial des sozialen Raumes geradezu zu absorbieren. Wenn der Kapitalismus Pop also nicht bereits als funky Fehler-Im-System-Analysesystem hätte, er müsste es für seine Kinderchen geradezu erfinden. Die Frage ist, ob die Analyse der Verkaufs-Dissidenz und die hier nur in ersten Ansätzen geforderte Analyse der Subkulturindustrie in zirkulärem selbstgefälligem Nihilismus mündet, oder ob sie konstruktive Schneisen aus den aktuellen Dickichten der Kulturindustrie aufzeigen kann.

Kritik und theoretische Analyse ist nötig, aber logisch nicht der Weisheit letzter Schluss. Gibt es überhaupt realistische Alternativen für ein richtiges Leben im Falschen? Man muss sich dem stellen: wie soll es das überhaupt geben? Kritik – von ausserhalb? Sollte man etwa Musik und Kritik umsonst verteilen, wie Jesus das Brot bei der wundersamen Brotvermehrung? Vielleicht, wenn man diese Verteilung nicht, wie die Hohlköpfe es tun, wörtlich nimmt, also als stumpf-effiziente Vermehrung von materiellen Gütern, sondern eben als Metapher: als mögliche Vermehrung von geistigen oder erkenntnisbringenden Gütern. Die Popmusik selbst vermehrt sich schliesslich auch immer unmaterieller. Via Internet findet ja schon längst eine höchst unwundersame Popvermehrung statt, die bereits keinen festen materiellen Ort auf einem Kulturspeichermedium mehr hat. Der klassische materialhortende Plattensammler ist also schon bald Geschichte, da jede Art von Pop zukünftig immer und überall virtuell verfügbar sein wird. Die wirklich bedeutsame Frage ist dann: wer hört überhaupt noch zu? Wir befinden uns in einer Zeit, in der wir Musik schneller herunterladen und kopieren können, als wir sie hören und mit ihr leben können. In einem Zeitalter, in der Musik hysterisch gebrannt und wieder verworfen wird. Pop ist definitiv da angekommen und hat möglicherweise eine sehr wundersame Zukunft vor sich: als eine immaterielle Wegwerfalltagskultur.

Es regnete bereits den ganzen Tag, und der Tonträger lag im Dreck.

(Aus: Boggasch / Sittig (Hg.): „Elend. Zur Frage der Relevanz von Pop in Kunst, Leben und öffentlichen Badeanstalten“, Nürnberg 2006)

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