unerhört!-Festival 08


Zürich. Das 8. unerhört!-Festival / 25.11. – 30.11. 2009

Von Marcus Maida

Das 8. unerhört! zeigte durch erneute Justierungen und Navigationen, dass es ein gut dramaturgisiertes Festival in progress ist, das während seiner Neuerfindungen niemals seine Identität als eines der besten Festivals für kontemporären Jazz verliert. Das Opening mit Omri Ziegeles Where’s Africa Trio mit Irène Schweizer und Makaya Ntshoko war auch durch den Spielort von Bedeutung: das Rietberg als kulturgeschichtliches Museum von u.a. afrikanischer Kulturgeschichte erwies sich als ein symbolisch wichtiger Präsenzort für eine kulturhistorische Wurzelsuche des Jazz, wenn auch akustisch und räumlich als etwas heikel für eine Musikperformance. Die gelungene Respektbezeugung und der Brückenbau zwischen den Generationen indes wurde schon durch das große Publikumsinteresse honoriert: ausverkauft, ein 2. und 3. Konzert wurde anberaumt. So lassen sich Zeichen als Wegweiser setzen. In die Materie ging es dann mit Marylin Crispell als diesjähriger unerhört!-Artist-in Residence, die mit dem Jahrgang der Hochschule Luzern als Big Band interagierte. Zunächst dominiert durch die Dirigenz Roberto Domeniconis zimmerten die Youngster Beatrahmen, aus denen sich Funk-Off-Beat-Grooves herausschälten, die wundersam mit Crispells resoluten 12-Ton-Pianokaskaden fusionierten. Damit’s nicht zu heimelig wurde, sorgten Harald Haerters Gitarre und Jan Schlegels Bass für freie Brüche. Manchmal gut neben der Spur, ergaben sich so interessante Steigerungen mit dem Ensemblespiel, die etwa an den frühen David Bedford erinnerten. Crispell hielt sich oft total zurück, bestach aber durch konzeptuelles Charisma. Im zweiten Teil dann gab es von den jungen Jazzern etwas gezwungenen Freeform, in dem sie sich offenkundig nicht so zuhause fühlten. Die Tutti überzeugten nicht, es dudelte und hätte oft besser auf die Probebühne gepasst. Der Abend war eher symbolisch zu hören und als Signal zu verstehen: Nachwuchs statt Alte-Säcke-Overkill, und das gilt es zu honorieren.

Dann aber der brüllvoll ausverkaufte Freitag mit einer herrlichen Programmierung: erst befeuerten sich die Trios Zoom von Lucas Niggli und Sleepthief von Ingrid Laubrock in totaler Aktion und feinster Konzentration gegenseitig und untereinander. Die Teile wurden unter bestem Energielevel jongliert, vertauscht und neukonstruiert. Fazit: selbst die ältesten Module der freien Musik klangen bei ihnen neu. Sagenhaft komplex, doch nie zu voll, fett und aufgeblasen, denn immer wieder entstanden gute Lücken fürs erwartungsvolle Durchhören. Solche sorgfältig gesetzten Akzente machten das Geschehen spannend, und es ergaben sich bei dem Instant-Sextett mit zahllosen Unterzellen Freispiel at it’s best. Im Gestus von hart bis zart und sehr verhalten bis kratzig entstand Abstraktion, die swingte und groovte, um im nächsten Moment zur Kippfigur in die freie Komposition zu werden – das sind die Konzerte, für die sich weite Wege lohnen. Pierre Favre und Iva Bittová setzten dann noch eins drauf: der Perkussionsgrande ließ sich auf das Verführungsspiel der erwartungsgemäß sehr charismatisch auftretenden Vokal-Violinistin ein, blieb aber stets charmant und souverän. Das Duo lebte von der Dramaturgie der Tschechin und ihren akustischen Katzensprüngen sowie der professionell-inspirierten Gelassenheit Favres, was tolle Hörspiele für ein ungemein junges und begeistertes Publikum ergab und mit 45 Minuten exakt die richtige Länge hatte, bevor es redundant wurde.

Der Samstag hielt das hohe Niveau der Konzerte und ließ gar noch Steigerungen zu. Das radikal frei operierende Trio Nate Wooley-Christian Weber-Paul Lytton war da genau der richtige Einstieg: klar, konzis und minimal übte man sich in größtmöglicher Klangtransparenz, die auch schon mal schrill und fordernd werden konnte. Doch jedes noch so feinste und kleinste Geräuschdetail saß hier – fantastisch! Ganz groß der Tongestus ihrer aufmerksam gelegten Schichtungen, deren Klangästhetik Elektroakustik evozierte, aber rein akustisch war. Der junge New Yorker Trompeter spielte bisweilen hübsch dreckig, nicht als großer Soloist, aber genuin passend. Etwaige Transformationen in Jazz-Schwingungen zerbröselte man umgehend und akribisch wieder. Eine begeisternde Hommage wie Neuauslegung der freien Improvisation. Zu keiner Zeit hatte man den Eindruck, hier ufert etwas aus oder wird amorph: die Klangforscherbeseelten betrieben ihr Handwerk ernsthaft und im guten Sinne. Alsdann Nik Bärtsch solo am Flügel: mit ungemein harten und hohen Anschlägen sowie vollstem Klangbild zelebrierte er eine logisch-beseelte Gratwanderung zwischen konkreter Struktur und fließender Abstraktion. Zunächst nutzte er Hall und Nachhall für Akzentuierungen als Äquivalenz zu Funk-Zen, eher als Meditation gedacht, denn Funkyness war zunächst null. Eingriffe in den Klangkörper geschahen mit chirurgischer Präzision, bis dann die seriellen harmonischen Repetitionen und Harmonisierungen in ihrer ganzen komprimierten Fülle fließen und wirken konnten. Die pur akustischen Module wirkten in ihrer kristallinen Stringenz musikalisch höchst anspruchsvoll und bauten auch in den eher ambientösen Klangräumen ohne lineare Bewegungsrichtung subtile Spannungen von Progression auf. Bärtsch’s Reduktionskunst wirkt enorm effektiv auf die Vitalität der Dialektik von Askese und Fülle. Bei den Konstruktionen nie die Tonalität vermeidend, nie zu schlicht und zu sachlich, klingen bei aller Strenge immer wieder offene Mysterien und klare Tiefen an, aus denen sich dann auf einmal ein Groove schält, oder auch überraschend kristallklare Kaskaden. Ganz großartiges, sehr gewinnbringendes Konzert, und nach wie vor ein unglaubliches Talent – eine neue Solo-CD ist geradezu zwingend. Und es kam noch besser: die Premiere des Co Streiff-Russ Johnson-Quartetts wurde einer, wenn nicht der Höhepunkt des Festivals. Sehr lust- und spielbetont präsentierte sich die Band wie ein Körper, sehr tight und lässig, gleichsam mit konzentriert-üppiger Klangpalette – genau das richtige, was ein Festivalsamstag zum Ausklang braucht. Von sehr stringenten Grooves – Christian Webers Klassebaß zeigte nun wie verwandelt seine enormen Facetten – über das hochinspirierte und spektrumsreiche Bläserspiel von Streiff’s Sax und Johnsons bestechender Trompete bis zum jungen und ungemein talentierten Drummer Julian Sartorius, der bestimmt, voll und frisch, bisweilen im Rock-Vibe zimmernd wie John Bonham, ein begeisternder Treiber in den hochintelligenten wie –intensiven Themenführungen des Vierers war, steigerte sich das Spiel extrem stimmig und sinnlich wie auch sehr elegant, farbenfroh und lebenslustig in absolut mitreißende Höhen hinein. Auch die stilistischen Wechsel zwischen HardBop und moderner Ästhetik gelangen derart mühelos und interaktiv, dass der Stil des Quartetts die leidigen Genregrenzen spielend überwand. Die wie ein Körper auftretende Band lebte zeitgenössischen Jazz derart intensiv und lebendig vor, dass das Publikum im Sitzen zu grooven begann. Das war eine Jazzband, wie man sie sich wünscht. Johnson erwies sich mit diesem starken Auftritt einmal mehr als feste Größe, und auch Streiff war mit dieser Performance definitiv auf einem neuen Plateau angekommen.

Im gesteckt vollen Altersheim Pfrundhaus sorgte am Sonntag dann das Duo Aki Takase-Rudi Mahall mit sehr fein präsentierten „Evergreens“ für begeisterte Gemüter. Herrlich, wie die Senioren die alten Knaller amüsiert goutierten und honorierten, ob alte Schieber wie Mood Indigo oder Bel Ami bis zu den freigeistigen und mitunter charmant-rauen Exkursionen Mahalls. Manches klang wie ein Aufruf, anderes wie ein Furz, und anderes wie die Gespräche dazwischen – der Berliner Bassklarinettist ist einfach ein humorvoller Charakter-Entertainer. Eine besondere Technik hier, eine Atmung da, dann wieder ein überraschender Anschlag von Takases Piano – die Gewohnheitsknoten der großen Jazz“Schlager“Klassiker wurden je so individuell gelöst, dass alle glücklich waren. Große Klasse. Im Jazzclub Moods warteten dann abends weitere Sternstunden: das Marylin Crispell-Gerry Hemingway-Duo fesselte auf eine exorbiante Art und tönte in allen Varianten. Erst wirkte es, als ob zwei Improv-Virtuosen nebeneinanderher spielten, aber es war nur Vokabularabgleich, alsbald ließ man sich sinken und ein völlig neuer Klangraum entstand. Von ambientösen Exkursionen bis zum Übergang in ein wildes FreeJazz-Duo (man denke an Crispells grandioses Duo mit Moholo-Moholo von 2008) entwickelte sich ein völlig neues, ungemein vielschichtiges und auch für Improv un-normatives Klangspektrum. Sie beherrschten die Wechselspiele zwischen laut und leise sowie impulsiv und meditativ ausgezeichnet – das prägte ihren Gig nachhaltig! Der Soloauftritt von Han Bennink dann war ein Geschenk ans Festival und sein Publikum und ein Zeugnis, wie sich in Energie altern und ganz normal verrückt bleiben lässt. Kraftpaket von Sekunde 1 an bis zum Schluss, wirbelte und powerte der Niederländer kompakt und auf dem Punkt. Auf einmal baut er die Snare ab und setzt sich damit zwei Meter neben das Kit und rührt mit dem Besen unter Einsatz holländischer nursery ryhmes im Eintopf herum, dass den Leuten die (Lach-)Tränen kommen. Ein anarchisches Original, derer die Welt heute mehr denn je bedarf, und nebenbei einer der besten Drummer der Welt. Die Schlusssensation dann war der Auftritt des Schweizer Urphänomens OM, die nach Auftritten in u.a. Willisau auch hier zeigten, dass sie mehr sind als ein „Überbleibsel der 70er Jahre“ (so Fredy Studer selbstironisch). Zunächst wirkte der radikal freie Improv-Einstieg jedoch leicht aufgesetzt. Bennink hatte ja zuvor die Frei-Fraktion mit seiner One-man-Show locker und ad-absurdum in die Tasche gesteckt, man fragte sich tatsächlich: wozu vier Leute, ein freisinniger Duracell-Hase reicht doch. Seltsam: ausgerechnet die Urväter, auf deren Rückkehr man so viel gesetzt hatte, verloren zunächst, denn sie konnten weder Spannung aufbauen noch halten. Doch bald entstanden Rhythmen- und Strukturwechsel, großartige Klangpuzzles, Stimmungen, Söge, Archaisches und gar Spirituelles. Je spaciger – Christy Doran! – und abgedrehter, desto besser – und auf einmal war der alte OM-Rausch wieder da! Sie kamen in einen Flow jenseits der Grenzen von Raum und Zeit. Studers Bassdrum wie ein Herzschlag, Leimgrubers Kratz-Sax über Extramikro wie das knisternde Feuer im Herzen der Nacht, Bobby Burris eklektizistische Bass-Windungen und Dorans souveräne hendrixartige Volumen- und Energieblitzwände – es wurde letztlich ein Glanzpunkt für die Legende, die auch 2010 in Schaffhausen auftreten wird.

Hier hätte man eigentlich einen wohlverdienten Punkt setzen können, indes stand am nächsten Abend noch im Mehrspur-Club eine exklusive Workshop-Band von Studierenden der Hochschule Zürich unter der Ägide von Russ Johnson auf dem Programm. Der mittlerweile heftige Wintereinbruch verhinderte wahrscheinlich die meisten, den inneren Schweinehund noch in den Club auszuführen, so konzertierte die in einem Tag zusammengeprobte Band vor nahezu leerem Raum. Einige schöne late-nite-Pieces und vor allem Johnsons jenseits aller Kritik stehendes Spiel belohnten die wenigen Gäste, aber etwas uninspirierter Jazz-Dub sowie die ein bißl schlaftablettig und uncharismatisch auftretenden Studis – stures Stieren aufs Notenblatt hat bislang nur seltenst Begeisterungsstürme erzeugt – zeigten eine seltsame Diskrepanz zu dem insgesamt doch derart stimmigen und begeisternden Festival. Der Schlusspunkt also unter ‚ferner liefen’ – leider kein würdiger Abschluss für so ein wirklich tolles Festival! So bröckelte das Fest etwas aus – Schade, aber dies wird sicherlich modifiziert werden, hatte man ja dieses Jahr diverse dramaturgische Schwächen des Vorgängers exzellent umkonstruiert. So bleibt als Fazit, dass das unerhört! in größter Qualität und Inspiration nach wie vor die ganze Präsentationspalette der kontemporären Jazzkultur exzellent widerspiegelt und durch die hochlebendige Zürcher Szene auch selbst prägt, und dies in einer Kohärenz und Klasse, die in Europa ihresgleichen sucht. Beim kontemporären Jazz wird es dann interessant, wenn das Material komplex und ästhetisch reichhaltig und trotzdem konkret, präzise und druckvoll ist, und sich darüber hinaus durchaus als Hochkulturalternative oder gar -ersatz eignen könnte, von Gestus und Präsentationsform indes komplett davon abgeht. Genau für diese Impulse ist das unerhört! nach wie vor ein Garant und gleichsam bei aller Avanciertheit zuvorderst immer noch ein großartiges Jazzfestival.

(Jazzthetik)

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