COLDCUT’S ERBEN
Von Marcus Maida
Nur ein neuer Tag in Downbeatparadise? Nein, hier passiert wie immer einiges mehr. Das 1990 von Matt Black und Jon Moore aka Coldcut im Zuge der „Jazz Brakes Volumes“ gegründete Ausnahmeprojekt ist ein Musikkollektiv, in dem sich DJs und Produzenten die besten Bälle aus Jazz, Klassik, HipHop, Elektronika und mindestens einem Dutzend anderer Stile zuspielen. 1995 kam mit „Recipe For Desaster“ dann das letzte Autorenalbum des vielköpfigen DJ auf die Teller. Zwischendurch wurden Elvis Costello, David Byrne, Nightmares On Wax, The Herbaliser oder Coldcut selbst geremixt, bis sich jetzt der ausgebildete Tontechniker und Coldcut-Zauberlehrling Patrick Carpenter und Ninja Tunes-Grafiker Strictly Kev als einzige Repräsentanten und Organisateure des Food’schen Musikkosmos zeigen. Das Album entstand in einer Zeit von zwei Jahren, in der die beiden DJs, die ihre gemeinsamen Sets mit oft vier Plattenspielern als improvisierende Liveauftritte verstehen, u.a. nach Chicago kamen, wo sie Bundy K. Brown (Ex-Tortoise) und den mittlerweile 80 Jahre alten Jazzpoeten Ken Nordine trafen und in ihr Projekt einbanden. Nordines legendäre Stimme, die er sowohl unzähligen TV- und Radiocommercials wie auch den Grateful Dead lieh, wäre schon allein den Kauf dieses Albums wert. Dazu aber wird noch diese unglaubliche DJ Food’sche Produktionstrickkiste mit ihren phantasievollen Kniffen geöffnet, deren Tracks nicht nur zu bestaunen, sondern vor allem zu genießen sind: ausschweifende und punktgenaue Rhythmik, so tight, extrem und gelassen wie selten, hippe Bongos, kühle Bassloops und wilde Scratches, die sich in futuristisch wie retrospektiv visionären Klangtexturen aufs Spannendste miteinander vermischen und gegen Ende in atmosphärische ruhige Soundscapes hinübergleiten, was „Kaleidoscope“ einen überraschend entspannten Ausklang gibt. Dieses außergewöhnliche Album lässt nur einen Schluss zu: hier sind die Enkel und potenziellen Erben von Coldcut am Werk.
(Rolling Stone)