Rik Rue

EINE KURZE EINFÜHRUNG IN DIE WELT ACCORDING TO RIK RUE

Moers, Festivalsonntag 1997, früher Vormittag: Ich sitze mit Rik Rue in einem kleinen Hotelzimmer und versuche mit ihm, den klanggestalterischen Fokus seines Projektes „Social Interiors“ zu erörtern. Das australische Trio – die anderen Parts bestreiten das Gründungsmitglied der legendären australischen Experimental Rock-Gruppe „The makers of the dead travel fast“ Shane Fahey, professioneller Tontechniker und Berater im Bereich (Studio-) Akustik, und seit der letzten CD auch der junge Studiofuchs und Digitalmusikexperte Julian Knowles – produziert äusserst eigensinnige Ausnahmemusik: Klangstrukturcluster in vordergründig ruhigen, in Wahrheit jedoch eher bewegend-verstörenden Soundscapes von mitunter düsterer Schönheit, deren Klangatmosphäre absolut nichts von Esoterik, New-Age oder antiaufklärerischer Mystik enthält. Ganz im Gegenteil: die gezielt-wohlproduzierten Soundlandschaften basieren auf intuitiv und gleichsam präzise eingesetzten Samples, Cut-Ups, manipulierten Tapes und jeder Menge „enviromental sounds“.

Später sehe ich Rik im Festivalzelt mit der Gruppe „Machine for making sense“ live auf der Bühne agieren. „Machine“ – benannt nach einer ebensolchen in Jonathan Swifts Liliputstadt in „Gulliver“ – hinterliess in Moers einen nachhaltigen Eindruck und viele begeisterte ZuhörerInnen. Jim Denleys (sax, flute, reeds) quecksilbrige, quirlige Läufe, immer wieder unterbrochen von Interpunktionen und dezenten humorigen Ausbrüchen, wurden untermalt von der elektronisch abgenommenen und verfremdeten Drehleier und Violine von Stevie Wishart. Dazu lieferte Vocalistin Amanda Stewart Glanzvorstellungen ihrer Fähigkeit, Wörter in den Raum zu schleudern, zu zerhacken, zu dehnen, zurückschnappen zu lassen – die ganze Palette eben. Deutsche Wörter wie „Neoliberalismus“ und „Deregulierung“, die sich die überzeugte Anarchosyndikalistin morgens von mir noch übersetzen liess, wurden während der Performance sogleich in den rasenden und spritzenden Sprachfluss hineingeworfen. Und inmitten dieser höchst individuellen Klangerzeuger sass Rik Rue: an einem Tisch, ruhig, konzentriert und mit einem dicken Schalk im Nacken. Vor ihm zwei Mini-Diskplayer und eine Kollektion Disks mit obskuren, mitunter banalen aber stets prägnanten Klangfetzen und Rythmuspartikeln, die er – jederzeit präzise ansteuerbar – schmunzelnd in die Gesamtmechanik der „Machine“ hineinfallen liess wie kleine elektronische Bomben. Genauso, wie Rik hier auf der Bühne agierte, muss man sich seine Herangehensweise an Musik vorstellen: Immer wieder irritieren und sowohl Mitmusiker als auch Zuhörer leicht nervös machen. Soeben ist seine Solo-Platte „Sample / Shuffle / Interplay“ auf „Extreme“ erschienen: extreme Cut-ups, wahnwitzige Schleifen, Stösse und Sprünge, äusserst „mashed-up“: Musique Concrete der Jetztzeit, komplett zerhackt und collagiert – keine ruhige Sekunde! Manchmal fällt eine komplette Hauseinrichtung eine 100 Meter lange Treppe herunter, manchmal wetzt jemand ein Messer und zerschneidet dann stoisch auf einem Hackbrett einen jammernden Ton, um die Einzelteile anschliessend in eine Kanone zu stopfen und in einen imaginären Himmel zu ballern. Dabei rutscht er natürlich aus und reisst mehrere Plattennadeln gleichzeitig von diversen Playern. Und die Welt rülpst, lacht und quieckt. Töne sind buntscheckig, wie Insekten (die erste elektronische Musik, so Rik) kommen sie daher, es gibt kein Konzept, diese Klangwelt lebt und fordert heraus, sie amüsiert, fasziniert und fordert durch ihren unprätentiösen humoristischen Futurismus direkt zur Stellungnahme auf.

Fast vergisst man die Frage: Wo kommt sie überhaupt her?

Rik Rue ist ein Klangsammler. Schon früh begann er mit Tapeloops und Klangcollagen zu experimentieren und Abspielgeräte zu manipulieren, eine normale experimentalmusikalische Sozialisation halt. Irgendwann fing er dann an, Saxophon zu spielen, Coltrane, Ayler und Lol Coxhill waren zB. Bezugspunkte, aber um richtig gut zu werden, so Rik heute, reicht es nicht aus, seine Musik einfach als frei zu erklären, man muss die Instrumente zuhause beherrschen lernen. So wandte er sich der Imitation seiner Freeform-Helden ab und mehr und mehr der Manipulation von Sounds zu, aber sein wachsendes Interesse und sein spontaner Gebrauch der jeweils neuesten Technologien verband sich mit seiner ungebrochenen Faszination für improvisierte Musik. Rue ist bewusster Grenzgänger zwischen verschiedenen musikalischen Welten. Heute haben er und seine Mitmusiker Zugriff auf ein enormes eklektizistisches Soundarchiv, das die Erstellung sowohl fest strukturierter wie auch improvisierter Musik auf eine der faszinierendsten Arten der gegenwärtigen Klangarchitektur ermöglicht. Während bei „Social Interiors“ jedoch das Tonstudio das eigentliche Instrument ist und damit auch einen völlig anderen Klangfokus freisetzt – „Social Interiors“ ist wie Gas – Du kannst es nicht sehen, aber Du kannst es riechen, es ist da!“ – , ist Riks Solowerkzeug für seine zufallsbestimmten Dekonstruktionen besagte Minidisk. Er benutzt sie seit cirka 3 Jahren, denn irgendwann bekam er die Casetten leid. Disks sind klarer und flexibler, ihre Klänge lassen sich in Bruchteilen sofort loopen und ihr „Shuffle“ – also das Abspielen per Zufallseingabe – eignet sich hervorragend zur Improvisation. Weder Rik noch seine Spielpartner wissen, was als nächstes passiert – irrwitzige random-samples sind subversive oder vehemente Zündfunken für kollektives Zusammenspiel und abrupte Richtungsänderungen des Gesamtsounds. Diverse Projektarbeiten, u.a. mit dem fünftem „Machine“-Mitglied, dem Experimentaldichter und -vocalisten Chris Mann, zeugen davon, das „Mind/Body/Split“-Projekt oder Kollaborationen mit Jon Rose oder dem Schlagzeuger Tony Buck (The Exiles, The Necks). Das Material für sein Solo-Album sammelte Rik von 1995 bis 97 in Sidney, Amsterdam und Berlin: „Es ist cool, die Welt zu samplen.“ Der Müll wurde aussortiert, das Brauchbare gemastert, editiert und durch den Fairlight geschickt. Konzepte bestimmen seine Arbeit weniger. Bei dieser Platte wollte er das „zuviel-denken“ eher ein wenig verlieren. Wechsel, Zufall, Geschwindigkeit und Inprovisation sind die Parameter, unter denen diese Musik entstand. Und nicht zuletzt Humor: er liebt diese Einsätze, welche die unterbewussten Entäuschungen, jene Gefühle, die unmerklich das Denken färben, durch abrupten Wechsel und lächerliche, doch rettende Befreiungsschläge ad absurdum führen können. Der Umgang mit den gesammelten unterschiedlichen Klangmaterialien ist zudem ein permanentes Austesten und Neudefinieren der eigenen Fähigkeiten: einige Sachen sind so verquert und überraschend, da wäre einer allein nie drauf gekommen!

Die Musik von Rik Rue stellt innerhalb der Felder von improvisierter, elektroakustischer und elektronischer Musik eine Arbeitsweise dar, die heute, gerade nach dem grossen populären Boom der elektronischen Musik, zeitgemässer bzw. innovativer denn je ist. In ihr wird die Verbindung von Sampling, Loops und Improvisation auf eine selbstverständliche Art vollzogen, an der ja, nicht nur, aber gerade in Japan, sämtliche vom Sampling-Virus befallenen Kids mit ihren „total mashed up tracks“ sitzen sollen und die nächste Stufe eines innovativen digital-analogen Musikmixes intuitiv vorbereiten. Rik ist dieser kindlichen Naivität im Umgang mit der neuesten Musiktechnik und den daraus resultierenden überraschenden Ergebnissen viel näher, als es mehr oder minder ausgefeilte Avantgardekonzeptionen der letzten 30 Jahre je waren. Er hat sich eine durch vielerlei Erfahrungen natürlich gewordene Skepsis gegenüber Akademismus-, Avantgarde-, Galerie- und sonstigen „amtlichen“ Szenen erarbeitet. Er kreiirt seine Klangwelten abseits der ausgeleuchteten Avantgardeszenen, über die er natürlich gut informiert ist. Aber es kümmert ihn nicht sonderlich, er ist kein news- oder gossiphunter. An Berührungen mit neueren Entwicklungen innerhalb musikalischer Subszenen ist er jedoch klar interessiert, so mit der jungen Berliner Improvisationsszene um den (ex) Anorak oder auch an elektronischen Musikszenen. Als ich ihn in Moers traf, hatte er diverse Besuche von Berliner Technoclubs hinter sich, gestern erst traf er sich hier in Köln mit Carla von „Fetischpark“. Allerdings findet er mittlerweile die meiste Computermusik langweilig. „Wunderschöne Sounds, aber nicht viel Imagination. Die Leute verlieren sich scheinbar in den Maschinen, sie werden verführt, bis sie selber schon kleine Computer sind, mit Knöpfen zum drücken. Maschinen machen viel zu viel, dabei muss man tatsächlich seine Vorstellungskraft anstrengen, um es interessant klingen zu lassen.“ Hat er schon einmal daran gedacht, dekonstruierte Tanzmusik zu machen? Rik wiegelt den Kopf. „Ich mache mehr die Sachen für den Recovering-Room. Ich will nicht in dieser oder jener Mode leben. Ich glaube nicht an Schizophrenie. Ich glaube an Multiphrenie.“ Er lacht. „Aber ich trage keine Masken mehr, es ist zu kompliziert. Was Du hörst und siehst – das bin ich. Und in meiner Musik reflektiere ich das, weil mich Musik über 30 Jahre beeinflusst hat. Doch ich werde mich nicht mit den DJs messen. Ich kenne und verfolge das, DJ Spooky, Illbient…DJ Super, DJ Total Neu undsoweiter. Es ist eine andere Szene, mit anderen Zuhörern. Ausserdem bin ich kein Tänzer. Ich tanze in meinem Kopf.“ Ein Augenblinzeln. Und wieder lacht er.

AUSWAHLDISKOGRAPHIE:

Rik Rue – Sample / Shuffle / Interplay (Extreme / 1998)

Social Interiors – The world behind you (Extreme / 1994)

Social Interiors – Traces of mercury (Extreme / 1997)

Projekte (Auswahl):

Machine for making sense – Talk is cheap (Split Records)

Mind / Body / Split – If it’s not on it’s not on (Split Records)

Bit part actor (Split Records)

Split Records Email: splitrec@ozemail.com.au

Mit Tony Buck: Come let us build ourselves a city (algen / Berlin)

Ausserdem ist über Rik Rues Mailorder der Archiv-Backkatalog seiner „Pedestrian Tapes“ erhältlich, den er je nach Wunschtitel auf CD brennt.

Kontakt: Rik Rue / Pedestrian Tapes / PO Box 213 / Pyrmont / NSW 2009 / AUSTRALIA

(Jazzthetik)

Schreibe einen Kommentar