Bernocchi, Kondo, Laswell

KEEPING THE IMPACT

„Rythmus ist Melodie.“ Ryo Kawasaki

Und wir werkelten einen ganzen Winter lang, aber die Musik wurde immer wärmer. Eraldo Bernocchi ist fasziniert von den Möglichkeiten der organischen Implantation synthetischer Strukturen, die im Laufe der Zeit zu natürlichen Umgebungen werden. Zeit. Ein Kontinuum in abwägbarer Spanne zu durchschreiten ist ein Vorhaben, das durch kollektive Interdependenzen eine Eigendynamik gewinnen kann. Jede Hektik kann hier schnell etwas zu langsam machen, und jede Verlangsamung kann einen ungeheuren impliziten dynamischen und energetischen Schub innehaben. Die Prozesse mit gebührendem Abstand zu betrachten, ist dann noch etwas völlig anderes, denn die neugewonnene Sehweise ist Voraussetzung für den Ausgangsmoment, von dem schliesslich etwas Neues entstehen kann, und etwas lange Unausgesprochenes und Unartikuliertes erst Laut, dann Flüstern und schliesslich wieder Wort wird. Eraldo Bernocchi und Bill Laswell kennen sich seit 5 Jahren. Ihr „Somma“-Projekt lotete Texturen rythmischer Interdisziplinität und choralartiger Exegese, so von tibetanischen Mönchsgesängen, aus: schamanische Rituale verbanden sich mit elektronischen Studiotechnologien und wurden via Beats und Echokammern in die Jetztzeit transformiert. Laswell, lebende Basslegende, hingegen kannte Toshinori Kondo, lebende Trompetenlegende. Schon Mitte der 80er spielten die beiden mit Ryuichi Sakamoto im legendären „IMA“-Projekt zusammen. Kondo, der sich seit geraumer Zeit schon mit den Ergiebigkeiten der DJ-Kultur befasste, produzierte das 1998 erschienene Album „Ki-Oku“ mit dem japanischen Ausnahme-DJ Krush, der mit seinen minimalen und gleichsam psychedelisch-bewegten Beatpräzisionen das perfekte Bett baute, in dem sich die Trompete Kondos wohlig räkelte, schüchtern in die Bettdecke einwickelte, oder lüstern aus den Kissen lugte. Kondo, ein sehr eigenes Multitalent mit genauen Vorstellungen, der auch als Schauspieler und Schriftsteller arbeitet, ist vertraut mit den sonischen Texturen des Groove, vielleicht in letzter Zeit geradezu ein wenig süchtig danach geworden. Laswell, ein Fels in jeglicher Brandung, kann hier Rythmen geben, auf denen mensch ein Haus bauen kann. Fehlt nur noch jemand mit dem einzigartigen Gespür für Produktion, Atmosphäre und Impact – und das war Bernocchis Part. 1997 tat sich das Trio zusammen, um eine sehr freie und offene Form ihrer jeweiligen Vorlieben zu kreiiren, die dennoch in eine sehr präzise Form gebracht werden sollte. Hierfür war Bernocchi genau der Richtige. Legen wir also die Lupe ein wenig auf das quasi unbekannteste Mitglied desTrios. Der Italiener arbeitet schon seit langem an der Umsetzung seiner musikalischen Vision, die sich aus den Energiepolen „Impact und stetige musikalische Grenzverschiebung“ nährt. 1977 begann er als Punkgitarrist, der jedoch sehr anders spielte, als auch die meisten eher rockistischen Punker jener Zeit hören wollten. Nach ein paar Jahren war er total gelangweilt von jeglichen Schemata und beschloss, sich solo zu organisieren. Er experimentierte mit Tapes und Bandloops und erarbeitete sich musikalische Konzepte, die auf dem Boden des frühen Industrial sprossen. Er verwendete Dias, Filme und Videos bei den Liveauftritten, schrieb Bücher, und es ergaben sich Kontakte zu Psychic TV oder diversen japanischen Noise-Artists – die Transformation von Punk in Industrial ergab eine völlig andere konzeptuelle Herangehensweise und Kommunikationsstruktur, als sie in einer statischen Szene vorherrschte. Ab 1985 begann Bernocchi sich innerhalb seiner Band „Shiva Recoil“ mit der Elektronik zu beschäftigen, und benutzte rudimentäres analoges Synthesizerequipment, das mit den Collagetechniken früherer Tage verbunden wurde. Als sich die Band Anfang der 90 auflöste, kaufte sich Bernocchi einen der ersten erschwinglichen Sampler. „Ich bin jemand, der ein bisschen von allem macht, wie die meisten Leute, die mit Elektronik arbeiten.“ In der Zusammenarbeit mit Kondo und Laswell war Bernocchi derjenige, der den stimmigen Rahmen für das Gesamtprojekt erzeugte. Er ist ein sehr feinfühliger Produzent, der sich über die Jahre ein Gespür für die physikalischen Gegebenheiten einer Musik und die Arbeitsatmosphäre von unterschiedlichen Musikcharaktären in einem Studio erhalten hat. Und obwohl hier drei absolute Profis zusammenarbeiteten, ging es auch und vor allem um den „Impact“ und dessen Groove, den es zu erhalten galt. „Für mich ist der Gesamtsound einer Aufnahme sehr bedeutend, in ihm hörst Du die Seele der Musik. Der Sound muss etwas haben, sogar die kickdrum muss etwas Eigenes in sich sein. Elektronik und der Mix, das ist die Hauptsache. Und Mixen ist nicht nur Balanceregelung, sondern Teil der Komposition.“ Bernocchi weiss, dass viele Produzenten heute ausschliesslich mit Software arbeiten. Einerseits fasziniert ihn dies, andererseits aber erzeugt es nach wie vor Skepsis in ihm. Er benutzt zwar auch Cubase VST, aber er will damit das musikalische Material nicht automatisch arrangieren. Warum, kann er nicht genau sagen, wahrscheinlich aber, weil er letztlich jemand ist, der die Kontrolle über die Musik haben muss, indem er an Knöpfen drehen kann. „Ich brauche etwas, das knistert. Play and product – das ist meine Haltung.“ Musik per Software zu editieren und endlos virtuelle Fader herumzuschieben, sieht er eher als Gefahr: „Ich liebe die Elektronik so sehr, ich weiss genau, ich würde mich endlos in diesen Strukturen verlieren.“ Bernocchi zeigt sich als äusserst informierter Kenner von elektronischem Equipment und kann durch eigene Erfahrung genau sagen, warum er zb. immer EMU einem AKAI-Sampler oder einen YAMAHA einem ROLAND-Keyboard vorziehen würde – einige Geräte stehen für totale Perfektion, klingen aber zu kalt, „Krankenhaus-Klang“, wie er sagt. Was die Geräte angeht, klingt er vielleicht snobistisch, aber ihm ist es letztlich wichtig, dass der „Impact“, also die Stossrichtung, der Musik nicht verlorengeht: wie bei klassischen Jazz-Aufnahmen soll der Vitalität und dem Fluss des Spiels nicht durch allzuviel Arrangements die Frische genommen werden. Auf „Charged“, dem aktuellen Ergebnis der Bernocchi-Kondo-Laswell Zusammenarbeit, ist trotzdem Einiges arrangiert worden. Bernocchi sampelte sein eigenes Guitar-Treatment und Kondos Trompete und liess die Sounds rückwärts durch die Effektkiste laufen. Die Beats wurden hauptsächlich programmiert, Laswell hingegen spielte seinen Bass live, der aber an einigen wichtigen Stellen angepasst wurde. So klingen die Stücke sehr tight und haben in ihrem groovigen Fluss einen ausserordentlichen Listening-Charakter gewonnen. Das meiste auf „Charged“ jedoch kann unzweifelhaft als Breakbeat bezeichnet werden. Bernocchi liebt die Grundidee von Drum and Bass – die Freiheit der Beats und der Bassline – , erkennt aber auch, dass das Genre zur Zeit nicht so richtig weiterkommt. „Charged“ soll nun kein Blueprint für eine neue Entwicklung sein, das können und wollen die drei Eminenzen nicht leisten. Jedoch soll es eine Variante darstellen, in der sich die verschiedenen Klang- und Rythmusfarben dreier verschiedener Musiker mit unterschiedlichem Alter und Herkunft zu einer stimmigen Legierung verbinden, die als zeitgenössische Interpretation von funkig-jazziger Musik taugen soll. Drum und Bass sieht Bernocchi durchaus vergleichbar mit den Anfängen des Jazz, es gab keine festen Strukturen, sondern verschiedene Varianten derselben Idiome. „Die Sprache, die wir sprechen, ist eine andere als die von bestimmten Produzenten, aber es ist jedem möglich, unsere Intention zu verstehen.“ Produziert und aufgenommen wurde die Platte in den New Yorker „Turtle Tone“-Studios. Ich frage Eraldo Bernocchi, ob es für ihn nicht Sinn machen würde, nach New York zu ziehen. Doch mit diesem Gedanken hat er längst abgeschlossen, die Umzugskosten sind zu hoch und das Leben ist dort allgemein zu teuer. Da bleibt er lieber im malerischen Castagneto Carducci in der Toscana, wo er mit seiner Freundin, einer Künstlerin und Grafikdesignerin, und mit seinen Hunden und Katzen lebt und sich die Bands aussuchen kann, die wegen einer Produktion bei ihm anklopfen. Oder er trifft sich mit seinem Freund Mick Harris, um für „Scorn“ etwas neues zu produzieren. „Die Hälfte des Jahres verbringe ich sowieso in New York“, sagt er, „aber hier ist es einfach schöner“.

(Jazzthetik)

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