PROGRAMMED
Francesco Mora – Drums / Craig Taborn – Keyboards / Rodney Whitaker – Acoustic Bass / Tassili Bond – Acoustic Bass / Paul Randolph – Vocals, Guitar, Electric Bass / Alan Barnes – Flute / Michael Smith – Violin / Frank Rotundo – Theramin / Matt Chicoine (aka Recloose) – Add. Programming / Dave Castanien – Add. Programming / Lacksi-Daisy-Cal – Random Poetry / Carl Craig – Programming & Conducting / Blakula -Crazy Shit
Produktion und Mix: Carl Craig
Toningenieur: Chris Andrews
Planet E / Talkin Loud / Universal
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Mit „Programmed“ erscheint kurz vor dem Ende des Jahrhunderts ein Meilenstein in der Geschichte des Jazz. Jazz? Was ist das überhaupt, kurz vor dem Ende des Jahrhunderts? Und warum sind es augenscheinlich so viele Protagonisten aus dem Territorium der sogenannten elektronischen Musik, die hier Neudefinitionen wagen und mit der grössten Selbstverständlichkeit im Umgang mit Form und Inhalt und dem grössten Respekt vor dem einmal Erreichten zu Werke gehen? Und dabei das neuerschaffen, was Jazz immer schon ausgemacht hat: Freiheit. Spontanität. Spiritualität. Carl Craig ist trotz seiner jungen Jahre das, was man ohne zu zögern als „Altmeister“ bezeichnen kann. In der Vergangenheit produzierte der Detroiter bahnbrechende Tech-House-Tracks unter dem Namen „Paperclip People“ („Throw“), als „69 Project“ tanzbare Breakbeats, als „Psyche“ Ambient-Exkursionen und sog, geschult u.a. vom noch älteren Altmeister Derrick May („Strings Of Life“), die Essenz des „Sound of Detroit“ ein und atmete sie gelassen und stilsicher wieder aus: Rythmus und Spiritualität. Bereits 1992 brachte Craig das Stück „Bug In The Bass Bin“ heraus (vom begeisterten James „Mo‘ Wax“ Lavelle in diversen Versionen wiederveröffentlicht), ein früher Blueprint für das, was später offiziell unter dem Namen „Drum And Bass“ zugespitzt, verfeinert und perfektioniert wurde. 1999 dann „Programmed“, das vor allem eine waghalsige Frage zulässt: Ist Carl Craig der Sun Ra des Techno? Aus einem Jazztrio entwickelte Craig das „Innerzone Orchestra“, dessen offensives Konzept „Anti-Jazz“ zurückgeht zu den Wurzeln von totaler Freiheit und offener Spiritualität, denn was Jazz betrifft, so Craig, befinden wir uns heute in einem seiner düstersten Zeitalter, wofür er Kenny G und die Folgen nennt – Fahrstuhlmusik ohne Energie und Konzept. Craig sieht sich definitiv nicht als Jazzmusiker, jedoch in der Rolle eines Arrangeurs, Direktors, Komponisten und Dirigenten der besten Jazzer, HipHopper und sonstiger Improvisateure, dessen Aufgabe es ist, Sounds, Strukturen und Konzepte für die Musiker zu entwickeln. Craig „programmierte“ die Musiker wie eines seiner grossen Vorbilder, Miles Davis, es einst live auf der Bühne tat: er gab Signale, mutete Spuren, änderte Rythmus und Direktion des Spielflusses und setzte das Material anschliessend wieder zusammen. Innerhalb des Studios wurde die Musik redefiniert – die Improvisation der Improvisation. Der ehemalige Sun Ra-Drummer Francesco Mora wurde mit seinen Erfahrungen aus Musique Concrete und Free Jazz ein wichtiger Mentor für Craigs Weg. Wenige Technoproduzenten haben sich derart offensiv auf Jazz nicht nur als ideelen Einfluss bezogen, sondern haben das Prinzip direkt als „workform“ in ihren Produktionen verwendet. Aber für Carl Craig ist Jazz kein Gimmick oder eine Frischzellenkur für den in die Jahre gekommenen Techno. Er nimmt Jazz derart ernst, dass er ihn für seine Definition davon ohne mit der Wimper zu zucken zerpflückt. Im Jazz ging es schon immer um die „Missachtung territorialer Integrität“ (Ornette Coleman), aber dem „Innerzone Orchestra“ ist mit „Programmed“ eine grossartige Vision einer kompakten Zukunft gelungen, die Jazz zurück in die Zukunft entwickelt – nicht historisch zurück, wie Carl Craig betont, sondern sehr weit nach vorne. Für Purismus und musikalisches Nationalstaatsdenken ist kein Platz im Jazz, für den immer nur galt: es muss gut sein. Und es ist. Sehr.
(Jazzthetik)