DO CYBORGS CROON OF SYNTHETIC DREAMS?
„Ich lache über die, denen das Natürliche über alles geht.“
Gio Battista Armeni, 1578
I. flesh & blood
So also sieht er aus. Uwe Schmidt, Lassigue Bendthaus, Atomu Shinzo, Lisa Carbon, Datacide, VSVN, Machine Paisley oder vielleicht auch Atom Heart. Livehaftig habe ich ihn immer, und wenn auch nur um Haaresbreite, verpasst. Dafür habe ich bereits zwei ausführliche Telefoninterviews mit ihm geführt, einmal, bevor er in seine derzeitige Wahlheimat Chile ging, Herbst 1996, und dann, als er das erste Mal von da zurückkam, im Frühjahr 1997. Ich wusste daher: er hat eine menschliche Stimme. Seitdem gab es immer wieder elektronische Lebenszeichen von ihm und das Versprechen auf ein sagenumwobenes reines Coverversionenalbum. Dessen Materialisation brauchte 6 Jahre. Jetzt ist es da: „Pop Artificielle“. Das Material: Superbad / James Brown. Be near me / ABC. Sunshine Superman / Donovan. The Future / Prince. Jealous Guy / John Lennon. You are in my system / The System. Ashes to ashes / David Bowie. Thatness and Thereness / Ryuichi Sakamoto. Silence is golden / The Tremeloes. Und so sieht Uwe aus: smart, wie ein elektronischer Mod.
Und das hat er zu sagen.
II. as a principle
„Ich komme nicht vom Jazz, hatte lange nichts damit zu tun, aber mein Interesse lag ab einer bestimmten Zeit im Formellen. Nicht musiktheoretisch, sondern: es ging um die Essenz von Jazz. Vom allgemeinen Begriff zu den verschiedenen Begriffen.“ Uwe ging es um das intuitive Erfassen von musikalischen Funktionen, das war für ihn immer wichtiger als amtliche territorialverteidigende statische Definitionen. Das gilt für Jazz genauso wie für elektronische Musik, wenn bei letzterer nicht noch schlimmer und blinder: dass Techno schon längst mit Rock codiert ist, was nämlich die soziale Phänomenologie belangt, die es verhindert, Material ohne die Einbettung in den sozialen Kontext zu betrachten. Es geht, wie immer, um das Prinzip Jazz. Das Studio von lb wurde so verkabelt, dass die Maschinen mit ihm improvisierten. Gewisse Parameter eingeben, verändern, editieren, an der Festplatte rausschneiden, was nicht passte – „so wie bei Miles Davis auch“. Was das Prinzip ausmachte: Improvisation. Spannung. Intensitäten. Intuitive Fähigkeiten schulen. Lernen, auf diese zu bauen, ihnen vertrauen zu können. Monk. „Dieses spezielle Interesse für Jazz hat sich etwas gelegt und ist in das übergegangen, was ich generell mache. Es geht darum, bestimmte Techniken zu erlernen. Die Sache mit der Intuition und Spannungserzeugung muss nicht unbedingt was mit Jazz zu tun haben. Es geht auch um Sachen wie Symmetrie. „Pop Artificielle“ ist eine Analyse von Pop. Verschiedene Komponisten haben unterschiedliche Vorstellungen von Symmetrie in einem Stück. Und das Wissen, die Intuition darüber, ist nun bei mir hängengeblieben.“
III. pop music
„Bei der Analyse der Titel habe ich festgestellt, dass jeder Titel ein Fortsatz der Persönlichkeit des Musikers ist. Die Art, wie die Noten angeordnet sind, und die Texte geben 1:1 Informationen über den Musiker selber.“ Die Frage ist natürlich, wie das Material ausgesucht wurde und in welchem Sinne die Persönlichkeit des Musikers bzw. dessen Ästhetik von Relevanz für Uwes eigene Arbeit war, die sich bislang von relativ monotonen technoiden bis hin zu komplexen und abstrakten bis hin zu filigranen perkussiv-funkigen Strukturen gemorpht hat. „Ich habe überhaupt nichts theoretisch ausgewählt. Es hat sich im Nachhinein über die Jahre vervollständigt.“ Das Material wurde unanalytisch ausgewählt, trotzdem ist es, soviel wird bald klar, kein Coveralbum von etwaigen obskuren ‚favorites‘. Die Stücke haben also nicht automatisch jenen autobiographischen Bezug, den man erwarten könnte. „Jedes Stück hat einen anderen Trigger bei mir ausgelöst, bei manchem, zb. „The Future“, reichten bestimmte Sätze, um das ganze Stück machen zu wollen. Manche Elemente fand ich gar nicht gut und wollte sie auch nicht übernehmen, fand sie aber gerade deswegen interessant. Das ABC-Stück fand ich schon immer gut, das Stones-Stück, ehrlich gesagt, überhaupt nicht. Aber es hat was getriggert bei mir, und ich konnte mir das update dazu ziemlich gut vorstellen. Zumal: es ging auch um eine strukturelle Entscheidung für das Gesamtbild, und da wollte ich so einen Rockballaden-Prototyp nehmen und den in einen ziemlich obskuren Kontext stellen, der weder den Stones, noch den Leuten, die elektronische Musik hören, gefallen dürfte. Zuerst musste alles analysiert werden: Notesheets besorgen, die meisten Dinge samplen und loopen und analysieren. Manchmal ging es ziemlich schnell – das ABC-Stück hat 4 oder 5 Noten, die Lyrics sind fast Null -, Donovan ist ja auch simpel gestrickt, anderes hingegen wurde unerwartet komplex. Sakamoto erschien anfangs sehr simpel, wurde dann aber so kompliziert, dass ich Hilfe bei einem versierten Freund holen musste.
Ich arbeitete sehr intensiv an jedem Stück, die Analysen dauerten 3 Tage bis zu einer Woche, die Auseinandersetzung wurde sehr intensiv. Und plötzlich merkte ich, dass es nicht nur Popstücke sind, die alle gleich klingen, sondern völlig unterschiedlich sind. Der ganze Ansatz, diesen Raum zu füllen. Man lernt sehr viel über den Charakter, oder über die Idee der Schönheit. Und von unterschiedlichen Konzepten von Pop. Das habe ich so gar nicht erwartet.“
Uwe Schmidt muss musikalischen Formen auf den Grund gehen. Antipoden. Antagonismen. Dialektiken. Parametervergleiche. Früher extrem fasziniert von den Polen künstlicher und natürlicher Intelligenz, fokussierte sich seine Arbeit in letzter Zeit darum, neben der Komplexität eine Vitalität, Spannung oder einen ‚impact‘ in elektronischer Musik zu erzeugen, der den Intensitätsschüben und Spannungsbögen des Jazz verbunden ist. In Costa Rica zb. faszinierte ihn die ungeheuere Dynamik und Präzision einer live auftretenden Dorfkapelle so sehr, dass dieses „Aha“-Erlebnis ihn anspornte, ähnliches in einer musikmaschinellen Struktur zu erzeugen. Ihn interessiert, die Essenz einer Musik herauszufiltern und damit innovativ zu operieren. Warum ist gerade dieses Popmodell für den Komponisten so interessant, was sind die Parameter dieser Essenz, und wie lässt sich Vitalität damit weiter errechnen?
„Die Komplexität in der Popmusik verschwindet – warum? Warum hat ein Musiker keine Fähigkeit mehr, einen Song zu entwickeln? Ich sehe das ja auch bei mir – es ist eine Tatsache.“ Hast Du selber mal Songs geschrieben? „Ich bin gerade dabei. Aber mit dem Wissen, das ich aus „Pop Artificielle“ gelernt habe, und das ich auf eine andere Ebene bringen will. Es geht um Komplexität und die Auflösung einer klassischen Popstruktur, ohne diese ganz aufzulösen. Zum Beispiel: durch ein Popstück, das sich permanent verändert in allen verfügbaren Parametern. Bis der Refrain kommt. Aber auch der könnte dann verändert sein, zb. in Tempo und Harmonie, und trotzdem identisch sein mit dem, was vorher passiert ist.“ Und das, bitte nicht vergessen, in 3 bis 4 Minuten. In Uwe Schmidts Arbeit geht es um eine Transformation von (genrebedingten) musikalischen Grundstrukturen, die in neue Modelle hinüberführen sollen, welche die alten virtuell und lebensfähig nachbilden bzw. in diese implantiert werden sollen, auf dass die Essenzstruktur in ihrer Funktion nicht mehr auf einen organischen oder artifiziellen „Ursprung“ zurückgeführt werden kann. Im Freeze hat dann eine in allen Parametern logisch nachvollziehbare Evolution stattgefunden, deren vorläufiges Ergebnis vom Ausgangspunkt jedoch völlig verschieden ist. Das Aktionsmodell ist ein morphendes Konzept.
IV. Kalter Schweiss, exakt dosiert
Für die Vocals auf „Pop Artificielle“ verwendet Uwe Schmidt eine Software namens „raw“, die er speziell dafür entworfen hat. „raw“ ist zum Teil Software, zum Teil Hardware und zum Teil Handarbeit. Der Entwurf war notwendig, da er eine bestimmte Idee hatte, wie die Vocals klingen sollten: entemotionalisiert. Bei „Superbad“ war es zb. dieses soul-fulle, von dem er das genaue Gegenteil wollte. Das Ziel war die Synthetisierung von Emotion. In den 80er Jahren gab es bereits Projekte, die ähnliches intendierten: die „Flying Lizards“ mit ihren ernüchternden Coverversionen von „Sex Machine“ und „Purple Haze“, zb., und auch „Devos“ Version von „Satisfaction“ gehört in diese Linie. Für sein Endneunziger Update dieser Version musste Uwe Schmidt nun eine Technik entwickeln, die es erlaubt, seine Stimme in sein Konzept zu übersetzen. Also keine natürliche Stimme, keine interpretierende Stimme. Sondern die Stimme als Instrument. Als Rohmaterial. Das System „raw“ wurde über die Jahre entwickelt und nahm letztendlich eine handhabbare Materialisation an. Zuerst wurde auf Festplatte gesungen, dann gab es ca. 20 Schritte der Verfremdung wie Komprimieren, Zerschneiden usw.. Ganz am Ende wurden die einzelnen Silben jedes Wortes herausgeschnitten. Das „a“ von „Superbad“ hat dann zb. die Länge von 0,1 Millisekunde, die Wellenform dieses „a“ ist 0,001 Samples lang. In dem Moment, wo dieses Minibit von „a“ geloopt wird, klingt es immer noch wie ein „a“, aber es wird synthetisch. Eine stehende Wellenform, mit der sich präzise Akzente setzen lassen. Einige Stücke wurden komplett so bearbeitet („Angie“), einige wurden Mischformen, einige wurden gar nicht bearbeitet („Thatness and Thereness“). Die exakte Digitalisierung des Analogmaterials und die präzise Kartographie der Emotionen lassen die Komplexität des Projektes deutlich werden. „Ich musste einfach eine Technik entwickeln, um diese Heidenarbeit effizient zu machen.“
V. that was then but this is now
Warum hat Uwe Schmidt gerade „lb“ als Image für dieses Projekt einer Poptransformation benutzt? Weil er unter diesem Namen aus seinen vielen Pseudonymen seine ersten Sachen überhaupt gemacht hat. Und schon vor 6 Jahren war ihm klar, dass er diese Platte machen würde. Das Ergebnis ist für ihn eine logische Konsequenz und auch ein Abschluss einer Entwicklung. Er sei ein „anal“, sagt er, eine Person, die immer alles geradegebügelt haben will, ein Pingeling, der alles ordnet und der es nicht mag, wenn etwas nicht so wird, wie er es sich vorstellt. Das damalige Konzept „EBM / Techno“, mit dem er damals anfing, stecke heute in einer Sackgasse. Zur Zeit arbeitet er an verschiedenen Konzepten, ein Projektstrang, der sehr wichtig für ihn ist und vielleicht „Pop“ in seinem Sinne werden könnte, wird – vielleicht – die nächste „Atom Heart“. Viele Projekte auf „Rather Interesting“, seinem Label, sind derartige Forschungsschritte. „Ich hoffe, die Platte ist auch ein Trigger für andere Musiker, was „Pop“ angeht, dass sichtbar wird: „Da kann es auch hingehen.“ Speed Garage, Drum & Bass – das sind alles immer noch Tracks. Und deshalb langweilt es auch eigentlich.“ In der Tat wird gerade innerhalb vieler Drum & Bass-Szenen in einer Art virtuell-kreativen Warteschleife darauf gewartet, dass andere Sounds und Klangfarben kommen, die wechseln wie die Jahreszeiten.
Die Struktur hingegen wird nicht angetastet.
Ist der Titel der Platte denn nicht ein latenter Widerspruch in sich, da „Pop“ in der Regel oft mit „künstlich“ konnotiert wird? Welchen Begriff von „Pop“ hat Uwe Schmidt? „Pop ‚an sich‘ hat noch nie jemand definiert“, antwortet er. „Alle Musiker beziehen sich unbewusst auf Strukturen oder fangen an, per Formel Songs zu machen. Im Pop gibt es viele Komponenten, aber keine ist es, abstrakt, künstlich oder ‚artificielle‘ zu sein. Bei Pop geht es mehr um Sinn, zb., oder um Emotionen, oder darum, eine story zu erzählen.“ Spätestens bei dieser Aussage wird „Pop Artificielle“ zum Zerrspiegel einer atomisierten Popkultur. Denn die Definition von „Pop“ ist immer noch ein wesentlicher Bestandteil der aktuellen Musikbetrachtung, darin es tonnenweise Altlasten und Widersprüche gibt. Die von „lb“ gecoverten Stücke sind nämlich bereits einem eher „klassischen“ Popkanon zuzuordnen, der auf bestimmte Popphänomene der 90er gar nicht mehr greift. Bestimmte Modelle werden als Avantgarde gesehen, die bei „advanced listeners“ bereits schon im klassischen Sinne als „Pop“ ankommen. Gleichsam gibt es Popmodelle, die, klassisches Beispiel Rythm’n Blues, Echtheit und Authentizität konnotieren, obwohl dies immer noch innerhalb einer popindustriellen Imagecodierung geschieht. In diesem übertragenen Sinne ist Techno der Blues von heute. John Lee Hooker ist zb. Jeff Mills, und Elvis ist Blümchen. Techno-Hardlinerpuristen agieren innerhalb ihres Kulturrahmens ähnlich wie Blues-Authentizisten: die Musik muss „pure“ sein. Uwe Schmidt weiss um all diese Prozesse sehr genau Bescheid. Aber was bewirkt in einem derartigem widersprüchlichem Rahmen die schmidtsche Parameterveränderung? Etwas fängt an und morpht sich über einen bestimmten Zeitraum zu etwas völlig anderem, aber jeder Schritt lässt sich, falls nötig, logisch und in minutiöser Akribie zum Anfang zurückverfolgen. Verläuft der Paradigmawechsel „analog-digital“ zyklisch? Und gibt es für Uwe Schmidt eine klassische, überzeitliche Popstruktur? Er bejaht dies. Und doch hat für ihn der 50er und 60er-Pop eine ganz andere Ästhetik und Sensibilität als heute, obwohl die Struktur immer noch dieselbe ist. Innerhalb der 12 Noten auf dem Keyboard hatten die Musiker damals jedoch ungleich mehr Sensibilität, die Formel – ein zentraler Begriff der Popanalyse – zu füllen. Heute dagegen lässt sich ein Popstück mit einem Chord und einer Melodie füllen. „Meine Analyse ist: was ist die Ästhetik der 90er? Mich interessiert weder Techno, noch dass, was heute als Pop firmiert. Meine Message ist, damit zu brechen, was gerade passiert. „Pop Artificielle“ ist gerade ein Schritt für mich. Und ich habe eine sehr starke Vorstellung von dem, wo es hingehen könnte.“
VI. Konzepte und Formeln und deren Konfrontation
Innerhalb des Konzeptes von „Pop Artificielle“ gibt es eine Propagierung eines „composition vs. combination“ – Prinzips. Darunter versteht Uwe Schmidt seine Überlegungen zum Prinzip „song vs. track“. Durch Techno erlernte er eine Klangästhetik und -technologie, die ihn über die Jahre dazu brachte, nach dem darin erreichbaren Grad von Komplexität zu fragen. Sein derzeitiges Studio ist extrem reduziert, er arbeitet nur noch mit Sampler und Computer, die zur Komposition gar nichts beitragen. Eines der Probleme bei elektronischer Trackmusik ist für ihn: es wird zuviel Akzent auf Technologie gesetzt. Ständig gibt es neue Soft- und Hardware, aber gerade bei „Pop Artificielle“ wurde deutlich, dass diese beim Prinzip „Komposition“ einfach nicht helfen kann. Es gibt keine Software, welche die Parameterdefinition für „Angie“ übernahm. Um diese zu erfahren, braucht es auch keine Musikmaschinen ausser Sampler und Harddiskrecorder. Sonst nichts. Und dem Wissen, wo man hinwill. Uwe Schmidt geht es stets um Komplexität und Dichte. Dafür möchte er die Prinzipien Komposition und Kombination gerne etwas vermischen. Das ebenfalls propagierte „vive l’art pour l’art renaissance“ bedeutet, dass es innerhalb dieses Konzeptes ausschliesslich um Musik geht. Es geht nur um Konzepte und Formeln und deren Konfrontation. Durch die bedingungslose Intention, nur im Material zu arbeiten, soll ausschliesslich die künstlerische Form weitergebildet und jeglicher ausserästhetischer Bezug ausgeschlossen werden. Im besten Sinne, so ergänze ich, damit auf das Material keine falschen oder unangemessenen Projektionen gemacht werden. Uwe Schmidt bestätigt dies. Es gehe ihm in seiner musikalischen Arbeit nicht um einen sozialen Kontext oder eine historische Aussage, sagt er, sondern letztendlich um eine reine Ästhetik und der Kreiirung von schönen Formen. „Letztendlich geht es nur um einen ästhetischen Fortschritt. Und nicht darum, Musik mit soziologischen Formeln zu triggern. Und das ist ein statement.“
VII. „Hinter der Konstruktion von Theorien steht auch Leidenschaft“
Sherry Turkle, 1986
Freue dich auf die falschen Erinnerungen deiner Zukunft.
(Jazzthetik)