ES BRAUCHT VIEL MUMM
Wir erinnern uns, Matthew Herberts Musik oft als eine vorrangig sensorienöffnende Kunst wahrgenommen zu haben. Da war zum Beispiel Housemusik, die, Sie verzeihen, deinen Arsch streichelte, in zunehmendem Maße auch durch vokalbasierte und klassisch-melodische Jazzidiome verführte, oder projektbasierte originelle Eigenbrödler-Elektronik, wo Geräusche des alltäglich stattfindenden Lebens enggeführt und in Struktur gebracht wurden, so dass Ohr und Zwerchfell gerne im Gleichtakt hüpften. Angesichts der Bühnenshows sowieso: ein rasender Samplewirbelwind, der das Verhältnis von Elektronik und Improvisation mit lebhaftester Unterhaltungsdialektik neu zu definieren wusste. Wie Herbert immer bewusster mit seinem Quellenmaterial umzugehen lernte, gleichsam die politische Dimension und die Subtexte seiner Musik immer mehr zunahmen und seine aktueller Form ausgerechnet bei Big-Band-Jazz ankommt, erzählen wir mit hoffentlich aufschlussreichen Einblicken in die Psyche des normalerweise isoliert arbeitenden zeitgenössischen Produzenten hier und jetzt.
Die Sehnsucht nach der Gemeinschaft
Matthew Herberts musikalisches Konzept entspringt im Grunde einer romantischen Haltung, ist aber zum Glück mit dem Willen zur Selbst- wie Fremdaufklärung und der damit verbundenen Kommunikation ausgestattet. Also keine Isolations- und Autarkiemythenmaschine, sondern Abwendung von der parzellierten Computerproduktion und konsequente Hinwendung zu einer kompakten bandorientierten musikalischen Praxis. Die Matthew Herbert Big Band, die letztes Jahr bereits in Montreux konzertierte, legt nun mit „Goodbye Swingtime“ ein bisweilen gar an Gil Evans’sche Arrangementklasse erinnerndes und äußerst dicht klingendes Jazzorchester-Album vor, dem es gelingt, dieses nostalgiebehaftete Genre zugleich zu umarmen wie zu demythisieren und dekonstruieren. Für ein besseres Morgen, denn Herbert codiert Machart und Impetus der Musik explizit politisch und verweist damit nerdige Liebhaberdiskussionen zunächst einmal auf die hinteren Plätze. Es ist nur Musik, aber… es soll weit darüber hinausgehen. O-Töne von Anti-Kriegs-Demonstrationen werden subtil eingearbeitet, Texte von Noam Chomsky, Stephen Zunes, Milan Rai, John Pilger, Greg Pallast oder Michael Moore werden auf hintergründige Weise in Andeutungen mit der Musik zu einem politischem Subtext verknüpft, an dem die Hörer weiterarbeiten sollen. Es scheint, dass der Irak-Krieg direkten Eingang in diese Musik gehalten haben soll, doch dies hört man der Musik keinstenfalls an, was natürlich Fragen aufwirft. Ich treffe den übernächtigten Produzenten – zwei Stunden Schlaf hat er hinter sich, eine Aufnahmesession in London gleich morgen bevor sich – im Büro der Berliner Agentur Che-Che-Images, die, nomen est omen, als werbewirksamer Dienstleister mit anironisiertem politischem Image auf dem Markt der Inhalte unterwegs ist. Es scheint, als ob die aktuelle Sehnsucht nach Gemeinschaft ganz bestimmte Formen, oder besser Formeln benutzt.
Unfälle, keine Zufälle
„Wie das meiste in meiner Arbeit ist auch dieses Album weniger Konzept als vielmehr Unfall. Meine Arbeit besteht in großen Teilen daraus, die kreative Umgebung dafür zu schaffen, in dem diese positiven Unfälle passieren können. „Bodily Functions“ war auf eine sehr subtile Weise auch ein politisches Album, sehr personalisiert, nahezu egoistisch, denn ich sah sehr nach innen. In Interviewsituationen, vor allem in Deutschland und Frankreich, wurde ich mir dann noch klarer darüber, das dieser politische Hintergrund im nachhinein nicht wirklich Sinn machte, denn ich musste tatsächlich alles erklären. Es gibt Subtilität, und es gibt die Möglichkeit, auf eine interessante Art einen Punkt zu setzen – letzteres habe ich, denke ich, nun gemacht. Ich denke nicht negativ über meine alte Arbeit, aber ich erinnere mich, als ich in Interviews sagte: ich will nicht Lieder über Mc Donalds oder Starbucks machen, weil ich meine Arbeit nicht billig machen will, indem ich diese Namen erwähne. Ich blieb bei meinem musikalischen Ausdruck, denn das ist letztlich alles, was ich in der heutigen Zeit beitragen kann. Doch als die Dinge und Ideen in mir zu gären begannen, kam der Punkt, wo ich aufhörte, mir über Klang als Klang Sorgen zu machen und mich vielmehr fragte, wo der Klang überhaupt herkam. Und so kam ich an den Punkt, wo ich nicht mehr daran interessiert war, ein von einem Tisch fallendes Buch zu sampeln, sondern eben ein ganz bestimmtes Buch. Es sollte absolut explizit sein, das Vage sollte vermieden werden. Ich ging sehr von einer Punk-Ästhetik aus, „homemade“, sehr aggressiv, gerahmt mit den Komponenten der Tanzmusik, und schließlich folgte ich meiner Vision mithilfe der PCCOM-Regeln, die ich einst schrieb (Herberts legendäres Sample- und Produktions-„Dogma“ zur Selbstdisziplinierung und Aufrechterhaltung von eigener Originalität und Kreativität). Doch dieses Album ist so verdammt enorm, es ist mehr als das. Ich setzte mich ans Klavier, holte tief Luft und schrieb die Musik, die ausdrücken sollte, was in meiner Umgebung abgeht (Im Orig: „What’s going on in my enviroment“ – Herbert zitiert, wahrscheinlich unabsichtlich, den Titel des Pop-politischen Klassikers von Marvin Gaye, die Parallele ist jedoch zu frappant, um sie unerwähnt zu lassen). Kennzeichnend für das Album ist die Spannung zwischen Harmonien und Ideen. Und die Texte sind sehr explizit politisch, sie handeln nicht von Liebe, sie handeln alle auf die eine oder andere Weise von George Bush. So konnte ich aufhören, über die Sounds nachzudenken, und mich auf Bücher und Inhalte konzentrieren.“
Dem Arrangeur ist nix zu schwör
Was für den Produzenten Erleichterung wie Öffnung zugleich war. Zunehmend informierter und bewusster über Prozesse der neoliberalen Globalisierung und dem neoimperialen Drängen der US-Regierung geworden, begann Herbert seine Version von zeitgemäßen Protestsongs zu erstellen. Dabei ging der Impuls, ausgerechnet Bigband-Musik als Ausgangspunkt zu nehmen, zunächst auf drei solchermaßen arrangierte Stücke aus seiner Scoremusic für das Breakdancemusical „Le Defi“der Französin Blanca Li zurück. Ein wesentlicher Helfer und Impulsgeber hierfür war der Musiker und Arrangeur Peter Wraight, der Bruder von Herberts Assistenten John Wraight. „Peter ist nahezu die Hälfte des Projektes. Die Platte mit jemand anderem könnte genauso gut sein, wäre aber absolut und komplett anders. Die Leute wissen nicht, was ein Arrangeur wirklich macht.“ Herbert seufzt. Er selbst kannte nur einige der Musiker wie den Jazzpianisten Phil Parnell aus New Orleans, seinen „Klavierlehrer“, der mit „Do your living in the night“ letztes Jahr ein erstes, von Herbert beeinflußtes elektronisches Album veröffentlichte, sowie Bassist Dave Green und zwei der fünf Saxofonisten. Das insgesamt 20köpfige Ensemble wurde ab dem Frühjahr 2002 zusammengestellt und ist seitdem konstant, so Herbert. „Die Liveshows waren mit die einfachsten Sachen, die ich je machte. Sie waren so professionell. Auch das Album nahmen wir sehr schnell auf, in insgesamt vier Tagen in den Abbey Road Studios, wir hätten es in drei machen können. Die finanzielle Ausgangslage war gegeben, vor 10 Jahren hätte ich es nicht machen können, ich war auch nicht gut genug. Jetzt aber war die Zeit reif, und auch die Gemeinschaftsidee sehr attraktiv für mich. Elektronische Musik ist sehr egozentrisch geworden, dagegen wollte ich angehen, Jazz hingegen ist sehr elitistisch…diese Besessenheit der Improvisation, oder der herausforderndste und avantgardistischste und brillanteste Spieler zu sein. Die Schaffung einer wirklichen musikalischen Gemeinschaft hingegen war etwas sehr aufregendes für mich, zudem ein Ding, das uns helfen könnte, den nächsten Krieg zu verhindern.“ Klingt sehr ambitioniert. Ist dies deine Idee eines Kollektivs? „Ich hatte eher die Idee eines Gebäudes. Chrysler zB. plant ein neues großes Gebäude, und sie füllen es mit kreativen Menschen, um mit deren künstlerischen und sensiblen Impulsen eine lebendige Umgebung zu schaffen.“ Also verwendest du die dieselbe Struktur? „Nein, diese Gebäude sind sicherlich sehr hierarchisch strukturiert, und ihre Architektur spiegelt das, denke ich, wieder. Die Architektur, die hingegen für ein kollektives Projekt denkbar wäre, sollte vielmehr so etwas wie eine Farm sein, das war so eine Fantasie (lacht). Das Bigband-Projekt fühlt sich wie der Anfang von so etwas an. Es sind 30 Leute auf dem Album, über 100 Leute helfen es zu vertreiben und zu verkaufen, und von diesem Aspekt fühlt es sich viel kollektiver an, als zuhause alleine vor dem Computer zu sitzen.“
Führerschaft vermeiden
Diesen wichtigen Schritt, nicht nur für den Künstler Matthew Herbert, sondern für die angemessen erkannte und realisierte kollektive Utopie – und entspringt diese nicht zunächst immer einer romantischen Fantasie? -, betont Herbert später im Gespräch noch einmal etwas anders, als er behauptet, dass schon die unabhängige und vollständige Kontrolle über Vertrieb, Lizenzierung, Verlagsrechte und Live-Auftritte eine soziale Aussage, ja nahezu ein politisches Statement sei. Auch wenn das für unabhängig arbeitende Label nun wirklich nichts Neues ist: eine derartige Konsolidierung bei einem so ambitioniertem Projekt sollte Matthew Herbert, der sich tatsächlich sorgt, dass er seinen Musikern nicht genug bezahlen kann, tatsächlich Respekt einbringen. Inwiefern standen die Musiker denn auch hinter dem politischen Konzept des Albums? „Sie haben das Endergebnis noch nicht gehört. Zwei haben die Re-interpretation gehört und waren positiv geschockt. Insgesamt ist es ziemlich fair zu sagen, dass sie nicht komplett informiert waren. Klar, sie zerrissen Zeitungen mit Artikeln über den Irak-Krieg – ich sampelte das -, auch erzählte ich vom Konzept, und wer ein Problem damit gehabt hätte, der wäre sicherlich gegangen. Ich denke, sie waren einfach sehr glücklich, dass jemand etwas anderes in ihrer Welt gemacht hat. Musik ist oft so eine sichere Umgebung und eine derartig bequeme Gewohnheitssache, gerade wenn du klassische Bigbandmusik spielst…(Herbert wird versonnen)…ich schwörte mir, niemals in einem Interview Robbie Williams zu erwähnen, aber auf deine Frage ist es wohl unumgänglich. Ist das etwa herausfordernd? Und sogar wenn ich die falsche Person bin, orchestralen Jazz zu machen, und die Musiker es hassten, ich denke, sie mochten den Prozess. Weißt du, es braucht viel Mumm, mit 20 Leuten, die du nicht wirklich kennst, im Studio zu arbeiten. Es war so eine Situation, wo du denkst: sie hätten nur nein zu sagen brauchen…aber wenn du den Mumm nicht hast, zu fragen, bewegt sich die Welt nicht weiter…du musst die Herausforderung annehmen.“ Wenn wir über die Struktur einer Bigband reden: wir haben über das neue Chrysler Building gesprochen, und wie sich in ihm eine hierarchische Struktur widerspiegelt. Wie bist du dann das Problem angegangen, die typische Bigband-Leadership zu umgehen oder damit umzugehen? „Der Hauptpunkt war, mich bereits bei den Aufnahmen tatsächlich ziemlich unsichtbar gemacht zu haben. Es gab inmitten dieser brillanten Musiker eh nicht so viel zu tun für mich, außer die Elektronik und die Aufnahmen zu betreuen. Ich habe nicht dirigiert oder arrangiert. Peter begrüßte zu Beginn die Musiker und sagte dann „Oh, übrigens, das ist der Komponist!“ – mehr war da nicht, der Komponist ist nicht sehr relevant, ich hielt mich wegen des gemeinschaftlichen Ausdrucks unaufdringlich zurück, wohingegen bei der Live-Umsetzung mein Instant-Remixer-Einfluss ungleich dramatischer ist. Später, in der Privatheit meines Studios, alleine bei der Bearbeitung, hatte ich viel mehr Kontrolle. Die krummste Sache ist noch der Name des Projektes, das deutet noch auf diese Leadership-Sache hin. Aber das ist auch eine rein praktische Sache des Plattenlabels, um das Projekt offensichtlicher zu machen und besser vertreiben zu können. Denn für viele Leute wird es eine komplett andere Herbert-Platte sein, und durch diese Markierung lassen sich Enttäuschungen vermeiden.“
Swing when you’re loosing
Ich denke, dass du ein Fan von Bigbands bist? Wäre zumindest interessant, falls das nicht so wäre. Herbert zögert. „Nicht wirklich…obwohl ich offensichtlich viele Sachen gehört habe. Meine Lieblingsjazzplatte ist „Miles ahead“, Miles und Gil Evans, eine Bigband-Platte, aber es könnte eine klassische Platte sein, nicht notwendigerweise von der Struktur her, sondern von der Atmosphäre. Was ich an Bigbands mag, ist die Live-Erfahrung, wenn die Band swingt, und der Klang gut, kraftvoll, emotional und wirklich zusammen ist. Der Grund, warum ich mich in melodischen und harmonischen Aspekten in Richtung Jazz bewege, ist, dass die Bigband für mich eine viel Jazz-mässigere Form als zB. ein Trio präsentiert.“ Ich verstehe, ein Trio konnotiert und transformiert, obwohl es natürlich genug Gegenbeispiele gibt, häufig Blues und Rock…“Genau, oder auch einige Solospieler, es wird dann ziemlich gewöhnlich. In einer Bigband aber hat alles passend und gutgeformt zu sein.“ Magst du diese Präzision, oder wolltest du versuchen, sie später durch den elektronischen Prozess zu dekonstruieren?“ Da versuchte ich, jedes Stück unterschiedlich zu behandeln. „Everything’s changed“ (dessen grossartiger Crooner-Gesang übrigens von keinem anderem als dem geerdeten Elektronik-Freigeist Jamie Lidell stammt, d.V.) ist zB. viel mehr ein Soulsong. Hier nahm ich die ganze Band auf und ersetzte später im Studio diverse Elemente, auch rhythmische, durch Elektronik – und es klang wirklich billig (lacht), wie Müll! Es ist wirklich hart, den richtigen Live-Drive zu finden, und es kostet auch Geld!“ Und the three w’s? “Das ist das einzige Stück, das nur in meinem Studio produziert wurde…klingt wie ein Intro, besteht aber aus 80 verschiedenen Teilen, Samples und Keyboards. Es ist meine Definition davon, wie moderne Musik positioniert sein sollte. Der gesampelte Computerdrucker druckt Seiten der Website www.soaw.org aus, auf der die Zusammenarbeit der US-Regierung mit lateinamerikanischen Diktatoren deutlich gemacht wird, und kommuniziert so die politischen Inhalte, um die es mir geht. Hier hatte ich mehr Freiheit, den Bigband-Sound zu zerhacken und sogar den Rhythmus zu programmieren. Ich bin gar kein Fan von Live-Drummern, aber bei einer Bigband kannst du nicht darauf verzichten.“ Eine Bigbandplatte bei einer Abneigung gegen Livedrummer? Immer wieder überraschend, dieser Herbert, und immer wieder interessant, wie sehr er den puren Materialitätsaspekt betont: abgeklärt, nüchtern…und durchdacht. Und gerade darin steckt die Leidenschaft. Warum hast du dann überhaupt den Bigband-Sound als politische Metapher und Konzept verwendet? Warum der heute eher konservativ-konnotierte Swing? Normalerweise wurden und werden diese Konzepte ja eher mit Free Jazz in Verbindung gebracht, aber das war keine Wahl für dich? „Ich bin kein großer Fan von Free Jazz. Ich denke, es ist wichtig, aber es ist nicht etwas, das meine Welt informiert, und dieses Bigband-Konzept ist Ausdruck dieser absichtlichen Unfälle, über die ich am Anfang geredet habe: viel passiert unbewusst, zufällig. Ich meine, du wählst diese Unfälle, sie sind keine Zufälle…aber es ist ein Zufall, dass diese Bigband wirklich zum Leben erweckt wurde. Wir leben in einer Gesellschaft, die der Tradition keinen Wert beimisst. Doch der Aspekt, den ich an Bigbands wirklich mag, hat eher mit Handwerk zu tun: alles muss niedergeschrieben sein, muss konstruiert sein, es muss Integrität haben – und alles muss zusammen arbeiten.“ Das Duke-Ellington-Ding? „Ja, genau, jede Person hat eine Rolle und Verantwortung dafür, wie die ganze Sache klingt.“ Mein erster spontaner Gedanke beim Hören des Albums vor dem Hintergrund seiner politischen Intention war: warum wählte er die Musik des Feindes? Herbert versteht mich sofort und lacht laut auf. „Ich weiß genau, was du meinst. Ich habe wirklich an fast alles gedacht bei dieser Platte, und es ist so komisch, wenn jemand das sagt. Aber es ist Musik, doch ich weiß genau, was du meinst. Jedoch ist auch House-Music amerikanisch, und mein Telefon ist sogar von Siemens, die halfen, die Gaskammern zu entwerfen. Deine Frage ist ein sehr interessanter Punkt. Vielleicht zeige ich hier wirklich meine Wurzeln, Glenn Miller, meine erste Banderfahrung machte ich als 14jähriger Pianist in einer Schul-Bigband.“ Swing Musik ist stark mit dem zweiten Weltkrieg verbunden… “Vielleicht bringt uns die Musik zu etwas zurück, was gut an den USA war, als sie nicht nur eigennützig handelten…nein, Unsinn, wir sollten das verwerfen, die USA waren schon damals egozentrisch…(murmelt unverständliches)…“ Warum aber die Ausrichtung „Goodbye Swingtime“? „Sie soll hinwegführen von der Assoziation von Bigbands als dekadent und opulent. Stattdessen soll sie auf Respekt und differenziertes Sehvermögen verweisen, Detailbetrachtungen zulassen und keine Distanz zu der politischen Situation erzeugen, in der das Album entstand.“ Interessanter Gedanke: Bigbandmusik als Soundtrack zu den Protesten gegen Globalisierung und New World Order? Swing when you’re loosing.
Politik. Bisschen noch.
Seine Buchangaben – das fertige und hochaufwendige Coverartwork verweist auf nicht weniger als 100 Texte – erklärt Herbert so: „Ich wollte ohne Slogans arbeiten, daher diese Angaben, woher ich meine Ansichten habe. Die Leute sollen sich daran anstoßen und selber weiterforschen. Die Songtexte aber sollten über die emotionale Ebene wirken. Die Funktion der Texte ist Teil des Mediums, Teil des Prozesses. In der Vergangenheit hatten Songtexte nicht diese Bedeutung für mich. Ich wollte sie nicht abstrakt machen, aber auch nicht spezifisch, eher funktional, aber auf eine emotionelle Weise.“ Beeindruckende Beispiele hierfür sind zB. „Fiction“, wo Arto Lindsay charmant-nervös über die Verwirrung von Fakten und Fiktionen nachsinnt, oder der Song „Chromoshop“, in dem Dani Siciliano elegant als eine Art zeitgemäße Lotte Lenya mit ihrem Konsumverweigerungstext wie durch ein Bigbandarrangement von Hanns Eisler marschiert. Aber bezüglich der sehr spezifischen und exakten Hinweise und Subtexte, die in der Musik versteckt sind: sieht Herbert da nicht die mögliche Gefahr, zu den Bekehrten zu predigen, oder dass die politischen Hinweise sogar so gut untergebracht sind, dass sie nahezu versteckt sind? Der Effekt wäre letztlich wie ein Protest-Zuckerguss auf einer schön klingenden Platte – und ist das nicht wieder zu subtil, geradezu beruhigend subversiv? Ich wäre zB. nie ohne Hinweis darauf gekommen, dass die Texte sich um Bush drehen sollen. Ist das nicht ebenfalls Propaganda-Projektion? Doch Herbert ist ganz Künstler und über alle Zweifel erhaben: „Das ist ok, ich denke nicht, dass alles nur eine Bedeutung haben muss. Ich versuche, eine künstlerische Reaktion im Hörer auf verschiedenen Ebenen zu erreichen. Nimm zB. die Platte und spiel sie auf einer Cocktail-Party ab: kein Problem, weder dort, noch für mich. Der Prozess handelt davon, den Hintergrund der Bezüge herauszufinden. Dies ist Teil der Wirkung, und ich hoffe, das kann die Platte erreichen, mehr, als wenn sie offensichtlich explizit wäre. Wenn du in die „National Gallery“ gehst, siehst du auch ein Bild, ohne den komplexen historischen und kulturgeschichtlichen Hintergrund zu kennen. Aber das Bild wirkt auf dich, auch ohne seinen ganzen Subtext. Und darum geht es mir. Das vermindert die politische Wirkung nicht.“
„Goodbye Swingtime“ ist bei Soundslike/Zomba erschienen.
(Jazzthetik)