Nur ein toter Hippie ist ein guter Zombie

WARUM DER MYTHOS VON WOODSTOCK STERBEN MUSS, DAMIT WIR WEITERLEBEN KÖNNEN.

„Ich bin ein guter Indianer“, sagte der Sage nach Commanchen Häuptling Tosowi zu US-General Sheridan im Jahr 1869. Dieser antwortete: „Die einzigen guten Indianer, die ich gesehen habe, sind schon tot.“ 100 Jahre später fand im 4000-Seelen-Ort Bethel, 150 km von New York, mit Woodstock und seinen fast 500.000 Besuchern das einfluss- und mythenreichste Festival der Popkultur statt – und der gute Hippie ward geboren. Keine 10 Jahre später wandelten die Punks den Brutalo-Sager Sheridans für ihre Zwecke um: „Nur ein toter Hippie ist ein guter Hippie.“ 40 Jahre später ist das erneut Geschichte: Sie leben! Angesichts der plakativen Grabenkämpfe und subversiven Wertungswandel in einer postmodernen Kultur heißt es auf einmal: volle Deckung, Woodstock kommt wieder! Warum?

Warum Woodstock? Und warum das automatische Trommeln auf Jahresendziffern als kulturellem Denkmal? War nicht erst letztes Jahr 1968? Schon ab 2005 gab es in Liverpool, Frankfurt und Wien die „Summer of Love“-Ausstellung zum Thema Gegenkultur und Psychedelia-Ästhetik zu sehen, letztjährig reichte der Reigen dann vom beinahe Oscar-gekrönten „Baader-Meinhof-Komplex“-Film von Edel/Eichinger zu beispielsweise 68er-

Ausstellungen in Frankfurt/Main, Berlin oder Essen, und sogar in der Hochschule Leoben erinnerte man sich „1968 – When I was young“. Und just als wir dachten, schön, das haben wir nun also hinter uns, kommt diese ranzige Urgroßmutter aller Rockfestivals um die Ecke und wird aufgehübscht, angehippt und neu eingekleidet. Hippie-Zombies als subversive Popkultur-Wiedergänger inmitten von Bankencrashs, Umwelt-Gaus und Casting-Shows – wie bitteschön soll das denn gehen Anno 2009? Die Popgeschichte hat viele mythische Orte. Gegenwärtig reale Geographien auszumachen, führt indes bald an die Peripherie statt in die vermeintlichen Zentren oder gleich in die dezentralisierte virtuelle Megalopolis des Internet. Daher ist ein erdig-handlicher und schön schmieriger Mythos wie Woodstock ja auch so hilfreich zum Aufwärmen der oft kaltgewordenen sozialen Glieder und zum Auffrischen des allerorts virulenten Politik-bzw. Solidar-Alzheimers: Woodstock ist eine Kirche der Erinnerung an die Utopie der Popkultur als Gegenkultur. Der Popmythos hat hier noch einen realen Ort: eine Pilgerstätte und ein historisches Schlachtfeld des Friedens. Seit 2008 thront in den Catskill Mountains über dem natürlichen Amphitheater von Yasgur’s Farmwiese aber keine wirkliche Kirche, sondern, natürlich: ein Museum. Künftige virtuelle Popgenerationen werden dagegen in realiter regelrecht ortlos sein.

Doch auch Geschichte wird gemacht, und Pop ist alles andere als eine auralose Kultur, daher ist es notwendig, die konstruierten Nostalgielieferungen und Patinaproduktionen von Love and Peace 2009 zu hinterfragen, um einem der größten, originärsten und ältesten popkulturellen Mythen überhaupt entgegentreten zu können. Woodstock 69 enthält viele Ungereimtheiten, Widersprüche und Missverständnisse, die aber letztlich alle dialektisch-produktiv in einer erstaunlich friedfertigen dreitägigen Massen-Sedierung zugunsten einer lange anhaltenden Aura aufgelöst wurden. Woodstock präsentierte zum ersten Mal die Aura des Nichtkommerziellen in der Popkultur bei größtmöglicher Reichweite und Vermarktung. Die vier Initiatoren des Festivals bildeten eine zeittypische Schnittmenge aus Idealisten und Hip-Kapitalisten: zwei waren szenegeschulte Musikchecker und Söhne reicher Eltern, zwei waren alternative Businessmen auf der Suche nach neuen Geschäftsideen, die sich vom Golfplatz kannten. Woodstock war das erste wirklich große soziale Signal der Subkulturindustrie an den Mainstream, in dem sich popkulturelle Dissidenz vom amorphen Idealismus der Einzelnen zur massentauglichen Identitäts-Marke wandelte – und damit selbst zum neuen Mainstream werden konnte. Das Festival war die Verkündigung, das Triple-Album als Multiple die Bibel, der Film dann die Messe. Wer den Film sah, konnte sich zumindest als Hippie fühlen und sich rekrutieren lassen: das Medienereignis markierte die symbolische Gründung der Woodstock-Nation als State of Mind. Der Höhepunkt der Hippiekultur als eine widersprüchliche und hochkreative Avantgarde war 1967 indes bereits überschritten, Woodstock war schon ein medialisiertes und inszeniertes Ereignis einer dissidenten Konsenskultur. Das Festival markiert den sichtbaren Punkt, als sich Protestkultur in Popkultur transformierte. Die Gegenkultur wurde in ein hedonistisches massenkompatibles Wir-Gefühl umgemünzt, ihre individuellen und authentischen Grundlagen wurden sloganisiert, markiert und normiert, dann setzte das popkulturelle Branding ein. Damit ging selbstredend auch die öffentliche Signalsetzung einher: Woodstock machte die Hippie-Moral erst wirklich publik und effektiv. Logisch: Underground kann nicht jahrelang in der Ecke schimmeln und dann noch irgendwelche soziale Relevanz beanspruchen. Der gesellschaftliche Effekt, den Woodstock als weithin sichtbarer Marker hatte, lässt sich nicht leugnen: der Woodstock-Effekt war nicht nur die Markierung und Kommerzialisierung der Gegenkultur, sondern auch eine radikale Einschreibung in die Gegenwart inklusive aller Netzwerke von Nachhaltigkeitsprojekten. Die ökologische Bewegung fing genau hier an, nicht nur organisatorisch und autonom aktiv, sondern vor allem populär zu werden, ebenso wie die Institutionalisierung von Bürgerrechten, Frauenrechten und der Anti-Kriegs-Bewegung. Gleichsam ist heute auch klar geworden, wie sehr Woodstock als popkultureller Event der definitive Schwanengesang der Hippies als Gegenkultur war, das Altamont Free Festival, das als Westküsten-Pendant vom Manager der Rolling Stones organisiert wurde, ihr Todesstoß, danach kam ihr Mainstream als Massenkultur. In den 70er Jahren wurden die einstigen Hippie-Ideale dann in Karikaturen, nischenbedingte Normen und kundenfreundliche Comic-Szenarien umgewandelt.

Warum aber Woodstock 2009? Warum keine Erinnerung an die Festivals Woodstock II von 1994, das schon eine ziemlich üble Kommerzabzocke war, aber 1999 von Woodstock III als einem Nu Metal/White Male-bestimmten Festival noch negativ übertroffen wurde, als bekannt wurde, dass dort mehrere Frauen vergewaltigt worden waren, u.a. als während des Auftritts von Limp Bizkit mehrere Männer eine Frau direkt vor der Bühne vergewaltigten, im Moshpit Fans schwer verletzt wurden und auf dem Gelände Randale und Gewalt herrschten? Wer hat heute warum überhaupt noch ein Interesse an Woodstock? Es geht natürlich, völlig korrekt, um alternativ-ergänzende Archivierung, Geschichtsschreibung und Kulturpolitik, aber vor allem soll auch der ‚Spirit’ lebendig erhalten werden. So bezeichnet sich die permanente Ausstellung in Bethel aufgrund der Interaktivität, die das Festival-Erlebnis nachbilden möchte, als eine Revolution unter den Museen. In New York gab es bereits 2003 im renommierten State Museum ein Ausstellungsfestival: alte Recken musizierten, drei der Veranstalter diskutierten, jede Menge auratische Objekte wie Ex-Veranstalter Michael Lang’s Motorrad oder originalgetragene Klamotten von Festivalbesuchern sowie Fotos von Elliott Landy wurden gezeigt. 2004 fand in der NYer Morrison Hotel Gallery eine weitere Ausstellung von Landys Fotos und denen von Rock-Fotografen Henry Diltz statt. Dann war Ruhe bis zum nächsten runden Erinnerungstermin. 2009 nun soll der konservierte Geist abermals aus der Flasche: da wäre der neue Film von Ang Lee „Taking Woodstock“, eine Ausstellung im westdeutschen Attendorner Südsauerlandmuseum, die sich nicht als Festivaldokumentation, sondern als Aufarbeitung der künstlerisch-ästhetischen und politisch-sozialen Ideen der späten 60er versteht, sowie natürlich diverse Musikfestivals. Das von Michael Lang auf dem Berliner Flughafen Tempelhof geplante zweitägige Free-Concert mit Original-Künstlern ist derzeit abgesagt, sein New Yorker Event indes soll stattfinden. Das seit 1995 in Polen stattfindende „Haltestelle Woodstock“-Festival ist, ebenfalls absolutely kostenlos, aber mit ungleich unbekannteren Acts, dafür u.U. mehr Spirit, heuer in Kostrzyn, und für 2010 plant Ur-Veranstalter Artie „Father of Woodstock“ Kornfield mit dem „Imagine“-Festival in Kanada die Rückkehr von Woodstock für die ‚Green Generation’. Zusätzlich soll unter http://www.woodstock.com/ eine Online-Community und ein soziales Netzwerk entstehen, wobei mit Lang und Rosenmann erneut zwei der Ur-Veranstalter am Start sind. Zudem soll eine Facebook-Community mit mindestens 500.000 Teilnehmern erreicht werden. Und dann gibt es natürlich noch das Grazer Modell „absolutely free“, das Woodstock offensichtlich als Initiationsmoment für die Schaffung einer zeitgemäßen lebendigen sozialen Skulptur und den damit verbundenen Interventionen im öffentlichen Raum sowie als Hintergrund für diskursive Hinterfragungen zur Popkultur verstehen und aktivieren möchte. All diese disparaten Ansätze des Umgangs mit dem Mythos haben letztlich eines gemeinsam: scheinbar soll mit dem Woodstock-Bezug die identitätsstiftende Kraft und das politisch-utopische Potenzial von Popmusik noch einmal beschworen und diskutiert werden. Aber genau dieses mythische Potenzial sollte gleichsam hinterfragt und letztlich real transformiert werden, denn erst, wenn der mediale Mythos vom guten Hippie als einem guten Popkultur- und Kapitalismusverweigerer tot ist, dann darf er als subversiver Zombie auch wieder auf die Bühne der Popkultur und der Gesellschaft kommen und seine Umwelt lustvoll beißen und infizieren.

Die Popkultur geht schon längst nicht mehr in einem neohegelianischen Progress voran, sondern wuchert vielmehr im Sinne eines Krebsgeschwüres, ganz ohne Idee oder Intention eines möglichen progressiven ‚Weiter’. Der Subversiv- und Dissidenz-Pop beispielsweise ist wie ein Zombie geworden: eigentlich erledigt und begraben, kommt er immer wieder zurück, jedes Mal aber anders und gefährlicher, denn er umarmt uns in liebevoller Erinnerung an vergangene Zeiten, beißt uns jedoch dabei kräftig in den Nacken, und wir können nicht erkennen, wie abgestumpft und tot er in Wirklichkeit ist. Aber, wie wir aus dem letzten Zombie-Kapitel „Land of the Dead“ wissen, sind Zombies oft nicht nur resistenter als wir, sondern mitunter auch lernfähiger und möglicherweise die Urform einer Transformation des Lebendigen, die ihre Künstlichkeit natürlich als Natürlich empfindet. Nach dem realen Verlust der Utopie erleben wir nun in der Popkultur die marketingtechnische Projektion auf seine virtuellen Wiedergänger: Der Zombie des Sozialen. Die Projektion des Politischen. Die ungebrochene Produktion von Sexyness. Diese Zombies haben wir heute vor uns, wenn wir durch ein selbst zu schlagendes Pop-Loch auf Woodstock zurückschauen, und sie auf uns zu torkeln sehen. Der gegenwärtige Blick auf Woodstock und ein angemessener Umgang damit sollte daher vor allem anti-nostalgisch sein und damit arbeiten. Das geht nur, wenn man den Mythos killt, den historischen Kontext jedoch radikal aktualisiert und ihn auf einen sozialen bzw. öffentlichen Raum loslässt und schaut, was er heute dort anrichten kann und welches subversive Potenzial er dort erreichen könnte.

Erst dann können die Mythen-Hippies samt ihren realhistorischen Idealen und Aktionen zu brisanten zeitgenössischen Popmonstern werden, die als hochinfektiöse Love-Zombies durch die Straßen und Wälder wandeln. Und erst wenn der letzte Hippie gestorben ist, werdet ihr sehen, dass Pop auferstehen und sich selber essen wird.

Zum Weiterlesen:

Jan Feddersen: Woodstock. Ein Festival überlebt seine Jünger. Berlin 1999

Frank Schäfer: Woodstock `69. Die Legende. St. Pölten / Salzburg 2009

(Falter)

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