unerhört! Festival Zürich 10 Jahre – Festschriftbeitrag

HÖRT UNER HÖRT

Von Marcus Maida

(Text zur Jubiläumsschrift „unerhört! 10 Jahre. Zum Jubiläum des Zürcher unerhört!-Festivals“, Zürich 2011)

KLANG UND BEDEUTUNG

Jazzfestival. Es klingt wie es klingt. Für die einen: bildungs-bärtiger Genussjazz inkl. Rotwein und Schwarzbier. Für die anderen: State-of-the-Art, kreativ-offene Herausforderung und das Prinzip Hoffnung in der musikalischen Wüste. Für die einen: seelsorgerisch-sichere Bewahrung der Vergangenheit für die Statik der Gegenwart. Für die anderen: sinnlich-bewusster Aufbruch ins Unsichere und permanente Bewegung im und ins Hier & Jetzt. Vieles Heutige trifft sich genau in der Dialektik der Mitte. Haltlos-gesichert, radikal-gemütlich, traditionell-innovativ. Was und wie genau hören wir denn da eigentlich?

Jazz ist Jazz ist Jazz ist Jazz. Bei jeder Wiederholung verändert sich die Bedeutung. Gegenwärtig inmitten von immer noch beschleunigender postmoderner Stilauf- und unterteilung und intensiv-produktiver ästhetischer Indifferenz erst recht. Dass ein Jazzfestival heute ein 10 Jähriges erlebt, ist keine Selbstverständlichkeit. Das Zürcher Unerhört hat es geschafft. Wieso, warum – wie machen die das? Und was zeichnet dieses Festival aus, was macht es zu etwas Besonderem?

KLANG UND BEWEGUNG

Zunächst: Bewegung – und dies nicht nur in der Musik. Das Festival selbst bewegte sich von den Randzonen der Stadt allmählich mitten in sie hinein. Die Anfänge schwankten zwischen Heftigkeit und Besinnlichkeit, das Fest war kurz und stand am Rand. Über die Jahre fanden Veränderungen statt: das Fest wurde länger und ausgiebiger, die Partnerschaften weiteten sich aus, und neue Spielorte wurden erschlossen: nicht nur geografisch, sondern vor allem auch sozial bedeutsame.

Am Anfang war die Rote Fabrik: inmitten eines (ehemaligen) Zentrums der Gegenkultur und des Aufbruchs entstand das Festival. 2006 reichte es bereits in die Stadt hinein: das Moods, der innerstädtische urbane Jazzclub, wurde involviert, doch es ging noch weiter: das Theater Stadelhofen, das Altenheim Bürgerasyl Pfrundhaus, das Museum Rietberg, das mittlerweile den Rahmen für die Eröffnung bietet, die Workshops und dazugehörigen Konzerte an der Zürcher Hochschule für Musik, die Verbindung zur Luzerner Hochschule, und schließlich das aktive Hineingehen in die Schulen, wo viele Junge zum ersten Mal mit der improvisierten Musik in direkten Kontakt kommen können.

KLANG UND RAUM

Schule & Altersheim, soziokulturelles Zentrum & ein Museum außereuropäischer Kunst – vielfältig und sinnfällig wie selten sonst wird während dieses Festivals unerhört gute Jazzkultur gelebt, vermittelt und verbreitet, und man hat neben dem ästhetischen Anspruch auch noch gehörigen Spaß dabei.

Heute ist das Unerhört in der gesamten Stadt präsent, und doch bleibt es bewusst dezentral – es verteilt sich mittels größtmöglicher Sichtbar- und Zugänglichkeit bei größtmöglicher Kohärenz und Konsequenz an alle Interessierten.

Das Unerhört ist ein nomadisierendes Haus – ein Haus mit wechselnden Räumen. Obwohl es fixe Örtlichkeiten sprich programmatische Konstanten darin gibt, ist es von seiner Ausrichtung her ein jeweils neu dramaturgisiertes Festival in Progress. In mancher Hinsicht lassen sich – bei allen Unterschieden – Verbindungen zu den Festivals der Berliner FMP (Free Music Production) ziehen (partiell auch zu Moers). Diese verstanden sich am Anfang dezidiert als Anti-Festivals zum herrschenden Betrieb, bei denen es bewusst nicht um Namen und die dahinter stehenden Hypes ging, sondern in Folge vielmehr um die konsequente Abbildung und gleichzeitige Entwicklung einer Ästhetik. Eben auch darum geht es beim Zürcher Unerhört. Es ist einer potenziellen Rolle als Anti-Festival indes längst entwachsen, erfindet sich stetig neu, justiert hier eine Kleinigkeit, navigiert dort ein wenig anders und lässt den Prozess dann einfach geschehen. So stellt es mittlerweile ein selbstbewusstes, starkes und sozial-sensibles Modell für eine authentische Präsentation von und einen ebensolchen Umgang mit improvisierter Musik dar, das bei aller Variation niemals seine Identität verliert.

KLANG UND MUSIK

Was es ist: Jazz’n Improv in Erweiterung, Randzonenbegehungen und Grenzgängereien zu Neuer Musik, Weltmusik und auch experimentellen Pop- und Songwriterspezies. Und gleichsam bleibt konsequenterweise vieles draußen. Das Unerhört ist nämlich entgegen diverser Jazzfeste keine Mogelpackung, sondern ein wirkliches solches – und damit ist eigentlich fast alles gesagt. Denn es gibt immer noch zu viele Festivals, die sich Jazz nennen, sich dann aber mit großen Namen aus dem Mainstream auffetten. Sie möchten gerne aktuell sein, liefern dann aber nur die fade Hochglanzversion einer Anrufung vergangener Geister ab.

Das Unerhört hingegen ermöglicht veritable Live-Definitionen des avancierten und zeitgemäßen Jazz. Und hierbei geht es nicht um die Beschwörung eines zugestaubten Begriffs von Avantgarde – das ist ein Missverständnis derer, die den Jazz immer noch aufteilen wollen in ‚pflegeleichten Genussjazz’ und ‚anstrengenden Kunstjazz’. Wirklich zeitgenössischer Jazz hingegen speist sich aus einer lebendigen Dialektik aus intensiv vorgetragener Direktheit und durchdachter Komplexität. Radikale Impulsivität sollte bei aller Stärke und Freiheit des Ausdrucks intelligent und soulful sein, Komplexität hingegen muss rollen und begeistern. In den Sternstunden, die das Unerhört oft genug präsentierte, verbinden sich die unterschiedlichsten Haltungen und Elemente zu einem neuen, noch unerhörten Klangereignis.

Programmierungsfixpunkte und gute Konstanten sind dabei freie Solo-Radikale, Big-&-Work-Band-Exkursionen, Great Black Music Roots, verdiente Improv-AktivistInnen im Team mit jungen SpielerInnen, komische Käuze, klangforschungsbeseelte Detailarbeiterkollektive und tighte Combos. Die hochlebendige Zürcher Szene verbindet sich hierbei ganz natürlich mit internationalen kontemporären JazzprotagonistInnen. Der Austausch wird gesucht, ein profiliertes miteinander Schwimmen auf ähnlichen Wellenlängen forciert. Heute passiert Musik in den Nischen, und das Spannende in den Details – und genau das bildet das Unerhört integrativ ab und dynamisiert es.

KLANG UND KOLLEKTIV

Bei aller musikalischen Qualität ist es aber noch etwas anderes sehr Besonderes, was das Unerhört so bemerkenswert macht. Das Team, derzeit besteht es aus fünf Leuten, erträgt offenbar keinen scheinbar besserwissenden (und in Wahrheit oft nur herumstümpernden) Checker-Chef, dafür aber: sein eigenes Kollektiv. Pro und contra, Auseinandersetzungen, Konstruktivität, Einigung, Basisdemokratie – das sind die Parameter, aus denen sich hier ein stimmiges Programm bei grundsätzlicher Einigkeit entwickeln kann. Keine solitären ‚masterminds’ oder egozentrischen ‚figureheads’ geben hierbei Ton an, sondern, einmal mehr: der Prozess.

Die unterschiedlichen Köpfe stehen für das jeweilige Programm und bilden es ab. Das geschieht naturgegeben nicht immer reibungslos, gelangt aber stets zu einem produktiven Ergebnis. Ein starkes Kollektiv kann halt nur aus starken Individuen bestehen. Und alles dazwischen lässt sich aushalten. Das Anti- oder A-Hierarchische des MacherInnen-Kollektivs wirkt markant, ist aber vielmehr selbstverständlicher Arbeitsboden. Im heutigen Festivalzirkus, der enorm unter dem Druck von ökonomischer Effizienz steht, ist das jedoch alles andere als normal.

Plus: das Unerhört ist zu einem gewissen Grad auch MusikerInnenfestival – aber. ABER! Dies eröffnet nicht etwa eine weitere fade Freunderlwirtschaft, sondern stellt vielmehr sicher, dass MusikerInnen wissen, was ebendiese brauchen und wollen, damit das Fest gut läuft. Und es bereitet dadurch auch den Boden für eine lockere Atmosphäre, in der natürlich aufmerksames Zuhören möglich ist, in der jedoch auch – durchaus gewünschte – nicht-konzertante Situationen entstehen können. Die gesamte Ausrichtung wirkt dabei jedoch niemals amorph und beliebig, sondern stets klar, herzlich und verbindlich. Darum ist das Unerhört nicht zuletzt ein Charakterfestival – sein exzeptionelles Gesicht bekommt es nicht zuletzt durch das aktive Wissen und die gut gelegten Netzwerke der MusikaktivistInnen.

KLANG UND STADT

Das Unerhört ist ein urbanes Festival. Bitte kein Wohlfühl-Programm vor reizvoller Natur-Kulisse – touristische Erwägungen spielen keine Rolle hier. Es geht um: Jazz. Aber nicht in eine imposant-unpersönliche Repräsentations-Konzertmehrzweckhalle gezwängt, sondern zum Leben erweckt in vielen unterschiedlichen authentischen städtischen Kulturorten und Lebensräumen, die bestimmte Bezüge haben und in denen sich die Musik entfalten und mit dem Publikum kommunizieren kann. Genau in diesem Anspruch, die Musik zu den Leuten zu bringen, hat das Unerhört seinen Ursprung und transformiert ihn gelungen bis heute.

Zürich ist als Ort für Jazz mittlerweile etwas Eigenes und Besonderes geworden. In der Stadt, in der früher bisweilen zu früh die Bürgersteige hochgeklappt wurden, hat sich schon lange ein pulsierendes internationales Kulturleben entwickelt. Und siehe da, es wurde klar: Zürich ist auch eine Jazzstadt, war es seit jeher, konnte es jedoch nicht immer in dieser dezidierten Klarheit wahrnehmen und reflektieren. Zu komplex-verborgen waren die Stränge, zu unterschiedlich die ProtagonistInnen. Zürich war hingegen auch immer schon: Bereitstellung von Exil, guten Kulturorten und konzentrierter Aufmerksamkeit. Das Unerhört macht auch diese Strukturen sicht- und erlebbar und führt deren Tradition auf ein zeitgemäßes und hochrespektables Level, ohne sich auch nur annähernd in ein kreativwirtschaftliches Stadtmarketingszenario einpassen zu lassen. Durch seine Intention und die Fähigkeit, sich an unterschiedlichste urbane Räume andocken zu können, wird es wandelbar und bleibt gleichsam ein hocheigenständiges Ereignis.

KLANG UND IMPRESSION

Anekdoten gefällig? Sprechen Sie die AkteurInnen selbst an und fragen Sie nach ihren eigenen persönlichen Höhepunkten der letzten 10 Jahre. Sie bekommen, abseits aller Chartlisten, Geschichten und Geschichte garantiert voller und farbiger geliefert, als es hier je möglich wäre. An dieser Stelle nur ein kleines Sternstunden-Szenario dessen, was mir persönlich wichtig war:

Koch-Schütz-Studers temporäre Improv-Kommune im Moods, die manchmal den Geist einer 70er-Jahre-Kollektiv-Revue zu atmen schien. Ihre Chuzpe, auf den bisweilen normativ-kontemplativen E-Gestus des Improv zu scheißen und sich mit vielen Gästen einmal mehr neu und originell zu erfinden.

Das Schlippenbach-Trio mit einer alles überzeugende Hommage an den Free Jazz Europas, ohne Weihrauch, Pathos und Patina. Musik, die den Bauch zum Kopf machte und umgekehrt, Transformation der Post-Bop-Idiome in den reinsten Rhythmus des Jetzt – das war Jazz, der Kern, enthoben aller modalen Enge, mitreißend, rhythmisch, begeisternd. Jedes Teil ein Hammer und mehr als die Summe der einzelnen Teile.

Das radikal frei operierende Trio Nate Wooley-Christian Weber-Paul Lytton: klar, konzis und minimal, in größtmöglicher Klangtransparenz, die bisweilen schrill und fordernd werden konnte. Etwaige Transformationen in Jazz-Schwingungen wurden umgehend und akribisch wieder zerbröselt. Eine begeisternde Hommage wie Neuauslegung der freien Improvisation.

Nik Bärtsch solo am Flügel: Höchste (De-)Konzentrations- und Reduktionskunst, die enorm effektiv auf die Vitalität der Dialektik von Askese und Fülle wirkte. Ganz großartiges, sehr gewinnbringendes Konzert.

Die Premiere des Co Streiff-Russ Johnson-Quartetts. Sehr lust- und spielbetont, sehr tight und lässig, gleichsam mit konzentriert-üppiger Klangpalette. Die Band lebte wie ein Körper den zeitgenössischen Jazz derart intensiv und lebendig vor, dass das Publikum im Sitzen zu grooven begann und der Schreiber gar nicht mehr schreiben wollte.

Die Wiederkehr von OM: die Freeform-Legende zeigte sich in einem Flow jenseits der Grenzen von Raum und Zeit erneut als Meisterkollektiv des Klangreichtums und der Möglichkeiten, geräuschhafte Improvisation als Bandgefüge vorzuführen, am überzeugendsten zweifelsohne, wenn sie im psychedelischen Free-Rock-Rausch zusammenfanden.

George Gruntz und Erika Stucky im Bürgerasyl Pfrundhaus, nicht zuletzt wegen dem Publikum: die Gesichter der Alten waren wie die von Kindern: mal fassungslos, meist jedoch entzückt und begeistert. Unfassbar schön zu sehen, wie das Unerhört das Altersheim als selbstverständlichen Spielort für avancierten Jazz etabliert hat.

Die (Ur-)Aufführung von Narziss und Echo von Tim Krohn / Jürg Wickihalder und Ensemble: Verführerisch, verstört, wild, sanft, genussvoll, bunt, poetisch, stark, substanziell. Eine ganz klare Bereicherung des Festivals und vielleicht eine Vorschau auf eine kommende Theaterversion.

Dies nur als punktuelle Erinnerungen, vieles Gutes fehlt (den bewegenden Soloauftritt von Steve Lacy z.B. erlebte ich nicht mit, dafür ist er mittlerweile als CD auf Intakt erhältlich), die Abstürze auch, sie gab es, wir sparen sie uns hier, sie lassen sich anderswo nachlesen.

A portrait of Muhal Richard Abrams in the style of Gerhard Richter I by Marcus Maida

Wenn es jedoch einen besonders bewegenden komplexen Kernauftritt des Unerhört geben soll, dann sei es das Solo von Muhal Richard Abrams, das seltsame und schwierige Herz des Festivals. Abstrahierter Reflex und strenge Melancholie, kein Hämmern, sondern Druck und stringent-konzeptuelles Ausleben der totalen Ruhelosigkeit. Alle Befindlichkeiten abstrahierender 12- Ton-Improv mit raren Swing und Workband-Referenzen. Beeindruckendste Fingerkraft, unglaubliches Energie-Statement, vom Gestus her aber wie ein überrascht-unzufriedenes Kind, das die Cluster-Klänge zum ersten Mal hört und ewig ruhelos und stets verneinend sogleich immer neue Auswege sucht. Und noch ein Versuch, und noch einer. Handkantenschläge, Sisyphos on Piano, dialektischer Expressionismus bis zur störrischen Redundanz. Dann endlich tot der Klang, und Stille im Raum, und die Frage: warum endet die Musik hier?

Das war ein schwieriger, aber ungemein faszinierender und unendlich widersprüchlicher, eben kein mythostauglicher ‚Kult’-Auftritt. Es war ein schwer zu hörender Progress, und so etwas einem erwartungsvollem Publikum zu ermöglichen, DAS ist das eigentlich Herz des Unerhört.

A portrait of Muhal Richard Abrams in the style of Gerhard Richter II by Marcus Maida

KLANG UND JAHRESZEIT

Wie klingt Jazz Anfang Dezember? Auch nicht anders als Anfang Mai? Tatsächlich? Auch wenn wir feststellen: das Festival braucht keine beschönigende Naturkulisse, um sich zu behaupten, ist doch der Zeitpunkt seines Stattfindens überaus auffällig – und unterstreicht nochmals nachhaltig, wie wenig es hier um ein reines Genussprogramm geht. Es herrscht eben kein springender Frühling oder blühender Sommer, sondern: Anfang der Kälte, Niedergang der Natur, Urbane Klammheit, Beginn der Zeit der Innenräume, vielleicht auch der Bilanz und des Neuaufbruchs, ausgehend vom geschlossenen Raum. Beschreibung des neuen Weiß. Häufig gab es Schneefall, fast immer kamen die Gäste dick eingepackt. Aber die Musik ist konzentriert, heiß und fordernd, und nichts ist vergleichbar mit der nächtlichen Velofahrt durch die kalte Nachtluft am See nach einem beflügelnden Konzert.

Was bleibt, klingt als Erinnerung im Körper an.

Was kommt, kann Klang korrekt konkretisieren.

Was ist: klingt gut.

Danke an alle beim Unerhört, aber namentlich an Herbert Kramis für das Festival-Velo. Ohne dies wäre das Unerhört für mich nicht das Unerhört.

(Text zur Jubiläumsschrift „unerhört! 10 Jahre. Zum Jubiläum des Zürcher unerhört!-Festivals“, Zürich 2011)

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