DIE GEISTER IN DER MASCHINE
„Nichts ist, was die Natur nicht gezeichnet habe, und durch die Zeichen kann man erkennen, was im Gezeichneten verborgen ist…die Wirklichkeit aber muss von sich aus offenbar werden. Man muss sich zur Natur, nicht zum Menschen wenden.“
Paracelsus Theoprastus Bombastus von Hohenheim (1493-1541)
„Viele der Personen wollen auch nicht, dass in der Öffentlichkeit gross darüber geredet wird…it’s a low-key-thing. Wir kommen halt nicht aus der Promotionecke.“
Sean Booth von Autechre über das Label „Skam“, 1997
1. Hör-Spiel
30.1.2002, Berlin, Roter Salon der Volksbühne: es gibt eine einmalige Listening-Session zu „Geogaddi“, dem neuen Album des britischen Elektronikduos Boards Of Canada. Offizielles Veröffentlichungsdatum ist der 18.2., dann erst werden auch die Medien bemustert. Es gibt ganze drei e-mail-Interviews pro Land, face-to-face-Gespräche sind sowieso unmöglich. Arroganz oder gezielte Mythosbildung? Seit Jahren schon, heisst es, werkeln die Boards in einem Bunker in den schottischen Highlands an ihrem ersten wirklichem Debut-Album herum – dabei immer den harten Wahnsinnsgrad zwischen mystisch-verklärtem Inspirationswillen und strategisch präziser Konstruktion der dazugehörigen Details auslotend. Heute findet in London ebenfalls ein Hör-Spiel statt, weitere gibt es nur noch in New York, L.A. und Tokyo. Man wirbt für Verständnis für diese Strategie von WARP-Records, die dadurch die Vertriebswege von digitalen Raubkopien im Netz verhindern wollen. Dieses Thema bereitet den Plattenfirmen immer extremere Kopfschmerzen, gerade wenn eine Heerschar von Fans auf die neue Musik ihrer Lieblinge wartet. Und „Geogaddi“ wird keinen Kopierschutz haben wie Aphex Twins‘ „Drukqs“, was letztens zu einer Welle der Empörung bei den Plattenkäufern führte, da nicht nur der Computer, sondern sogar teilweise CD-Spieler sich weigerten, den neuen Tonträger zu spielen. Das personale Versteckspiel der Boards hingegen sei keine Arroganz, wird gesagt. Muss auch nicht sein, jedoch ist die Verweigerung oder gezielte Limitierung von Kommunikation eine altbekannte Strategie die dafür sorgt, das andere anfangen, über dich zu reden oder zu spekulieren. So bleibt halt die Musik: laut gespielt, bei abgedämpftem Rotlicht und unterstützt durch das beeindruckende bandeigene Dia-Artwork, entfaltet diese ihre naturgemäss sehr eigentümliche Wirkung auf subtile Weise äusserst nachhaltig und einnehmend. „Geogaddi“ ist mit 23 Stücken 66 Minuten und 6 Sekunden lang, ein Beleg für den leidenschaftlichen Hang der Boards zu Verschwörungsthematiken, Zahlenmystik und der Suche nach korrespondierenden Analogien im Mikrobereich organischer Strukturen. Beim Vinyl sollen die rückwärts gespielten Tracks „1969“ und „the devil is in the detail“ sogar besondere Botschaften bereithalten. So macht man sich interessant – oder auch nicht. Ist den Boards während ihrer Endlossessions in den Highlandnebeln etwa der Leibhaftige begegnet, oder wollen sie die Led Zeppelin von WARP werden? Hören wir erst mal zu: mystische Keyboard-Layer mit wirklicher Tiefe schieben sich zu einem vollen, mitunter voluminösen, aber auch schwirrenden Klang übereinander und erzeugen eine latent unheimliche Atmosphäre. Zwischen seltsam trocken-maschineller Rythmik hören wir dann gequetscht-gequält wirkende Stimmen, die sich anhören, als ob sie sich aus den dunkelwabernden Flächen und dem Bruzzeln und Kreiseln nicht mehr befreien können. Ich ertappe mich, wie ich mir diese Musik als den wirklichen Blair-Witch-Soundtrack vorstelle und ihn in die freie dunkle Natur transformiere. Dann wieder gibt es Stimmen, die lichte Erdverbundenheit generieren, und die dicken, fetten Rythmen, zwischen denen sich die hypnotischen minimalmelodischen Loops winden. Die Musik wirkt jedoch auf Dauer sehr übernatürlich. Stimmen kommen und gehen wie gepresste Luft in einem gequetschtem Akkordeon, anfängliche Harmonien kippen bald ab und wirken bei aller Simplizität deformiert. Bei einigen Stücken dominieren feste, satte und schwere HipHop-Beats – SIE sind es, die diese Musik überhaupt am Boden halten, ansonsten wäre sie nur amorphe Mystik und atmophärische Spekulation, und die Töne würden ins Dunkle wegfliegen. Einer dieser Kopfnicker-Beats könnte fast auf einem Jam laufen, bis sich seltsame Sequenzen wie Glocken übereinanderschichten und dann ein merkwürdiges Schaben, einem maschinellen Ein- und Ausatmen ähnlich, den Track beendet. Ein andermal werden die musikalischen Themen der Spukmelodien wie pervertierte Engelsflöten wiederholt, und der Beat schleppt sich müde, aber stoisch hinterher und fängt sie wieder ein. Manche kurze verbindende Interludes wirken dann wie eine Lichtung, doch die Idylle besteht nur scheinbar, ist immer spooky und voller potenzieller Gefahren. Einmal werden percussive Elemente durch hereinkommende dissonante Flächen und Spitzen immer stärker gesteuert, und schliesslich völlig zugeschüttet. Und immer wieder dieser gezielte unaufdringliche, aber hypnotische Einsatz von Stimmen, in dem sich einmal Kindergequäke und alte Stimmen überlagern. Passende Bilder dazu: Kinder, die gespiegelt aufeinander, ja ineinander zulaufen, oder ein Kind im roten Strampelanzug von hinten, unten jedoch ist im selben Bild nur ein weisses Loch – die Person ist einfach weggebrannt worden.
In dieser Lautstärke und konzentrierten Intensität gehört, wirkt das Album, völlig nüchtern betrachtet, wie ein übernatürliches Ereignis, wie moderne Klassik der Popmusik, ein faszinierendes zeitgemässes psychedelisches Meisterwerk, so das spontane Fazit. Die Grundstimmung ist sinister und rätselhaft und hält keine vordergründige Freude, Süsse oder Niedlichkeit bereit, dagegen bedrohliche Tiefe, bittersüsse Sehnsucht und rauhe Nostalgie. Die letzte Nummer dann ist der blank track „magic window“: Stille – um innezuhalten, und um auf die 23 Titel zu kommen.
2. Zeit-Fluss
Was machen Boards Of Canada? Sie nehmen sich vor allem Zeit. Ihre Musik wirkt bisweilen unfertig und skizzenhaft, dabei werden diese Tracks mit der grösstmöglichen Geduld und Präzision erstellt. Es geht um die bewusste Kartografie von Stimmungen und um die Anatomie von Emotionen: alle evozierten Gefühle sind sehr strategisch wie auch inspiriert zusammengesetzt. Ganze vier Jahre sind vergangen, seitdem mit „Music has the right to children“ dem Duo via WARP-Records überhaupt grössere Aufmerksamkeit geschenkt werden konnte. Das war nicht immer so: das erste regulär zu nennende Lebenszeichen, die 12″ „Twoism“, ein trocken-subtiles Statement zwischen juvenilem Taoismus und abgeklärter subkultureller Verweigerungsstrategie, unter dem die Boards erstmals als Duo firmierten, erschien 1996 im „Music70“ Selbstverlag mit einer Auflage von 100 Exemplaren. Bald wird das in Manchester ansässige Skam-Label aus dem Autrechre-Umkreis auf diese Musik aufmerksam, und aufgrund der „Hi Skores“-EP und sterbensschönen Tracks wie „Everything you do is a baloon“ werden diese Klänge, die einem Fluss von Emotionen zu entspringen scheinen und aufgrund ihrer offenen Schönheit und Tiefe sofort verständlich sind, von Vielen sofort ins Herz geschlossen. Dabei sehen ihre Produzenten Michael Sandison (* 14.7.1971) und Marcus Eoin (* 27.5.1973) naturgemäss aus, wie am WARP-Reissbrett entworfene lads: bärtige Eigenbrötler, die, natürlich promotionscheu, vornehmlich nur an der Gestaltung ihrer musikalischen Weltsicht interessiert sind. Das kanadisch-schottische Duo erfuhr nach Ortswechseln von Alberta/Kanada nach Südengland vor allem in der Abgeschiedenheit des schottischen Dorfes Pentland Hills, nördlich von Aberdeen, seine kreative Sozialisation. Auch heute noch befindet sich dort ihr „Hexagon Sun“-Studio, und immer noch wird zweimal im Jahr auf von ihnen veranstalteten Musikfesten bei grossen Freudenfeuern in der freien Natur Frühling und Sommer mit einer Mischung aus elektronischen Pulsierungen und alten Kinderliedern gefeiert. Seit frühester Jugend loteten sie in einer Gruppe von bis zu 14 Leuten kreative Energien aus, die von Mehrspurexperimenten, hypnotischen und überbordenden Improvisationen (mit angeblich 6stündigen Drumsolos von Michael) bis hin zu experimentellen Filmen reichten. Film war überhaupt seit jeher ein Fokus für die Boards, nicht nur, dass sie sich nach dem kanadischem Dokumentarfilmausschuss nannten, deren Naturfilme in den 70ern und 80ern einen Einfluss für sie darstellten, auch interessierten sie sich generell für die Techniken von Werbe- und Dokumentarfilmen, die ihren Zuschauern eine inszenierte reale Welt mit einem Siegel der Authentizität vorspielten, und diese dabei in Wahrheit nicht nur emotional, sondern auch unterbewusst beeinflussten.
3. Geheimnisvolle Süsse, langsame Fäulnis, Geister in der Maschine
Es geht nicht um Aufklärung oder Gegenaufklärung. Vielmehr geht es hier im übertragenen Sinne um die bewusste und aktive Anwendung einer direkt geschauten „unio mystica“, die eben nicht universalistisch denkbar ist und als machttechnizistische Schablone – für gesellschaftliche wie für ästhetische Prozesse – verwendet werden kann, sondern es geht um eine Sicht-, Erfahrungs- und Handlungsweise, die genauso vielfältig wie die jeweiligen konkreten Erscheinungen der Natur ist und auf sie eingeht. Für ihre Musik stellen sich die Boards den denkbar intelligentesten Hörer vor, sagen sie. Und sie finden die Geister in der Maschine – da ist nichts oberflächlich-mystisches oder esoterisches, sondern es geht um die Details in den Zwischenräumen, die nicht sichtbar sind, aber die jeweilige Organik bestimmen. Die Musik von Boards Of Canada ist ein Mysterium der sympathischen Art: sie generiert ganz spezifische Stimmungen, in denen sich die Dialektik von hell und dunkel, von Natur und Kultur in einem ständig änderndem und bewegendem Feld äussert und in neuen Formen auftritt.
In seiner musikalischen Funktion ist „Geogaddi“ eine ambitionierte, durchdachte wie gefühlvolle Weiterentwicklung von dem, was früher mit Begriffen wie „Ambient“ oder „Intelligent Techno“ nur sehr unzureichend beschrieben werden konnte. Geschickte Änderungen von Details in Tempo, Dynamik und Klangfarbe erzeugen dichte und bisweilen versponnene Texturen, die jedoch oft jenen ureigenen Funk und klaren Groove haben, der die Musik der Boards seit jeher auszeichnete. Diese lässt sich – wie bei ihren Labelmates Aphex Twin, Plaid und teilweise Plone – auch als einen Umgang mit dem Verlust der Kindheit, ihren Riten, Festen und den potenziellen Gefahren einer technokratischen Umwelt lesen. Die geisterhaften Kindermelodien wirken nur oberflächlich harmlos, in Wahrheit sind sie von einer geheimnisvollen Süsse, hinter der auch die Grausamkeit einer langsamen Fäulnis steht. So gesehen sind sie eine (Bewusstseins-) Waffe wie auch eine gefährliche Traumwelt. Und sie führen in eine Welt zurück, in der sich mit detaillversessenen wie träumerischen Blick alte Zusammenhänge neu lesen lassen. Dies wird durchaus als mathematisch-wissenschaftlich begriffen – nicht umsonst deklarieren die Titel bei aller sinistren Atmosphäre scheinbar unschuldig „music is math“ oder „a is to b as b is to c“ – aber stets auch mit dem Verständnis einer aufgeklärt-mystischen Schau. Der Schweizer Arzt und Gelehrte Paracelsus, von dessen Lehren sich eine direkte Linie zu bewussten wie offenen Kartografen einer anderen, sensualistischeren – auf keinen Fall aber technokratischen Vernunft! – wie dem Schriftsteller K.P. Moritz („Anton Reiser“) bis hin zu Michel Foucault („Die Ordnung der Dinge“) ziehen lässt, ist ein Gewährsmensch für eine derartige Sichtweise, und für ein Aufspüren der realen Natur-, ergo Weltzusammenhänge, die sich in einer konkreten Realität jedesmal anders, aber unter bestimmten existenziellen Prämissen mit verbindenden Analogien offenbaren. Nur so konnte sich moderne Individualität entwickeln, und nur so kann sie wieder in einem kollektiv verbindlichem Bewusstsein, das diesen gewonnenen Zwischenraum in der Zeit mitdenkt und nicht in archaischen Gleichheitsmustern endet, münden. Genauso verhält es sich mit einer Musik, die sich nicht durch persönliche Vorlieben oder Intentionen ihrer Produzenten definieren sollte, auch wenn diese selbstredend dort enthalten sind. Fibonacci’s Goldener Schnitt, ein mathematischer Bruch, der nahe an Zwei-Drittel liegt und der seltsamerweise immer wieder in der Natur auftaucht, und mit dem angeblich viele okzidentale Künstler wie Da Vinci oder Mozart operierten, ist auch ein erklärtes Arbeitsmittel der Boards Of Canada: sie beschreiben ihre Musik als eine Spirale oder ein Fraktal, das immer detaillierter werde, je mehr man darin hineingehe, und dieses Verhältnis werde benutzt, um bestimmten Momenten in den Tracks Raum zu geben, Melodien zu schreiben oder Frequenzen einzustellen. Und dies mag nicht nur die Zeitspanne erklären, in der die beiden Perfektionisten an ihrer Vorstellung arbeiteten, sondern auch die nachdrückliche Wirkung, die ihre Musik beim Hören hinterlässt. Dieser identitätsstiftende Prozess verbindet letztlich beide Teile, Produzenten wie auch Rezepienten, – und macht sie zu Geistern in der Maschine.
(Jazzthetik)