TASCHENPSYCHOLOGIE EINES GENIESTREICHS
„Neu! sind dumm.“, sagt ein Freund, der es wissen muss, „und man muss ihnen das auch mal stecken.“ Er meint das so: das 1971 in Düsseldorf gegründete Duo Klaus Dinger und Michael Rother wirkte durch die frisch-energische wie ätherisch-komplexe Kraft seiner hochoriginalen Musik nachhaltig auf den Experimentalpop der nachfolgenden Generationen, schaffte es aber auch nach seiner ersten Trennung 1975 mit schönster Regelmässigkeit, sich als ewiges Streithammelpaar des Krautrock zu profilieren. Der Endlosstreit des bekanntesten Odd-Kraut-Couples dieses Landes verhinderte dann über die Jahre auch ein Rerelease der hypergefragten ersten drei Neu!-Alben – ab 1990 schaffte es weder die ehemalige Firma Metronome, noch Motor-Universal’s Tim Renner oder Mute’s Daniel Miller, die Streithähne an einen Tisch aka ihre Zustimmung zu einer Wiederveröffentlichung zu bekommen. Jetzt ist das Wunder geschehen: Herbert Grönemeyer, der vor Jahren durch einen Freund zum ersten mal Neu! hörte und verständlicherweise begeistert war, führte durch lange Überredungskunst Feuer und Wasser endlich zusammen und erreichte, dass die legendären drei Neu!-Alben 2001 ganz offiziell auf seinem eigenem Grönland-Label via EMI wiederveröffentlicht wurden. Genau das meinte mein Freund: sechs Jahre zu spät. Man stelle sich vor, wie sehr diese Musik 1996, inmitten der Hochzeit von Techno und elektroiden Spielarten jeder Coleur insklusive der hysterischen Spuren- und Inspirationssuche nach Urahnen dieser Klänge zwischen Hypnotik und Experiment, eingeschlagen wäre. Kraftwerk zehren von diesem damals erneut hochgepumpten Kultstatus heute noch und wurden selbst bei britischen Ravekids zu neuen Göttern, Neu! jedoch blieben – wieder einmal – ein ewiger Fall für die Spezialisten und nur den Eingeweihten vorbehalten. Und auch Julian Cope fantasierte nur fasziniert vor sich hin.
Dann ist es soweit: man bläst zum gemeinsamen Interview, doch, hoho – von wegen! Im EMI-Turm zu Köln sitzt auf einer Etage Meister Rother, und nach vollzogenem Gespräch wird man auf verschlungenen Pfaden weiter auf Käptn Dingers Ebene geführt. Jeder hat seinen eigenen Promoter, jeder verbreitet seine eigene Aura – und natürlich seine eigene Wahrheit. Seufz. Unser Ur-Kraut hat wirklich nix besseres zu tun, als sich nachträglich gegenseitig die Hosen runterzuziehen? Ich erinnere mich an ein Interview 1997 anlässlich der Veröffentlichung von Harmonia 76 an ein ähnlich gesplittetes Interview: im einen Hotel sassen Rother und Moebius, dann ging es per Taxi weiter zu Roedelius, da die Herren seit geraumer Zeit nicht mehr miteinander reden. Es geht auch anders, aber so geht es auch. Das Ganze verliert ziemlich an Frische und Spontanität und gewinnt einiges an Paranoia. Denn auch das, was Sie, geneigte LeserIn, hier vor ihren Augen haben, ist vorher unter die Pupillen von Rother und Dinger gewandert und musste authorisiert werden, damit nicht sogleich wieder ein Rechtsstreit daraus entsteht – funky, nicht wahr? Das ist doch ganz normal, versichert mir die freundliche Promoterin, derartige Authorisierungen machen Xavier Naidoo und Westernhagen doch auch. Achsonajadann. Wir sind amüsiert. Das Lesen der offiziellen Musikerbiografien der Plattenfirma erzeugt erneutes Kopfschütteln. Two sides of every story? Da heisst es dann in Rothers Bio, 1993 habe Dinger als einziger – Christa Fast, die Witwe von Meisterproduzent Conny Plank, gab ausdrücklich ihre Genehmigung – den Rerelease des Backkatalogs per Widerspruch verhindert, in Dingers Bio steht natürlich prompt „New Neu!-Offer from Metronome refused by Michael.“ Genau diese Bio ist ein weiterer Streitpunkt, wie auch eine offizielle Neu!-Bio von Kreidler-Mitglied Andreas Reihse, die jeweils immer vom Counterpart abgezeichnet werden muss und rekorrigiert wird – „das kann ein langes Leiden werden“, so Klaus Dinger lakonisch. Die Penetranz dieser Auseinandersetzung bekommt auf Dauer etwas unwirkliches, paranoides, auf jedenfall tragikomisches, nichtzuletzt aber auch etwas unfreiwillig unterhaltsames. Bald bildet sich gar die irrwitzige Vermutung, die ewige Auseinandersetzung und das „Willnitverstaan“ sei inszeniert, alles nur Show, und nach den Interviews ziehen Klaus und Michael mit wissendem Lächeln schweigend einen durch. Und nächstes Jahr gibt’s dann das neue Neu!-Album. Schön wär’s, doch so einfach ist das nun doch nicht. Allerdings ist dieser gesamte Komplex, der nur scheinbar von der angeblich so „reinen Musik“ wegführt, untrennbar und vehement mit der Ausserordentlichkeit des Projektes Neu! verbunden. Und klargestellt sei deshalb vor allem: diese beiden so sehr unterschiedlichen Charaktäre und Temperamente und ihre jeweilige Herangehensweise an Musik und deren Beurteilung ist ein definitiv, wenn nicht der entscheidende Punkt, der den Geniestreich dieser Musik überhaupt erst möglich machte.
MICHAEL ROTHER wirkt ruhig, konzentriert und ausgeglichen. So habe ich ihn bereits einmal erlebt, und der zweite Eindruck bestätigt dies. Sinnlich, besinnlich, sehr genau, interessiert und offen, eine sehr sympathische Mischung aus konkreter Professionalität und potenzieller Träumerei, die mit einem Blick aus dem Fenster die Weite neuer Welten intuitiv erfassen kann. Er lebt in Bevern, einem Dorf im Weserbergland, im 1000 Jahre alten Weserhof, der unter Denkmalschutz steht und Teil einer mitteralterlichen Burg war. Hier zog er sich damals mit dem überschaubarem Kreis von Harmonia zurück, und hier produzierte er seine in den 70ern enorm erfolgreichen Soloalben mit der sanft schwingenden Gitarre, experimentierte aber auch 1983 mit dem Fairlight. Heute konzertiert Rother haiptsächlich mit seinem Harmonia-Freund Dieter Moebius. Harmonie und Schönklang sind wesentliche Punkte für Rothers Werk, das jedoch stets auch von einer stillen Kraft und Energie durchzogen ist, dass es von jeglicher weltabgewandter Esoterik fern- und stattdessen auf dem Boden hält. Räumliche Klangtiefe, die bis zum Horizont geht – das ist der Sound von Michael Rother. Alte Sachen hört er sich eigentlich nie an – er hat sie in sich. Beim gemeinsamen Mastern, also Optimieren aus heutiger Sicht ohne den Charakter zu verändern, in London jedoch ging es um technische Dinge, die einfach unter den verschiedenen Ansichten überarbeitet werden musste – und da zog Rother angesichts der „Intensität“ der alten Stücke innerlich den Hut. Deren Vollkomprimierung wurde bald wieder verworfen – zwar klingt Neu! so gewaltig, aber nicht fein und differenziert genug: die dynamischen Berg- und Talfahrten werden eingeebnet. Daher orientierte man sich bei der Komprimierung ganz dezent am Originalmasterband als an den alten Vinyls. Wichtig bei Neu! waren seit jeher die hörbaren Zwischenräume – jeglicher neobarocke Rockbombast und die endlosen Harmonien sollten weggelassen werden, man war sich sehr klar darüber, was man vermeiden wollte. „Die Restentwicklung ergab sich durch das Arbeiten“ – kein Konzept, vielmehr „eine gefühlsmässige Vision“. In vier Nächten ohne Geld und ohne Vertrag immer ganz hart am Abgrund und der Verzweiflung gearbeitet – so entstand Neu! 1. Nach dem dritten Album dann eine lange Trennung, aber kein radikaler Bruch: „man ging wieder auseinander und seine Wege“, so Rother, traf sich Mitte der 80er ja auch wieder zu Sessions für eine Neu! 4, versiegelte das Material und teilte es auf, und Dinger brachte es von Rother dann unauthorisiert mit Original „Neu!“-Logo in Japan heraus – was er ihm eine Tag vor Veröffentlichung per Glückwunschfax mitteilte. „Das ich über all diese Geschichten nicht gerade glücklich bin, kann man, glaube ich, leicht nachvollziehen“, sagt Michael Rother ruhig.
KLAUS DINGER wirkt ruhig, konzentriert und ausgeglichen. So habe ich ihn noch nie erlebt, denn ich habe ihn nur einmal überhaupt gesehen bisher: auf dem ersten Konzert von „La Neu!“ in der Düsseldorfer Kunsthalle 1998 – mit einer ganzen Riege junger und verdienter hauptsächlich lokaler Musiker und, besonders genial, seiner Mutter. Als ich meinem Freund meinen Intervieweindruck erzähle, berichtet er eine fiese Konzertanekdote: Dinger habe zu Beginn dieses Gigs seine Gitarre aufgedreht, und als kein Ton kam, verstört und vorwurfsvoll zum Mixer geguckt. Kurz darauf habe er dann sein Instrument eingestöpselt – „soviel zum Thema Konzentration“, lästerte mein – übrigens natürlich Neu!-liebender – Freund. Rother sei easy, sagte man mir, vor Dinger jedoch warnte man mich: schwieriger Mensch. Von wegen. Mindestens genauso sympathisch, nur eben völlig anders. Nicht so vordergründig aufgeräumt wie Rother, sondern: impulsiv, und im Ruhezustand: abwartend. Erstmal prüfen: was macht der andere WIRKLICH, und was macht ihn aus. Eine sympathische Mischung aus Impulsivität und Direktheit ohne viele Worte. Sein Raum: eine Ansammlung von Instrumenten und auf dem Boden ausgebreiteten Fotos und Plakate. Düsseldorf Altstadt 71: uiuiui! – diese scharfen weissen Stiefel! I was Punk when Punk wasn’t cool. Und ich war auch Punk, als Punk schon lang nicht mehr cool war (Nicht nur die sogenannte „Dinger“-Seite auf Neu! 3 weist darauf hin, sondern auch die 1985er LP Neondian / Klausi scheisst auf Yollywood zeugt eindrucksvoll davon – nach dem Titel der Single „Pipi AA“ würde sich Helge Schneider auch heute noch die Finger lecken). Dinger ist ein Stadtmensch, dessen Ziel es immer war, Musik zu machen und damit in der Welt herumzukommen. Die Landkommune in Bevern war schon damals nicht sein Ding. Er lebt immer noch in Düsseldorf, wo er mit den unterschiedlichsten Leuten musikalischen Austausch pflegt. Mit im Raum ist zB. Kazu Onouchi, mit dem er das Projekt „La Neu!“ derzeit neustartet, und die in Köln lebende Medienkünstlerin Miki Yui, deren neues elektronisches Album „Lupe Luep Peul Epul“ Dinger produziert hat.
„Als Herbert sich persönlich reingehängt hat, hat es irgendwann eingeleuchtet“, so Dinger, „er wollte wissen, was das Problem bei Neu! sei, und die internen Querelen, die fester Bestandteil bei der Gruppe sind, verstehen“. Grönemeyer schaffte es, durch ein „grundsätzliches Verständnis“ die Problematik zu klären und zumindest in eine konstruktive Richtung zu lenken. Dinger beschreibt die Grundstruktur bei Neu! als „ein bisschen sehr extrem auseinander – der Wahnsinnige und der Bankman, oder so. Der eine sehr überschaubar und eigentlich wenig spontan, der andere genau das Gegenteil – die Studiosituation war schon manchmal sehr extrem, schwer zu ertragen. Wir haben auch immer nur Musik miteinander gemacht, privat hatten wir nichts miteinander zu tun.“ Dinger sagt er, er fühle sich oft schon im Chaos oder unter Druck, daher springt er notwendigerweise in Situationen hinein. Und zur richtigen Zeit, mit den richtigen Leuten, gibt es gerade darauf Reaktionen, die zu „Sternstunden“ führen. Druck auch von der materiellen Seite her: „Wir kamen ja mehr oder weniger finanziell aus dem Nichts, ganz anders als Ralf und Florian, die von Anfang an solche Probleme nicht hatten.“
Die Trennung von dem , was Rother und Dinger jeweils zum Neu!-Sound beigetragen haben, ist nicht so einfach zu leisten, wie das viele gerne hätten. Um dies direkt zu verdeutlichen, steht in Dingers Raum ein japanisches Banjo auf dem Tisch – genau das Instrument, mit dem er auf „Negativland“ prägende Akzente setzte – Klaus reisst das Riff an, und prägnant steht es sofort im Raum. Die Reduktion der Presse auf Rother-Gitarre und Dinger-Schlagzeug stört ihn verständlicherweise, da er eben auch Stimme, Saiteninstrumente und Elektronik zum Neu!-Sound hinzufügte. Kebbeleien zwischen zwei Leuten, die nicht mehr miteinander reden – verständlich und albern zugleich. In beiden Gesprächen mit den jeweiligen Neu!-Protagonisten spürt man jedoch trotz aller Spannungen latent den gegenseitigen Respekt, den sie sich für ihre jeweils eigentümliche Arbeit, aber auch letztlich für ihre Art aufgehoben haben und zugestehen.
Herbert Grönemeyer wird von beiden Neu!-Musikern, nicht nur für seine Vermittlerrolle – die früher Conny Planck innehatte, der darin Sachen abnickte, auf die sich das Streitpaar sonst nie hätte einigen können – , Respekt gezollt, da er sie – zumindest für eine kurze Zeit – zusammengebracht hat. In seiner Anwesenheit habe sich Dinger, so Rother, sogar für einige Dinge entschuldigt, wie zB. die Neu! 4-Platte in Japan, die ein grosser Streitpunkt war und ist. Bei der Vertragsunterzeichnung habe Dinger sogar gesagt, wenn Michael das gut findet, unterschreibe ich das unbesehen – aber das war eine Euphorie, die auch durch die Gegenwart und Seriösität von Herbert zustandekam, so Rother. Heute hängt im Hause Neu! bereits wieder der Haussegen schief. Es gab Rückschläge, altbekannte Uneinigkeiten und gegenseitige Blockierungen, die ein gemeinsames Auftreten erst erschwerten, dann wieder unmöglich machten. Die getrennten Interviews sind wenigstens konsequent, findet Rother, denn es gab eben immer ein Spannungsverhältnis bei Neu!.
Die Legende bekam dieses Jahr ein neues Triebwerk, durch das internationale Interesse und Presseecho auf die Wiederveröffentlichungen gab es Stories und Anfragen zuhauf. Zumindest bekommt eines der innovativsten Duos der Pop- und Rockgeschichte auch im neuen Millenium den Response, den es nun einmal verdient hat. Neu! sind schlau – aber vielleicht wissen sie es selber nicht.
Diskografie
MICHAEL ROTHER spielte ab 1965 in der Düsseldorfer Beatband „Spirits Of Sound“, u.a. mit dem späteren Kraftwerk-Schlagzeuger Wolfgang Flür und Wolfgang Riechmann („Wunderbar“, 1978).
KLAUS DINGER spielte in der Urbesetzung von Kraftwerk mit (auch das Schlagzeug auf der zweiten Seite der ersten LP), spielte dann mit Ralf und Florian live, bis Ralf Hütter im Februar 71 ausstieg – Rother stieg ein, man lernte sich musikalisch schätzen und wurde zum Duo.
Neu! (1972)
Neu! 2 (1973)
Neu – Super / Neuschnee (7″ / Metronome / Brain)
Neu! 3 (1975)
(Original: Metronome / Brain / Rerelease: Grönland / EMI 2001 / CD / Vinyl)
Michael Rother Solo
Flammende Herzen (Sky / 1977)
Sterntaler (Sky / 1978)
Katzenmusik (Sky / 1979)
Fernwärme (1982)
Lust (1983)
Süssherz und Tiefenschärfe (1985)
Traumreisen (1987)
Esperanza (1996)
(erhältlich über Rothers Label Random Records)
Titel „Morning Song“ auf dem ersten Album von Station 17 (1990)
Die Sessions mit Harmonia (mit Moebius, Roedelius und Eno) wurden unter dem Titel „Harmonia 76: Tracks and Traces“ 1997 veröffentlicht
www.michaelrother.de
Klaus Dinger Solo
La Düsseldorf – La Düsseldorf (Teldec / 1975)
La Düsseldorf – Viva (Teldec / 1977)
La Düsseldorf – Individuellos (Teldec / 1980)
(mit Bruder Thomas und Hans Lampe, dem Tonassistent von Conny Planck)
Néondian (Teldec / 1985)
Die Engel des Herrn (Selbstvertrieb / 1992)
La! Neu? – Zeeland (1997)
La! Neu? – Rembrandt (1997)
La! Neu? – Live in Tokyo 1996 Vol. 1 (1997)
La! Neu? – Goldregen (1998)
La! Neu? – Year of the Tiger (1998)
La! Neu? – Die with Dignity (1998)
La! Neu? – Blue Point Underground (1998)
La! Neu? – Live in Tokyo Vol. 2 (1999)
La! Neu? – Blue (1999)
www.dingerland.de
(Jazzthetik)